WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

II.B.2. Betrachtung des Körpers

 

Wer so seine Konzentrationsfähigkeit geübt und gepflegt hat, der richte nun seine Aufmerksamkeit auf die Betrachtung des eigenen Körpers. Sowohl das Stehen wie das Gehen, das Sitzen wie das Liegen muß jeweils zum völlig bewußten werden, womit einmal unnötige körperliche Ermüdungserscheinungen vermieden oder wenigstens gemindert werden und weiter eine zunehmende Beherrschung der körperlichen Haltung erreicht wird, die schließlich in eine völlige Durchschauung der eigenen aktiven oder latenten Bewegungsprozesse, sowohl hinsichtlich ihrer Kausalität wie ihrer Art, mündet.

 

Mit dieser Durchschauung des körperlichen Tuns geht gleichzeitig eine Ahnung von der Wesenlosigkeit der menschlichen Erscheinung auf, die mit dem tieferen Eindringen in die Komponenten der Persönlichkeit mehr und mehr zur unumstößlichen Gewißheit wird.

 

Dieses tiefere Eindringen geht nun so vor sich, daß der Meditierende im Geiste seinen Körper in dessen Bestandteile zerlegt und sich dieselben anschaulich vorstellt, wie etwa: das ist die Hand, das der Arm, der Kopf, das sind die Beine, die Füße, die Haare, das sind die Knochen, die Sehnen, die Eingeweide, das ist das Herz, der Magen, die Niere, die Leber, das Blut, das sind die Lungen, die Venen, das ist das Gehirn, das sind die Geschlechtsteile, das ist Kot und Harn, Speichel, Rotz, Lymphe usw. Was dabei an Schönheitsempfindung hinsichtlich des Körpers verloren geht, wird an Einsicht in die Wirklichkeit gewonnen, an Überzeugung von der Wesenlosigkeit des eigenen Daseins und von der Möglichkeit der totalen Überwindung des Leidens.

 

Wie sollte bei einer gründlichen Durchschauung des Körpers nicht dessen Widerlichkeit und Vergänglichkeit klar werden, und wie sollte nicht erkannt werden, daß ein Haften an dieser Widerlichkeit und Vergänglichkeit niemals eine wirkliche Quelle der Freude und des Glückes sein kann!

 

Man betrachte aber nicht nur den eigenen Körper in dieser Art, sondern durchleuchte auch die Körperlichkeit anderer Wesen und ganz besonders jener, die einem nahe stehen: Menschen, mit denen man in Liebe und Freundschaft verbunden ist. Der Entschluß dazu fällt nicht leicht, weil dabei zuviel an Illusionen, zuviel an Liebem und Verehrtem auf dem Spiele steht. Es ist scheinbar so schwer, ohne Illusionen zu leben, aber es muß trotzdem sein. Wenn der Weg zu Ende gegangen werden will, wenn der vollendete Sieg über das Leiden errungen werden will, dann bleibt nichts anderes übrig, als auch noch die letzten Illusionen zu überwinden und auch das Liebste und Teuerste als das zu erkennen, was es wirklich ist: ein bedingt Entstandenes und Vergehendes, ein Leidendes und Leidbringendes.

 

Weiter noch ist der Körper zu betrachten als ein Kompositum der vier Grund-Elemente, des Erd-Elementes, des Wasser-Elementes, des Feuer-Elementes und des Wind-Elementes, die wir bereits in einem früheren Kapitel kennengelernt haben. In der Meditation aber steigert sich das bloß begriffliche Erfassen zum durchdringenden und unumstößlichen Wissen um die Elemente der Körperlichkeit und ihrer bedingten Entstehung. Damit mindert sich auch mehr und mehr die Wertschätzung der körperlichen Dinge und Formen, und es tritt jene Ernüchterung ein, die alles Haften daran aufhebt.

