WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

I.8. DIE WILLENSWENDUNG

 

Das Bewußtsein des Menschen kann die Tendenz zu einer immer umfassenderen Differenzierung haben, was gleichbedeutend ist mit einer Steigerung sowohl der Erlebnis-Intensität, wie des Horizontes, oder besser gesagt: der Einsicht in die Wirklichkeit.

 

Wohlgemerkt, es kann sie haben, aber es muß sie nicht haben, ansonst diese Tendenz bei jedem Menschen zu finden wäre, was ja nicht der Fall ist. Sie kann schwach sein, temporär, wenig ausgeprägt, oder sie kann sehr stark sein, so stark, daß sie im einzelnen Falle alles durchdringt, alles Tun, Reden und Denken.

 

In einem solchen Falle kann diese Differenzierung einmal ein Stadium von geradezu revolutionärer Wirkung in Hinsicht auf die bisher gepflogenen Denk- und Lebensgewohnheiten erreichen. Wenn die Einsicht in die Wirklichkeit zu einer anschaulichen im Sinne SCHOPENHAUER’s wird, d. h. zu einer absoluten, zu einer völlig durchdringenden, so muß und wird als unmittelbare Folge daraus eine Willenswendung resultieren, die dem bisherigen Wollen und Denken des betreffenden Menschen geradezu entgegengesetzt ist. Bisher war es ein Begehren nach immer neuen Erkenntnissen, nach immer neuen Erlebnissen und immer wieder neuen Empfindungen, Wahrnehmungen und Gestaltungen, mit den sich daraus gezwungenermaßen ergebenden Anhaftungen, und nun auf einmal steht der Begriff der Loslösung von all dem in dem Vordergrund, das Nicht-mehr-begehren, das Nicht-mehr-anhaften.

 

Diese Transformation des bisherigen Willens zum Leben in einen solchen zur Abwendung vom Leben, diese Richtungsänderung und völlige Umkehrung der Tendenzen im Tun, Reden und Denken, ist das Resultat der völligen Einsicht in die Leidhaftigkeit des Daseins. Nur für den, der diese Einsicht gewonnen hat, hat der Begriff Erlösung im religiösen Sinne überhaupt Inhalt und Bedeutung, denn eine Erlösung vom Glück, von der Leidfreiheit, vom gewollten Dasein und Werden, kann von niemandem gewünscht und ersehnt werden. Wir suchen ja das Glück, die Leidensaufhebung, wir suchen sie immer und zu jeder Zeit, und in uns lebt die Hoffnung, sie trotz allen gegenteiligen Erfahrungen irgendeinmal doch noch zu finden.

 

Das ephemere Glück, das wir in der Befriedigung der bloß vitalen Triebe erreichen, ist in seiner Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit leicht zu durchschauen. Das höhere und reinere Glück der Befriedigung geistiger Bedürfnisse, das reine und ungetrübte Genießen künstlerischer Darbietungen, des reinen Schauens und Hörens, des Glückes der Ruhe und Stille als Gegensatz zum lärmenden und lauten Getriebe des Alltags, das dürfen wir wohl mit viel mehr Recht als Glück bezeichnen, als die bloßen Sinnengenüsse; aber auch dieses Glück ist so wandelbar und vergänglich wie alles, was geworden ist. Schließlich geben wir uns Hoffnungen hin, die sich im Jenseits, nach dem Tode, erfüllen sollen. Dort erwarten wir, was uns in diesem Leben nicht zuteil wurde, ein dauerndes, unveränderliches Glück, das Glück der Ewigkeit, des endlosen Geborgenseins, der heiteren Wunschlosigkeit und des Befreitseins von allem Leiden.

 

Diese Hoffnung, von den Glaubens-Religionen propagiert und genährt, kann in vielen Fällen wohl ungemein trostreich sein, aber sie bildet keinen festen Grund, keinen sicheren Boden, keine Gewißheit, und wer einmal das allwaltende Gesetz von der Vergänglichkeit in vollem Ausmaße erkannt und durchschaut hat, dem kann auch dieser Trost nichts mehr bedeuten.

 

Aber diese stille Hoffnung auf das wirkliche und zeitlose Glück, auf die Überwindung des Leidens und des Todes, läßt sich nicht unterdrücken. Seit anfangslosen Zeiten streben wir danach und meinen immer wieder, es endlich zu erhaschen, aber immer wieder zerrinnt es, muß zerrinnen, weil es dort gesucht wird, wo es nicht sein kann, im Vergänglichen. Solange wir das Dasein bejahen, sei es hier oder in einem Jenseits, bejahen wir das Vergängliche, das sich ewig Wandelnde. Wie könnte eine solche Bejahung je zur endgültigen Überwindung des Vergänglichen, des Leidens, führen?

