Visuddhi Magga

Einleitung zu Visuddhi Magga

 

Es wird gesagt (S.I.23):

(zitiert in Mil.II.1.7, wo die Sittlichkeit (sīla) als die Grundlage der Lehre bezeichnet wird).

 

"Der weise Mann, der, sittlich fest,
Den Geist entfaltet und das Wissen,
Der eifrige, besonn'ne Mönch:
Er mag dies Dickicht wohl entwirr'n."

 

Warum aber wird dies gesagt?

Einstmals, so heißt es, als der Erhabene zu Sāvatthi weilte, trat zur Nachtzeit ein gewisser Göttersohn zu ihm, und, um seine eigenen Zweifel loszuwerden, stellte er ihm diese Frage:

 

"Im Innern Dickicht, außen Dickicht,
Verstrickt im Dickicht ist die Welt;
D'rum frage ich dich, Gotama:
Wer mag dies Dickicht wohl entwirr'n?"

 

Der Sinn dieser Worte ist kurz folgender:

 

"Dickicht"

ist eine Bezeichnung des netzartigen Begehrens (tanhā). Darin nämlich, dass dieses Begehren, immer und immer wieder, unten wie oben, bei den sichtbaren und anderen Objekten, aufsteigt, darin gleicht es eben dem als das Netzwerk der Zweige von Bambusbüschen u. dgl. geltenden Dickicht. -

 

"Im Innern Dickicht, außen Dickicht"

aber wird gesagt, weil eben jenes Begehren sowohl hinsichtlich des eigenen als auch des fremden Besitzes, des eigenen und fremden Daseins, wie der eigenen und äußeren Grundlagen (āyatana) aufsteigt. In das in solcher Weise anwachsende Dickicht ist nun die Welt verstrickt. Gleichwie der Bambus oder andere Sträucher im Bambusdickicht usw. verstrickt sind, so ist die ganze, uns als die verschiedenen Wesensklassen (dgl. A.IX.24) bekannte Welt in diesem Begehrensdickicht verstrickt, verwoben, verflochten: das ist der Sinn. -

 

"D'rum frage ich dich, Gotama"

bedeutet: 'Da die Welt auf diese Weise verstrickt ist, darum frage ich dich, Gotama' - den Erhabenen mit dem Familiennamen anredend. -

 

"Wer mag dies Dickicht wohl entwirr'n?"

bedeutet: er fragt, wer dieses die drei Daseinsgebiete* verstrickende Dickicht entwirren könne, wer imstande sei, es zu lichten.

* (d.i. das sinnliche, feinkörperliche und unkörperliche (kāma, rūpa, arūpa) Daseinsgebiet)

 

Und der Erhabene, der sich in unumschränktem Wissen hinsichtlich aller Dinge bewegt, der Höchste unter den Himmelswesen, Sakka- und Brahmagöttern, von vierfachem Selbstvertrauen (s. A.IV.8) erfüllt, im Besitze der 10 Kräfte (A.X.21-22 und M.12), von unumschränktem Wissen und allerkennend, er hat dem Göttersohn auf seine Frage hin mit dieser Strophe als Erklärung geantwortet:

 

"Der weise Mann, der, sittlich fest,
Den Geist entfaltet und das Wissen,
Der eifrige, besonn'ne Mönch:
Er mag dies Dickicht wohl entwirr'n."

 

Von dieser Strophe, die der Weise
Gelehrt hat, will den wahren Sinn
In allen Teilen ich erklär'n,
Beginnend mit der Sittlichkeit.

 

Den Mönchen, die, trotz ihrer Weihe,
Der selt'nen, in des Siegers Ordnung
Den sichern, g'raden Weg zur Reinheit,
Der alle Tugenden umfaßt,

 

Nicht in Wirklichkeit erkennen
Und, obzwar nach Reinheit strebend,
Doch trotz alles ihres Eifers
Diese Reinheit noch nicht fanden:

 

Zu ihrer Freude will ich weisen
Den "Reinheitsweg", - in dem enthalten
Die lautersten Bestimmungen -
Gestützt auf die Erklärungsweise

 

Der Insassen des Großen Klosters (*).
D'rum all', die ihr nach Reinheit strebt,
Ihr Guten, höret wohl auf mich
Und das, was ich euch lehren will!

 

(*) Mahā-Vihāra, bei der ehemaligen Königsstadt Anurādhapura in Nord-Ceylon, deren Ruinen noch heute zu sehen sind. Vgl. Nyanatiloka, Vorrede zu A. I. (1917).