 

Ganz besonders deutlich wird die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit, auch des blühendsten und gesundesten Körpers, bei der Betrachtung einer Leiche in den verschiedensten Stadien ihres Zerfalls. Man begebe sich einmal hin in die Leichenhäuser und Seziersäle, man weile sinnend auf dem Friedhof und richte seine Aufmerksamkeit auf die zerfallenden menschlichen Formen, die einst blühendes Leben waren, die einst als Vater oder Mutter, als Gattin oder Gatte, als Sohn oder Tochter, als Freund oder Freundin, kurz als geliebte Wesen voller Lebensfreude, voller Hoffnungen und Erwartungen durch das Leben wandelten, und dann mache man sich klar, daß über kurz oder lang der eigene Körper ebenso zerfallen sein wird, und daß davon nichts zurückbleibt als schwächer und schwächer werdende Erinnerungen in dem Gedächtnis der Hinterbliebenen, bis auch diese selber dem gleichen Schicksal verfallen, und daß es immer und überall so weiter und weiter geht, anfangs- und endlos. Entstehen und Vergehen, das ist das Leben, und daran mit Liebe und Begehren haften, ist gleich dem Haften an einer Schaumblase.

 

Unter solchen Aspekten schwindet die Freude und das Behagen an körperlichem Besitz und an seine Stelle tritt die innere Loslösung und Befreiung.

 

Aber der Mensch besteht nicht nur aus Körperlichkeit, er besteht auch aus Geist, den wir als Empfindung, Wahrnehmung, als gedankliche Gestaltung und als Bewußtsein erkannt haben, und so ist die Meditation auch auszudehnen auf die anschauliche Betrachtung aller jener Vorgänge und Zustände, die wir gesamthaft als die geistigen erkennen.


II.B.3. Betrachtung der Empfindungen

 

Es gibt freudvolle, leidvolle und indifferente Empfindungen und so kommt es nun darauf an, sich einer z.B. freudvollen Empfindung als solcher voll bewußt zu werden, sowohl ihrer Entstehung, ihrer Ursache, wie auch ihrer Art und Intensität nach. Man hat sie in der Meditation so gewissermaßen zu analysieren und zu sezieren und man hat auch ihren Einfluß auf den Gesamtkomplex der persönlichen Erscheinung zu beobachten. Jedenfalls ist dabei festzustellen: diese Empfindung ist da, so ist sie entstanden und so wird sie vergehen. Bei dieser Feststellung kommt es nun sehr darauf an, nicht zu denken; „ ich empfinde", denn dieses „Ich" ist ja nichts anderes, als das bedingte Ineinanderwirken eines Komplexes verschiedener Persönlichkeits-Gruppen oder Komponenten. Es wäre ein Trugschluß, zwischen der Empfindung und einem Empfindenden zu unterscheiden. Ein Dualismus ist da nicht zu finden, sondern nichts anderes als „Empfindung an sich", die eben als „Erlebnis" volle Wirklichkeit ist und als solche nicht in Subjekt und Objekt unterteilt werden kann.

 

Diese Meditation über die Empfindung, mag sie eine freudvolle, leidvolle oder indifferente sein, führt zum anschaulichen Erkennen ihres kausalen Bedingtseins, ihrer Ursachen und ihrer Aufhebung, vor allem aber ihres Da-Seins und So-Seins, d. h. ihr Entstehen und Vergehen spielt sich im hellen Lichte des Bewußtseins ab und dadurch beherrscht sie nicht mehr, sondern wird beherrscht. Eine dauernde Beherrschung der Empfindungen und damit des eigenen Gemütslebens ergibt sich aber erst aus dem häufigen Üben dieser Meditation. All das „Himmelhoch jauchzen und zu Tode betrübt sein", das „Überquellen der Freude" und das „Verzweifeln im Leide", das „Sehnsuchtsvolle Verlangen" und das „Bittere Verabscheuen", all diese Stimmungen und Launen, dieses emotionale Auf und Ab, dieser ewige Wechsel von Freude und Leid, weicht auf Grund dieser Übungen mit der Zeit einem stillen Gleichmut, der in seiner ruhigen Überlegenheit nicht mehr berührt wird vom „Gang der Ereignisse, die die Welt bedeuten". Ein ruhiger Blick und ein stilles, wissendes und gütiges Lächeln, das ist alles, was von dieser inneren Unberührtheit Zeugnis ablegt.


II.B.4. Betrachtung des Denkens

 

Ebenso heilbringend wie die Meditation über die Empfindungen ist die meditative Betrachtung des eigenen Denkens, das nur allzu häufig von allerlei Unheilsamem beeinflußt wird.