 

Erst die große und entscheidende Wendung, die Wendung des Willens und Wollens vom Anhaften zum Nicht-mehr-anhaften, zum Loslösen, zum Aufgeben alles Gewordenen, kann den Weg zur gänzlichen Überwindung des Leidens erschließen. Wenn einmal diese innere Haltung gewonnen ist, der ANWARI SOHEILI Ausdruck gibt, wenn er sagt:

 

„Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht im Leid darüber, es ist nichts;
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen,
Geh’ an der Welt vorüber, es ist nichts."

 

Dann erst ist der Weg frei zum höchsten Glück, denn dann wird nicht mehr das Vergängliche gewollt und erreicht, sondern das Aufhören des Werdens, die Überwindung der Vergänglichkeit, die zeitlose Ruhe des Erlöschens.

 

Daß die Willenswendung eine unmittelbare Folge der totalen Einsicht in die Wirklichkeit ist, haben wir schon oben angedeutet. Trotzdem aber könnte hier die Frage nach der Freiheit des Willens gestellt werden, d. h. es könnte gefragt werden, ob der Entschluß zur Wendung ein freier Entschluß, oder ob er allein als das Resultat vorausgegangener Geschehnisse, als eine kausale Funktion ohne andersartige Möglichkeit zu betrachten ist. Dies veranlaßt uns, hier etwas näher auf das Problem des Freien Willens einzugehen, obgleich sich aus den bisherigen Ausführungen bereits ergeben hat, daß das Problem in dieser Art auf einer falschen Fragestellung beruht, und daß die Jahrtausende langen Bemühungen um die Lösung desselben, um die Antwort auf die Frage: Ist der Wille frei oder ist er nicht frei? ganz und gar umsonst waren, weil es auf die Frage in dieser Form gar keine der Wirklichkeit entsprechende Antwort gibt und geben kann.

 

Auch die berühmte Lösung des Problems durch IMMANUEL KANT, die er in seiner „Kritik der praktischen Vernunft" gegeben hat und die seinem Scharfsinn und seinem Tiefblick alle Ehre macht, kann letzten Endes nicht befriedigen, weil sie, genau betrachtet, nur eine Scheinlösung darstellt, eine Verschiebung auf eine andere Ebene, um den gegebenen kausalen Zusammenhängen auszuweichen, wodurch er gezwungenermaßen auf Grund seines „Dinges an sich" zu einem „Sein an sich" gelangt, das er dann als frei postuliert.

 

Nachdem KANT das ganze Problem klar herausgearbeitet hat, d. h. den „Begriff der Kausalität, als Naturnotwendigkeit, zum Unterschied derselben als Freiheit" dargelegt hat, macht er evident, daß man in dem Zeitpunkt, in dem man handelt, niemals frei sein kann, da die bestimmenden Gründe, die auf eine bereits vergangene Zeit zurückgehen und daher im Moment des Handelns nicht mehr in meiner Gewalt sind, die Freiheit unmöglich machen. Dann fährt er fort:

„Will man also einem Wesen, dessen Dasein in der Zeit bestimmt ist, Freiheit beilegen: so kann man es, sofern wenigstens, vom Gesetze der Naturnotwendigkeit aller Begebenheiten in seiner Existenz, mithin auch seiner Handlungen, nicht ausnehmen; denn das wäre so viel, als es dem blinden Ungefähr übergeben. Da dieses Gesetz aber unvermeidlich alle Kausalität der Dinge, sofern ihr Dasein in der Zeit bestimmbar ist, betrifft, so würde, wenn dieses die Art wäre, wonach man sich auch das Dasein dieser Dinge an sich selbst vorzustellen hätte, die Freiheit als ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden müssen. Folglich, wenn man sie noch retten will, so bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die Kausalität nach dem Gesetze der Naturnotwendigkeit, bloß der Erscheinung, die Freiheit aber eben demselben Wesen, als Dinge an sich selbst, beizulegen."

Die Freiheit liegt also nach KANT im Sein eines Wesens, das als solches außerhalb der Zeit steht und nicht in den Handlungen, die nur innerhalb der Zeit denkbar sind. Es wäre also zu sagen: „So wie ich bin, so handle ich."