 

Hier nun hat man unter "Reinheit" (visuddhi) das von allen Flecken geklärte, völlig lautere Nirwahn zu verstehen.

Und der "Reinheitsweg" (visuddhi-magga) ist der zu dieser Reinheit führende Weg.

"Weg" bezeichnet das Mittel zu ihrer Erlangung. Diesen Weg zur Reinheit werde ich erklären: das ist der Sinn.

 

Dieser Weg zur Reinheit nun wird an manchen Stellen durch Hellblick (vipassanā) erklärt, z.B.:

 

"Vergänglich sind die Dinge all:
Wenn das mit Weisheit man erschaut,
So wird man all des Leidens satt.
Und das als Weg zur Reinheit gilt."

(Dhp. 277-79.)

 

 An manchen Stellen durch Vertiefung (jhāna) und Wissen (paññā),

z.B.:

"In wem Vertiefung ist und Wissen,
Der wahrlich ist dem Nirwahn nah."

(Dhp. 372.)

 

 An manchen Stellen durch die Tat (kamma) usw., z.B.:

 

"Durch Tat, Rechtschaffenheit und Wissen,
Durch edles Leben, Sittlichkeit:
Nur dadurch werden Menschen rein,
Und nicht durch Reichtum, nicht durch Stand."

(M.142; S.I.48.)

 

An manchen Stellen durch Sittlichkeit usw., z.B.:

 

Wer stets in Sittlichkeit vollkommen
Und weise, wohl gesammelt ist,
Voll Willenskraft und selbstentschlossen,
Der kreuzt den Strom, der schwer zu kreuzen."

(S.II.15.)

 

An manchen Stellen durch die Grundlagen der Achtsamkeit (sati-patthāna), z.B.:

 

"Dieser Weg, ihr Mönche, ist der einzige Weg zur Reinheit der Wesen . . . zur Verwirklichung des Nirwahns, nämlich die 4 Grundlagen der Achtsamkeit."

(D.22; M.10.)

 

Dasselbe gilt auch für die 4 Rechten Anstrengungen, die 4 Machtfährten, die 5 geistigen Fähigkeiten und Kräfte, die 7 Glieder der Erleuchtung, den achtfachen Pfad.

 

In der obigen Antwort (des Erhabenen) aber wird der Weg zur Reinheit durch Sittlichkeit (silā), Sammlung (samādhi) und Wissen (paññā) erklärt. Die Auslegung der Stelle ist kurz folgende:

 

"Sittlich fest" bedeutet: in Sittlichkeit feststehend. Und nur wer die Sittlichkeit ganz erfüllt, gilt hier als feststehend in der Sittlichkeit. Der Sinn ist also hier der, dass man durch Erfüllung der Sittlichkeit in Sittlichkeit fest stehe. -

"Mann" steht für Lebewesen. -

"Weise" bedeutet: weise infolge des angeborenen Verstandes eines mit 3 edlen Triebfedern Geborenen. -

"Der den Geist (citta) entfaltet und das Wissen (paññā)" bedeutet: der die Sammlung (samādhi) und den Hellblick (vipassanā) entfaltet. Sammlung nämlich ist hier durch das Leitwort Geist angedeutet, und Hellblick durch die Bezeichnung Wissen. -

"Eifrig" (ātāpin; eig. feurig) bedeutet: voll Willenskraft; denn die Willenskraft wird als Eifer (eig. Feuer) bezeichnet, weil sie die befleckenden Leidenschaften (kilesa) völlig ausbrennt. Und wer diesen Eifer besitzt, ist eifrig. -

In "besonnen" (nipaka) wird Wissen mit Besonnenheit bezeichnet, und wer damit erfüllt ist, gilt als besonnen. Durch dieses Wort wird das "erhaltende Wissen" angedeutet. In obiger Antwort ist nämlich "Wissen" dreimal enthalten. Das erste darunter ist angeborener Verstand (jāti-paññā), das zweite ist das Hellblick-Wissen (vipassanā-paññā), und das dritte das erhaltende Wissen (parihāriyā-paññā), das alle Angelegenheiten leitet. -

"Bhikkhu" (Mönch) ist, wer im Daseinskreislauf (samsāra) 'Gefahr erblickt' (bhayam ikkhati). -