 

Man kennt sich meistens selber sehr wenig, weniger als andere, und weiß nicht allzuviel von den Abgründen des Unbewußten, aus denen das Denken quillt; aber es ist gut, sich wenigstens darüber klar zu sein, daß dieses Denken entscheidend ist für das eigene Wohl und Wehe, wie auch für das Wohl und Wehe der anderen. Es bleibt sich nicht gleich, weder für sich selber noch für andere, ob das Denken voller Gier oder ob es frei von Gier ist, ob es voller Haß oder ob es frei von Haß ist, ob es verblendet oder unverblendet ist. Darum hat man zu erkennen und sich voll bewußt zu sein, wenn Gier in einem ist: in mir ist Gier; man hat zu erkennen und sich voll bewußt zu sein, wenn Haß in einem ist: in mir ist Haß, und man hat zu erkennen und sich voll bewußt zu sein, wenn Verblendung in einem wirksam ist: in mir ist Verblendung. Man hat sich aber auch des gierfreien Zustandes, des haßfreien Zustandes und des Zustandes der Unverblendung voll bewußt zu sein. Nur im hellen Lichte des Bewußtseins kann das unheilsame Denken - und das ist das mit Gier, Haß und Verblendung verbundene - bezwungen und das heilsame Denken gefördert werden.

 

Meistens ist es so im Leben, daß das vitale Begehren, das gierhafte Verlangen, das leidenschaftliche Besitzen- und Genießenwollen gar nicht als solches betrachtet und erkannt wird, sondern daß sich die Aufmerksamkeit allein auf das begehrte Objekt, oder den begehrten Genuß richtet. In der Meditation über das Denken ist die Aufmerksamkeit natürlich nicht auf derlei Objekte, sondern auf das Denken selber gerichtet und damit auf Durchschauung seiner Tendenzen und seines eigentlichen Gehaltes. Üble Tendenzen können nur durch das Erkennen ihres So-seins aufgehoben, und gute Tendenzen können nur, insofern sie bewußt sind, erhalten und gefördert werden. Wichtig ist aber auch das Sich-bewußt-sein des eigenen, geistigen Gesammeltseins, oder auch des Zerstreutseins. Es ist auch Klarheit zu gewinnen über die Weite und Enge des eigenen, gedanklichen Horizontes, über die jeweiligen heilsamen und unheilsamen Einflüsse und deren Förderung oder Aufhebung, und auch darüber hat man sich bewußt zu werden, wie weit die Fortschritte in der Loslösung von allen Anhaftungen bereits gediehen sind.

 

Dieses ganze, große Gebiet des Denkens und Vorstellens, der darin zum Vorschein kommenden willkürlichen und unwillkürlichen Tendenzen, welch letztere gesamthaft den Charakter eines Menschen ausmachen, sowie das bisher auf dem Wege zur Leidensüberwindung Erreichte, all das ist zu überschauen und in Hinsicht auf seine leidüberwindende Zwecksbestimmung und Zweckerfüllung zu bewerten. Immer aber hat die kausale Bedingtheit und Vergänglichkeit sowohl der körperlichen wie geistigen Phänomene bewußt zu bleiben.


II.B.5. Betrachtung des Sechssinnengebietes

 

Einer weiteren Inschau dient die meditative Betrachtung der inneren und äußeren Sinnesgrundlagen. Sie besteht darin, daß der Meditierende seine konzentrierte Aufmerksamkeit auf das Auge richtet, auf das Sehbare und auf die Bindungen und Fesseln, die durch die Berührung dieser beiden entstehen. Dabei wird unmittelbar erkannt, daß, wenn das Auge und eine angenehme Form sich berühren, daraus Begehren erwächst und Anhaften und als zwangsläufige Folge davon: Vergehen und Leiden. Ist die Form, oder besser das Formhafte unangenehm, so entsteht aus der Berührung mit dem Auge Abscheu und Widerwillen: auch das ist Leiden.

 

Unter dem Begriff „Auge", das zum Unterschied von den äußeren Sinnesgrundlagen, dem Sehbaren, als innere Sinnesgrundlage anzusehen ist, verstehen wir nicht nur das körperliche Auge, sondern vielmehr das Seh-Vermögen oder die Seh-Fähigkeit, die sich in den Seh-Nerven verkörpert und die wieder zurückführbar ist auf das Sehen-Wollen, das sich wiederum auf das Nichtwissen um die ganze Leidenskette aufbaut.