 

Wie aber, wenn dieses Sein, dieses „ich bin so", aus dem die Art und Qualität der Handlungen sich ergibt, auch nur ein Bedingtes wäre, ein auf Ursachen Zurückzuführendes; wenn die Annahme eines „Dinges an sich" als bloße Annahme durchschaut und deshalb abgelehnt wird, ja abgelehnt werden muß?

 

KANT hat dann im weiteren Verlauf seiner Darstellung selber noch einen gewichtigen Einwand gegen seine These vorgebracht, in dem er darauf hinweist, daß im Falle der Annahme, daß der Mensch ein von Gott geschaffenes Wesen sei, die ganze Freiheit verloren ginge, weil alles, was geschieht, ja auf Gott als Ursache und Schöpfer alles Geschehens und alles Gewordenen und Werdenden zurückgeführt werden müßte. Er begegnet dann diesem Einwand damit, daß, indem er die Wesen in ihrem Sein als Noumenen betrachtet, als außerhalb des Zeitbegriffes stehende „Wesen an sich", die wohl auf Gott als ihre Ursache zurückgehen, deren Handlungen aber nicht, da letztere in der Zeit sind und daher aus der sensiblen Existenz fließen, während die Schöpfung nur die intelligible Existenz betrifft, die nicht in der Zeit ist und also von der kausalen Gebundenheit nicht betroffen wird, daß er also die Wesen so gewissermaßen als transzendente Gegebenheiten annimmt, die trotz ihrer Ursache in Gott, die Freiheit ihres So-Seins besitzen und deshalb verantwortlich für ihre Handlungen sind.

 

Die ganze Schwierigkeit liegt nach KANT in der Absonderung der Zeit von der Existenz der Dinge an sich selbst. Daß es ihm aber dabei selber nicht ganz wohl war, erkennen wir daraus, daß er zu seiner Lösung des obigen Problems sagt:

 

„Die hier vorgetragene Auflösung der Schwierigkeit hat aber, wird man sagen, doch viel Schweres in sich, und ist einer hellen Darstellung kaum empfänglich. Allein, ist denn jede andere, die man versucht hat, oder versuchen mag, leichter und faßlicher?"

Wenn auch eine andere Auflösung der Schwierigkeit vielleicht als leichter und faßlicher gedacht werden könnte, so ist sie bestimmt nicht richtiger und wahrer als die KANT’s, denn ein Problem, das gar nicht lösbar ist, weil seine Voraussetzungen falsch sind, kann von niemandem mit Erfolg aufgegriffen werden, das Resultat muß immer unbefriedigend sein.

 

So kehren wir also zurück zu unserer Betrachtung der Wirklichkeit und sagen, daß noch lange nicht von einem Fatalismus gesprochen werden kann, wenn der Wille als eine bedingte Erscheinung angesprochen werden muß, denn wir haben ja bereits erkannt, daß nicht ein hinter den Erscheinungen weilendes Wesenhaftes da ist, das einen Willen hat, sondern daß der Wille und damit das Wollen von Faktoren abhängig ist, die in ihrer Art ebenfalls nichts anderes als kausale Gegebenheiten sind, die gesteuert werden vom Wissen oder vom Nichtwissen, d. h. vom Grade der Einsicht in die Wirklichkeit, was wiederum als ein Ergebnis früheren Wirkens anzusehen ist.

 

Wenn wir also schon vom Willen reden wollen, so müßte hier danach gefragt werden, ob die Entstehung einer bestimmten Willens-Tendenz unabhängig ist von Bedingungen, oder ob sie bedingt ist. Darauf kann der Wirklichkeit entsprechend nur geantwortet werden, daß sie ganz augenscheinlich bedingt ist, sei es durch den Körper und die Sinnesorgane, sei es durch Empfindungen, Wahrnehmungen oder Gestaltungen, oder sei es durch das Bewußtsein, ohne das ein Wollen gar nicht gedacht werden könnte. Hauptsächlich aber ist sie bedingt durch das Vorausgegangene überhaupt, das unmittelbar oder indirekt seine Wirkungen ausübt.