"Er mag dies Dickicht wohl entwirr'n" bedeutet: gleichwie ein Mann, der fest auf dem Boden steht, mit seinem gut geschliffenen Schwertmesser ausholend ein großes Bambusdickicht lichten mag: so auch - ausgerüstet mit 6 Dingen, nämlich dieser Sittlichkeit und dieser durch das Leitwort "Geist" angedeuteten Sammlung, sowie diesem 'dreifachen Wissen und diesem Eifer - mag der Mönch, feststehend auf dem Boden der Sittlichkeit (sīla) und mit seinem durch Willenskraft ausgestreckten Arme des Erhaltenden Wissens (parihāriya-paññā) das auf dem Steine der Sammlung (samādhi) wohl geschliffene Schwert des Hellblick-Wissens (vipassanā-paññā) schwingend, jenes in seinen eigenen Bereich eingedrungene ganze Begehrensdickicht völlig entwirren, zertrennen, zerteilen. Im Momente des Pfadeintrittes (magga-khana) nun lichtet er jenes Dickicht, und im Momente der Fruchterreichung (phala-khana; ariya-puggala) hat er das Dickicht gelichtet und ist unter Himmelswesen und Menschen der höchsten Gaben würdig. Darum sagt der Erhabene:

 

"Der weise Mann, der, sittlich fest,
Den Geist entfaltet und das Wissen,
Der eifrige, besonn'ne Mönch:
Er mag dies Dickicht wohl entwirr'n."

 

Hier nun hat der Mönch in jenem Wissen (nämlich dem angeborenen Verstand), aufgrund dessen er weise genannt wird, keine weitere Anstrengung zu machen, denn kraft seines früheren (vorgeburtlichen) Wirkens ist jenes Wissen in ihm bereits zustande gekommen. "Eifrig" und "besonnen" besagt, dass - in der Willenskraft ausharrend, im Wissen klarbleibend und in Sittlichkeit feststehend - er die durch die Bezeichnungen Geist und Wissen angedeutete Sammlung und den Hellblick zu entfalten habe.

 

Somit zeigt der Erhabene hier den Weg zur Reinheit unter den Gesichtspunkten: Sittlichkeit (sīla), Sammlung (samādhi) und Wissen (paññā). Insofern wird also von ihm gewiesen: die dreifache Schulung, die dreifach segensreiche Lehre, die Grundlage des dreifachen Wissens, der 6 höheren Geisteskräfte und der Analytischen Wissen, die Vermeidung der beiden Extreme und Befolgung des mittleren Pfades, das Mittel zur Überkommung der Abgründe, der Sinnenwelt und alles Daseins, die dreifache Überwindung der befleckenden Leidenschaften, die Unterdrückung des Ausschreitens usw., die Läuterung von der dreifachen Befleckung, die Grundlage des Stromeintrittes usw. Und wieso?

 

Durch Sittlichkeit (sīla) ist die Schulung in hoher Sittlichkeit (adhi-sīla-sikkhā) angedeutet, durch Sammlung (samādhi) die Schulung in hoher Geistigkeit (adhi-citta-sikkhā), durch Wissen (paññā) die Schulung in hohem Wissen (adhi-paññā-sikkhā).

 

Durch Sittlichkeit (sīla) ist der segensreiche Ausgangspunkt der Lehre (sāsana) angedeutet; denn dass Sittlichkeit der Ausgangspunkt der Lehre ist, geht hervor aus den Worten (S.47.3 und S.47.15):

 

"Was nun ist der Ausgangspunkt der verdienstvollen (kusala) Zustände? Es ist die völlig geläuterte Sittlichkeit";

 

ferner aus den Worten (Dhp.183):

 

"Das Abstehen von allem Bösen, die Erweckung des Heilsamen, die Läuterung des eigenen Geistes: das ist die Lehre der Erleuchteten".

 

Und die Sittlichkeit ist segensreich, insofern sie Reuelosigkeit und andere Vorzüge verschafft. -

 

Durch Sammlung (samādhi) ist die segensreiche Mitte der Lehre angedeutet; denn nach den Worten: "Die Erweckung des Heilsamen" usw. bildet die Sammlung den mittleren Teil der Lehre. Und die Sammlung ist segensreich, insofern sie die magischen Fähigkeiten und ähnliche Vorzüge verschafft. -

 

Durch Wissen (paññā) ist das segensreiche Ende der Lehre angedeutet; denn dass Wissen den Schluss der Lehre bildet, geht hervor aus den Worten: "Die Läuterung des eigenen Geistes: Dies ist die Lehre der Erleuchteten"; ferner aus der Überlegenheit des Wissens. Und das Wissen ist segensreich, insofern es Unerschütterlichkeit (tādi-bhāva, das 'So-sein', Sichgleichbleiben, Unerschütterlichkeit, bezeichnet den Zustand des Heiligen, des Arahat) hinsichtlich der erwünschten und unerwünschten Dinge verschafft, denn des heißt:

 

"Gleichwie ein Fels aus einem Stück
Vom Winde nicht erschüttert wird,
So können weder Lob noch Tadel
Erschüttern je den weisen Mann."