 

Wie wir wissen, ist das Sehbare oder das Gesehene, als die äußere Sinnesgrundlage, nicht „an sich" existent, sondern nur unter der Bedingung des Auges. Was wäre der Begriff „gelb" ohne das Auge? Was wären die Begriffe „schön und „häßlich" ohne das Auge? Nur durch das Auge bedingt, gibt es Sehbares, und so hängt die ganze Welt der Formen und Farben am Bestehen des Auges und des sich daraus ergebenden Seh-Bewußtseins. Alles aber ist bedingt und voneinander abhängig.

 

Was hier diesbezüglich gesagt werden kann, ist ja nur ein schwacher Verdeutlichungsversuch. Allein in der Meditation wird das hier Vorgebrachte zum Erlebnis und damit zur Wirklichkeit.

 

In ganz ähnlicher Weise betrachtet der Meditierende das Ohr und die Töne, die Nase und die Gerüche, die Zunge und das Schmeckbare, die Tastorgane und das Tastbare, das Denkorgan und das Denkbare, mit allen daraus entstehenden Berührungen, Bindungen und Fesseln. Er betrachtet aber ganz im besonderen die Möglichkeit der Aufhebung von all dem, denn er durchschaut es als Leiden.


II.B.6. Betrachtung der Haftensgruppen

 

Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß auch die Komponenten der Persönlichkeit, also das Körperliche, die Empfindungen, die Wahrnehmungen, die geistigen Gestaltungen und das Bewußtsein, hinsichtlich ihrer Eigenschaft als Haftens-Gruppen meditativ zu durchleuchten und zu durchschauen sind, denn es ist wichtig, den Gruppen-Charakter der einzelnen Komponenten zu erfassen und sie gesamthaft in ihrer kausalen Bedingtheit und Leidhaftigkeit zu erkennen. Wir haben es bereits früher dargelegt, aber es soll noch einmal gesagt werden, daß die Meinung zu überwinden ist - und das geschieht am überzeugendsten in der Meditation - als gäbe es einen Haftenden als Subjekt gegenüber einem Haft-Objekt, also einerseits einen Haftenden, der sich von den Dingen oder Gruppen, auf Grund gewonnener Einsicht in die Wirklichkeit, loslöst, und andererseits diese Dinge oder Gruppen selber. Das, was als „Haftender" angesprochen werden könnte, kann niemals ohne die Haftensgruppen bestehen, denn diese sind ja in ihrem Wirken er selber. Wie ein Blatt Papier immer aus zwei Seiten besteht und niemals nur aus einer, so bestehen die Haftensgruppen aus dem Werden und aus dem Haften, aber niemals aus dem einen oder anderen allein. Zusammen führen sie zu jenen bestimmten Komponenten, die wir als Körperlichkeit, als Empfindung, Bewußtsein usw. kennen, und die in ihrer Gesamtheit das Individuum namens So oder So, und in ihrem Zusammenwirken auch jenes Bewußtwerden des Anhaftens ergeben, das den ganzen Wirkens-Vorgang erhellt und durchschaut und damit auch die Möglichkeit der Aufhebung desselben.

 

Erst in dem durch die Meditation erwirkten anschaulichen Erlebnis, gestaltet sich jenes unumstößliche Wissen um die Aufhebbarkeit der Persönlichkeits-Gruppen und damit um die Aufhebung des Leidens. Gewiß ist das Nichtwollen des Leidens allen Wesen inhärent und somit auch das Streben nach der Überwindung des Leidens, aber stärker noch als dieses Nichtwollen und dieses Streben ist der Lebenstrieb und sind die Begehrungen, die Erfüllung heischen, und so kommt es letzten Endes darauf an, die vom Standpunkte der Lebens-Bejahung aus als negativ angesehenen Kräfte der Verneinung und des Loslösens so positiv und aktiv zu gestalten, daß sie nach und nach alle vitalen Bindungen und Selbstbehauptungen im Sinne eines Ewigen zu überwinden vermögen, was aber nur gelingen kann, wenn die Persönlichkeits-Gruppen als leidhaft und wesenlos erkannt werden.


II.B.7. Betrachtung der fünf Hemmungen

 

Auf dem Wege zur Erlösung stellt sich dem Wanderer eine Gruppe von fünf sogenannten Verderbnissen oder Hemmungen entgegen, denen weiteste Verbreitung zukommt und die deshalb hier noch besonders erwähnt werden sollen. Wir haben da

 

1. die sinnlichen Begehrungen, über die wir uns schon an anderen Stellen geäußert haben, auf die aber hier im Rahmen der meditativen Betrachtungen nochmals hingewiesen werden soll, da sie so recht eigentlich die Wurzeln alles Übels darstellen und wie Unkraut überall wuchern, so daß gerade auf ihre Überwindung ein ganz besonderes Augenmerk zu richten ist.

