WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

Eine Welt- und Inschau im Geiste des Buddha von Max Ladner

I. Erkenntnis
1. Die Situation
2. Welt und Bewusstsein
3. Das Ich
4. Des Leidensentstehung
5. Die Wiedergeburt
6. Bereiche der Existenz
7. Das Schicksal als Folge und Ausgleich
8. Die Willenswendung
 
II. Weg und Wandel
A. SITTLICHKEIT
1. Abstehen vom Töten
2. Abstehen vom Nehmen nichtgegebener Dinge
3. Abstehen von Unkeuschheit
4. Abstehen von Lüge und Verleumdung
5. Abstehen von Berauschung
B. MEDITATION
1. Die Praxis der Meditation
2. Betrachtung des Körpers
3. Betrachtung der Empfindungen
4. Betrachtung des Denkens
5. Betrachtung des Sechssinnengebietes
6. Betrachtung der Haftensgruppen
7. Betrachtung der fünf Hemmungen
8. Mancherlei Betrachtungen
9. Die Meditation der Güte

C. Die Versenkungen

1. Höhere Versenkungen. Die Bereiche des Formlosen

III. Die Erlösung

Wenn man je von einem Werke sagen kann, daß es klärend und läuternd wirkt, so gewiß von diesem Buche, das wie kaum ein anderes aus dem geistigen Chaos heraus führt zu einer Welt- und Selbstbetrachtung, die illusionslos und wahrhaft befreiend ist.

 

Sollte nun aber, ihr Jünger, einer die Frage stellen, ob er der Herr Gotamo, irgendeine Ansicht vertrete, dem hätte man folgendermaßen zu erwidern:

 

„Der Vollendete ist frei von aller Theorie; denn der Vollendete hat es gesehen: ,So ist das Körperliche, so entsteht es, so löst es sich auf. So ist die Wahrnehmung, so entsteht sie, so löst sie sich auf. So ist das Gefühl, so entsteht es, so löst es sich auf. So sind die geistigen Bindungen, so entstehen sie, so lösen sie sich auf. So ist das Bewußtsein, so entsteht es, so löst es sich auf.’ Darum sage ich, ist der Vollendete infolge der Versiegung, Abwendung, Aufhebung, Verwerfung und Vertreibung aller Meinungen und Vermutungen, aller Triebe des Ichheits- und Meinheitsdünkels haftlos erlöst."

Aus der 72. Rede der Mittleren Sammlung der Reden Gotamo Buddhas


VORWORT

 

Wer dieses Buch erstmals zur Hand nimmt, möge bedenken, daß es nicht bloß gelesen, sondern gründlichst durchdacht sein will. Nur wer selbständig und unvoreingenommen zu denken und zu urteilen imstande ist, mag mit der Lektüre beginnen, andernfalls er besser tun würde, das Buch wieder wegzulegen.

 

Der Ausdruck Wirklichkeit im Titel weist darauf hin, daß es sich da um ein Eindringen in Wahrheiten handelt, die zeitlos und von allgemeiner Gültigkeit sind, und die deshalb nicht bloß Einzelne berühren, sondern die ganze Menschheit. Daß diese Wahrheiten in der Erlösungs-Tatsache gipfeln, liegt in ihrer Art und gibt ihnen jene höchste und entscheidende Bedeutung, wie sie in gleichem Maße keinen anderen zukommt.

 

Seit jeher hat sich die wissenschaftliche Forschung, speziell in den Bereichen der Natur- und Geistes-Wissenschaft, redlich Mühe gegeben, Licht in jenes geheimnisvolle Dunkel zu bringen, das die Hintergründe unseres Daseins und Soseins, unseres Woher und Wohin verbirgt; aber es kann nicht bestritten werden, daß von dieser Seite her eine wirkliche Aufhellung noch immer auf sich warten läßt und wohl auch noch lange auf sich warten lassen wird, obgleich manche Teil-Erkenntnisse deutlich darauf hinweisen, daß einmal, nach unbestimmter Zeit, ein voller Erfolg nicht ausbleiben wird.

 

Hinsichtlich des Glaubens wird gesagt, daß er imstande ist, Berge zu versetzen und Himmelreiche zu gewinnen. Das mag gut und recht sein, aber unzweideutige und unumstößliche Erkenntnisse vermag er trotzdem nicht zu bieten, weil er ja nicht im Boden der Wirklichkeit wurzelt, sondern in dem der Illusion. Er fußt auf bloßem Wunsch-Denken, auf Annahmen und Vorstellungen, die sich im Transzendenten verlieren und somit jene Anschaulichkeit ausschließen, die allein Gewißheit verschafft. Glauben ist Meinen; Meinen aber bedeutet Unsicherheit, Unbestimmtheit, bloße Möglichkeit, aber keinesfalls Gewißheit, und so ist von dieser Seite her eine Aufhellung überhaupt nicht zu erwarten.

 

Als dritter und letzter Weg zur Erfassung und Erhellung der Wirklichkeit verbleibt nur noch das sich auf die unmittelbare innere Anschauung gründende Erlebnis. Es ist vornehmste Aufgabe dieses Buches, den aufmerksamen Leser zum Erlebnis der Wirklichkeits-Schau zu führen, vorausgesetzt, daß er überhaupt sehen will; aber es muß gesagt werden, daß dieses Erlebnis, auch wenn es zum Greifen nahe liegt, nicht so einfach wie ein Stein auf der Straße gefunden werden kann, sondern im Denken zu erarbeiten ist, und daß es erst in heißem Bemühen ganz allmählich zur Reife gedeiht. Dann öffnet sich auch der Weg, der in die Erlösung mündet. Dabei ist vieles aufzugeben, was bisher als notwendig, als unentbehrlich, ja als heilig gegolten haben mag; aber was dafür gewonnen wird, ist unendlich viel mehr, ist die Erfüllung jener Ursehnsucht der Menschheit, die in der endgültigen Überwindung des Leidens dieser Welt ihr letztes und höchstes Ziel hat.

 

Zürich-Witikon, Ostern 1951

Max Ladner


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