(Dhp.81.)

 

Durch Sittlichkeit ist ebenfalls angedeutet die Grundlage (upanissaya) des 'dreifachen Wissens', denn aufgrund der Vollendung in der Sittlichkeit erlangt man die 3 Wissen (te-vijjā), nichts darüber hinaus. Durch Sammlung ist angedeutet die Grundlage der sechs 'Höheren Geisteskräfte' (abhiññā), denn aufgrund der Vollendung in der Sammlung erlangt man die 6 Höheren Geisteskräfte, nichts darüber hinaus. Durch Wissen ist die Grundlage der verschiedenen 'Analytischen Wissen' (patisambhidā) angedeutet, denn aufgrund der Vollendung im Wissen erlangt man die 4 Analytischen Wissen, auf keine andere Weise.

 

Durch Sittlichkeit ist ferner angedeutet die Vermeidung des in Hingebung an den Sinnengenuß (kāma-sukha) bestehenden Extrems, durch Sammlung die Vermeidung des in Hingebung an Selbstkasteiung (atta-kilamatha) bestehenden Extrems, und durch Wissen die Befolgung des Mittleren Pfades (majjhimā patipatti; s. B.Wtb.: majjhimāpatipadā).

 

Ebenso ist durch Sittlichkeit das Mittel zur Überkommung der Abgründe (apāya) angedeutet, durch Sammlung das Mittel zur Überkommung der Sinnenwelt (kāma-dhātu), durch Wissen das Mittel zur Überkommung alles Daseins (bhava).

 

Durch Sittlichkeit ist ferner angedeutet die Überwindung der befleckenden Leidenschaften (kilesa), u.zw. im Sinne der 'Überwindung durchs Gegenteil' (tad anga-ppahāna), durch Sammlung deren Überwindung im Sinne von 'Zurückdrängung' (vikkhambhana-ppahāna), durch Wissen die Überwindung im Sinne von 'Vernichtung' (samuccheda-ppahāna). Ebenso ist durch Sittlichkeit angedeutet die Unterdrückung der befleckenden Leidenschaften zur Zeit des Ausschreitens, durch Sammlung ihre Unterdrückung zur Zeit des Entstehens, durch Wissen ihre Unterdrückung zur Zeit der Neigung.

 

Ferner ist durch Sittlichkeit die Läuterung von der Befleckung durch bösen Wandel angedeutet, durch Sammlung die Läuterung von der Befleckung durch das Begehren, durch Wissen die Läuterung von der Befleckung durch Ansichten.

 

Durch Sittlichkeit ist ebenso angedeutet die Grundlage des Stromeintritts und der Einmalwiederkehr, durch Sammlung die Grundlage der Niewiederkehr, durch Wissen die Grundlage der Heiligkeit. Der Stromeingetretene (sotāpanna) nämlich gilt als vollendet in der Sittlichkeit, ebenso der Einmalwiederkehrende (sakadāgāmīn); der Niewiederkehrende (anāgāmīn) aber gilt als vollendet in der Sammlung, und der Heilige (arahat) als vollendet im Wissen. (Über obige 4 Stufen der Heiligkeit s.B.Wtb.: ariya-puggala).

 

Insofern nun sind folgende 9 Dreiergruppen von Vorzügen angedeutet: die dreifache Schulung, die dreifach segensreiche Lehre, die Grundlage des dreifachen Wissens usw., die Vermeidung der beiden Extreme und die Befolgung des Mittleren Pfades, die Mittel zur Überkommung der Abgründe, die dreifache Überwindung der befleckenden Leidenschaften, die Unterdrückung des Ausschreitens usw., die Läuterung von der dreifachen Befleckung, die Grundlage des Stromeintritts usw. und noch weitere solche Dreiergruppen von Vorzügen.

  Ehre dem Erhabenen, Heiligen, Vollkommen Erwachteten!


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