Wendet sich in der Meditation die Aufmerksamkeit hin auf die Widerlichkeit des (begehrten) Körpers oder seiner Bestandteile, auf die Leidhaftigkeit der Sinnes-Objekte und alles dessen, was uns in der Form des Angenehmen und der sinnlichen Freude entgegenkommt, so werden diese Begehrungen mehr und mehr schwinden. Wenn dazu im Alltag noch ein dauerndes Bewachen der Sinnes-Tore, ein bewußtes Maßhalten im Essen und Trinken kommt, und schließlich noch ein Verkehr mit Menschen von ernstem und gediegenem Charakter, aus dem sich förderliche Gespräche ergeben, so kann der Erfolg nicht ausbleiben. Als weitere Hemmung gilt

 

2. das Übelwollen, das durch die Meditation über die Güte, auf die wir noch zurückkommen, zur Aufhebung gebracht werden kann.

 

3. Trägheit und Schlaffheit, die als geistige und körperliche Hemmungen manche verlorene Stunde auf dem Gewissen haben, die unfruchtbar sind und alles zur Stagnation bringen, werden am besten durch Betrachtungen über die Vergänglichkeit und den Tod behoben. Heute noch soll getan werden was zu tun ist, vielleicht ist es morgen schon zu spät.

 

4. Aufgeregtheit und Gewissens-Unruhe zeugen von innerer Zerfahrenheit und Schwäche und wurzeln im Gedenken an eigenes, unheilsames Tun und Lassen. Hier vermag die meditative Betrachtung der Ursachen zu beschwichtigen. Gewissens-Qualen sind als Selbstquälerei aufzugeben, denn sie führen zu nichts. Viel wichtiger ist der Entschluß, in Zukunft alles zu meiden, was zur Aufgeregtheit und Gewissens-Unruhe führen könnte.

Als letzte in der Gruppe der fünf Hemmungen betrachten wir

 

5. den Zweifel, der auf dem Boden des Unwissens gedeiht und manchmal wohl als Ansporn zur Durchdringung der Wirklichkeit dienen mag, der aber, im Falle er zur chronischen Skepsis ausgewachsen ist, wie bei vielen modernen Menschen, sich als eine wirkliche „geistige Hemmung" erweist. Es ist ein gewisses inneres Unvermögen, das zum chronischen Zweifel führt, ein Glaube an die Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens und doch ein Hinneigen zum reinen Intellekt, zum bloß rationalistischen Denken, das die Lösung der entscheidenden Lebensprobleme herbeiführen soll, wobei das Erlebnis als solches kaum beachtet wird und das Heil vergeblich, aber trotzdem immer wieder in dem Spiel mit Thesen und Antithesen, im Analysieren und Zernagen des Denkens und Vorstellens gesucht wird.

Ein Mensch, dessen Geist von Zweifel erfüllt ist, vermag nicht zu erkennen, was ihm selber und anderen dienlich und förderlich ist und darum ist dieser Zustand ein unheilvoller. Er ist hauptsächlich zu überwinden durch eine meditative Betrachtung der die Zweifel hervorrufenden Dinge. Darin wird dann zur anschaulichen Gewißheit, daß auch diese Dinge kausal bedingt sind, und daß sie dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Diese Gewißheit führt weiters zur Gewißheit über das Leidhafte alles Gewordenen, über das Unheilsame des Anhaftens und der Begehrungen und schließlich zur Gewißheit über die Möglichkeit der Erlösung und über den Weg, der zu gehen ist.


II.B.8. Mancherlei Betrachtungen

 

Selbstverständlich kann in der bisher dargelegten Art und Weise noch über mancherlei meditiert werden, um an Klärung und Festigung der Einsicht in die Wirklichkeit zu gewinnen. Sehr heilsam ist die Meditation über den Tod, über die Geburt, die Sittlichkeit, den Frieden, die Freigebigkeit, über die Nahrung in Hinsicht auf ihre Unreinheit (Fleischgenuß), über den Dünkel, der aus der Überzeugung von einem „Ich-Selbst" quillt und der Eigenes über Fremdes stellt, über die Unwirksamkeit von Zeremonien und Ritualen, über die Fesseln des Neides, des Geizes usw., und schließlich über die Fessel des Nichtwissens um die Leidensursachen und deren Aufhebung. Immer aber hat es ein Meditieren zu sein in Hinsicht auf die Überwindung des Leidens und die Erkenntnis des Weges, der zu dieser Überwindung führt.