 

Wenn nun also die Einsicht in die Wirklichkeit den Grad der Vollendung erreicht hat, und daraus als Folge jene Tendenzen aktiv werden, die zur Loslösung und Überwindung alles Gewordenen führen, dann können wir wohl mit Recht von einer Willenswendung im Leben der betreffenden Individualität sprechen. Früher war da, infolge des Nichtwissens, infolge mangelnder Einsicht, ein Wollen des Werdens und Anhaftens, ein Haben- und Sein-Wollen; nun ist, durch das Erkennen der Wirklichkeit, durch das Wissen um dieselbe, ein Wollen der Loslösung da, des Nicht-mehr-werdens, Nicht-mehr-anhaftens, ein Nicht-mehr-haben- und Sein-wollen. Als Erben unserer Werke sind wir eben durch und durch das Resultat derselben und entsprechen ihnen ganz und gar. Wir sind das Produkt unseres früheren Wirkens und darum ist auch die Wendung zur Loslösung mit ein Produkt dieses Wirkens. Die Wendung ist also bedingt und trotzdem ist sie durchaus unser eigenes Werk. Alles, was wir tun, reden und denken, ist unser eigenes Werk, und darum sind wir ausschließlich und allein selber dafür verantwortlich und niemand sonst. Wenn wir also fragen, warum wir so oder so sind, warum uns dieses und jenes geschieht, so haben wir die Gründe dafür letzten Endes in uns selber zu suchen.

 

Das Problem von der Freiheit des Willens löst sich also im Lichte der Wirklichkeit auf zum Problem der geistigen Durchdringung der Zusammenhänge alles Geschehens, zur Durchschauung der abhängigen Entstehung alles Gewordenen, uns selber natürlich mit inbegriffen. Der Wille besteht nicht „an sich" als ein Unveränderliches und darum kann auch nicht von seiner Freiheit oder Gebundenheit gesprochen werden. Er entsteht immer wieder neu und vergeht ebenso. Jedenfalls ist er nicht, bevor er entsteht, sondern er wird aus Bedingungen. Es handelt sich also hier nicht darum, ob die Willenswendung eine freie oder eine unwillkürliche ist, sondern darum, wie es zu dieser Wendung überhaupt kommen kann, d. h. wie das Wollen von allen hemmenden Fesseln, in Hinsicht auf die zu gewinnende Erlösung, frei zu werden vermag.

 

Aus der restlosen Durchschauung des kausalen Lebens-Prozesses, in dem zwölf sich gegenseitig bedingende Elemente und Faktoren aktiv sind, ergibt sich die Loslösung von allen vitalen Gebundenheiten, ergibt sich die Willenswendung und schließlich die Erlösung.

 

Diese zwölf Elemente oder Faktoren bilden eine Kette und reihen sich aneinander nach einem ewigen und unveränderlichen Gesetz. Niemals kann davon ein einzelnes Glied je für sich allein bestehen, denn jedes ist bedingt durch die anderen, und wenn sie sich alle auch in zeitlicher Folge aneinanderreihen, ja sich sogar auf frühere und zukünftige Existenzen erstrecken, ,so sind sie doch wiederum gleichzeitig da, unmittelbar oder latent, als Folge und als Ursache, denn sie sind in ihrer Gesamtheit das Leben selber; man kann auch sagen: das Leiden selber. Es gilt, diese Kette sowohl in ihrer Ganzheit wie in jedem einzelnen ihrer Glieder voll zu erfassen und sie in ihrer ungeheuren Bedeutung zu erkennen. Ist dies geschehen, so gibt es da keinerlei Zweifel mehr über die Art und die gegenseitigen Verflechtungen der Faktoren des Daseins und des Leidens, und über die Möglichkeit der Aufhebung derselben.

 

Die Kette bildet in ihrem kausalen Zusammenhang gleichzeitig auch die vollkommenste und erschöpfendste Analyse unserer Existenz; sie läßt nichts außer acht und umschließt alles, was als integrierender Bestandteil unseres Daseins überhaupt in Frage kommt.

 

1. Wer das Nichtwissen durchschaut und erkennt, der ist zum Wissen gelangt und ist frei geworden von der Illusion, daß das Leiden im Vergänglichen überwunden werden kann. Er kennt das Leiden, weiß warum es entsteht, weiß wie es vergeht, und kennt auch den Weg, der zum Vergehen des Leidens führt. Er weiß auch, daß das Nichtwissen die Voraussetzung für die Gestaltungen bildet.

2. Wer die Gestaltungen erkennt und durchschaut, seien es die körperlichen, sprachlichen oder gedanklichen, der weiß um ihr leidhaftes Wirken und er weiß um ihre Vergänglichkeit. Er weiß auch, daß sie die Voraussetzung für das Bewußtsein bilden.

3. Wer das Bewußtsein erkennt und durchschaut, der weiß auch um seine Bedeutung als Basis der Welt, die erst im Bewußtsein zur Wirklichkeit wird, und er weiß auch, daß es die Voraussetzung für Geist und Körperlichkeit bildet.

4. Wer Geist und Körperlichkeit zusammen als ein Ganzes erkennt und durchschaut und dieses Ganze als vergänglich und wandelbar begreift, der haftet nicht mehr daran. Er weiß auch, daß es die Voraussetzung für die sechs Sinne und ihr Gebiet ist.

5. Wer die sechs Sinne und ihr Gebiet, die Sinnes-Objekte, erkennt und durchschaut, dem können sie nichts mehr bedeuten, denn sie sind wandelbar, vergänglich und daher leidhaft. Es ist ihm auch bewußt, daß sie die Grundlage für die Berührung bilden.

6. Wer die Berührung erkennt und durchschaut als Berührung der Sinnes-Organe mit ihren Objekten und den daraus entstehenden Folgen, der gelangt dazu, sie möglichst zu meiden, da sie auch die Ursache für die Empfindung bilden.

7. Wer die Empfindung erkennt und durchschaut als freudhafte, leidhafte oder indifferente, der weiß auch um ihre Rolle, die sie als Verbindungsglied in der ganzen Kette des Leidens spielt, und er weiß auch um ihre Folge, den Durst.

8. Wer den Durst, das Triebhafte, die sinnengebundene Leidenschaft, die unmittelbarste Voraussetzung alles Leidhaften erkennt und durchschaut, dem ist auch die Notwendigkeit seiner Überwindung bewußt, wenn das Leiden wirklich überwunden werden soll. Des Durstes Wirken führt zum Anhaften.

9. Wer das Anhaften erkennt und durchschaut, dieses Sich-verbinden mit den Gestalten, Dingen und Begehrungen dieser Welt, dieses Nicht-mehr-loslassen-wollen des Erreichten, der weiß auch um die Leidhaftigkeit dieses Haftens und um seine Sinnlosigkeit. Er erkennt es auch als die Vorbedingung des Werdens.

10. Wer das Werden erkennt und durchschaut, dem ist bewußt, daß das Werden auch ein Geboren-werden ist und als solches die Voraussetzung für die Geburt darstellt.

11. Wer die Geburt erkennt und durchschaut, der kennt sie als den Beginn dieser jetzigen Daseinsrunde und als die Voraussetzung von Alter und Tod.

12. Wer Alter und Tod erkennt und durchschaut, der weiß um deren Leidhaftigkeit, um das Gebrechlichwerden und Hinsiechen der Wesen, um den körperlichen und geistigen Zerfall, um das Hinscheiden und Sterben. Er kennt deren Unausbleiblichkeit und deren Dramatik. Wie sollte er sie nicht zu überwinden trachten?

 

Wer die Erlösung anstrebt, der muß sich darüber klar sein, daß alle diese Daseinsglieder überwunden werden müssen, daß es aber auch genügt, wenn nur ein einzelnes davon überwunden wird, denn daraus ergibt sich zwangsläufig auch die Auflösung aller anderen. Der in dieser Auflösung bestehende Zustand, der wohl in den seltensten Fällen innerhalb kurzer Zeit, sondern vielmehr erst nach mehr oder weniger zahlreichen Wiedergeburten erreicht werden kann - entscheidend ist ja, ob ihm zugestrebt wird oder nicht - ist der Zustand der Erlösung, der totalen Leidlosigkeit, die bewußt oder unbewußt von allen Menschen gewollt und gesucht, aber nur von wenigen erkannt und erreicht wird.

 

Die entscheidende Willenswendung im Leben eines Menschen tritt dann ein, wenn die Leidhaftigkeit des Daseins durchschaut und die Möglichkeit der Loslösung klar erkannt wird.

 

So einfach ist aber diese Erkenntnis und Durchschauung nicht zu gewinnen Es nützt nichts, wenn das Gesetz der ursächlichen Entstehung einfach zur Kenntnis genommen wird; es muß selber erarbeitet und erlebt werden, ansonst es nicht wirksam und nicht wirklich sein kann. Erst als Erlebnis wird es Wirklichkeit und bedingt die Willenswendung, die als Markstein den anfanglosen Leidensweg vom Weg zur gänzlichen Überwindung des Leidens trennt, bedingt die Wendung des Willens von der Bejahung des Daseins zur Aufhebung desselben.

 

Mit diesem Weg wollen wir uns im folgenden Teil dieses Buches befassen. 


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