 

Bevor wir übergehen zu jenen Meditations-Zuständen, die als sogenannte „Versenkungen" höhere Lebens- und Bewußtseins-Ebenen repräsentieren und zu immer weiteren Bewußtseinsausweitungen und so zu übermenschlichen Fähigkeiten und Erkenntnissen führen, soll noch auf eine Meditation hingewiesen werden, die sowohl für den Meditierenden selber, als auch für sein ganzes Lebens-Milieu, in dem er sich bewegt, von einzigartiger Bedeutung ist, es ist


II.B.9. Die Meditation der Güte

 

Wie schon einmal erwähnt, hat die Güte der Liebe voraus, daß sie nicht triebgebunden, sondern fessellos und rein ist, und daß sie nichts für sich will.

 

Ein Mensch mit gütigem Herzen kennt weder Feindschaft noch Übelwollen; er ist durchdrungen vom Willen zu helfen, überall, wo es nötig ist; er kennt keinen Haß und keine Rache und lebt in Frieden sowohl mit sich selber wie mit allen anderen Wesen.

 

Was für den Einzelnen Geltung hat, das gilt auch für alle und so auch für den Staat, den schon PLATO als einen Menschen im Großen betrachtet hat, dessen Zweck es ist, das Gute zu realisieren und den Bürger zu diesem Guten zu erziehen. Das aber kann nur geschehen, wenn die Erzieher selber von der Überzeugung durchdrungen sind, daß für das Wohlergehen des Einzelnen wie des Volksganzen die Pflege der Güte unerläßlich ist, wenn an Stelle von Mißtrauen und Angst, von Selbstüberhebung und Eigensucht und all den daraus entstehenden Folgen, eine innere Beruhigung und jenes Wohlwollen treten soll, das allein die Beziehungen der Menschen untereinander zu erfreulichen und friedvollen gestaltet.

 

Die Wurzel der Güte liegt in der Erkenntnis, daß alles, was lebt, Wohlsein begehrt und Leiden verabscheut. Die Förderung des Wohlseins und die Vermeidung des Leidens ist somit die sowohl bewußte wie unbewußte Grundhaltung jedes Wesens in Hinsicht auf sein eigenes Dasein. Jeden Menschen umgibt ein bestimmter Interessenkreis, auf den er sich beschränkt oder zu beschränken hat und von dem aus er betrachtet und urteilt. Das in ihm, wie in jedem anderen Wesen vorhandene Verlangen nach Wohlsein und Verabscheuen des Leidens, ist aber jeweils durch das nicht über den eigenen Interessenkreis hinausreichende Wollen begrenzt und deshalb wird ihn fremdes Leid, das außerhalb seines Kreises erscheint, weniger oder nicht berühren.

 

Je mehr sich ein Mensch von der Beschränkung auf den eigenen Interessenkreis zu lösen vermag und sich selber als einen bloßen, bedingt entstehenden und vergehenden Werdeprozeß durchschaut und diesen Prozeß als ein auch für alle anderen Wesen gültiges kosmisches Gesetz erkennt, desto weiter und umfassender wird sein Mitfühlen mit den anderen Wesen, und desto mehr wird ihn auch fremdes Leid, ganz gleich, wo es erscheint, berühren. Das in ihm wohnende Verlangen nach Wohlsein und Verabscheuen des Leides wächst über ihn und seinen Interessenkreis hinaus, weiter und weiter, bis es alle Wesen, alles Lebendige umfaßt und somit weltumspannend wird. Sein Wohlwollen beschränkt sich nicht mehr auf die eigene Person und den eng begrenzten Kreis der Nächsten, es wird zum grenzenlosen Wohlwollen, und so wird auch seine Verabscheuung des Leidens zum grenzenlosen Mitleiden und damit zur All-Güte. Der Weg zu diesem Geistes-Zustand mag lang und mühevoll sein, aber er repräsentiert eine der beglückendsten Etappen im Erlösungs-Streben.

 

Wirkliches Glücks-Empfinden ist immer mit einem Wohlwollen allen anderen Wesen gegenüber verbunden, und so kommt es nicht von ungefähr, daß, wer sich gerade in einem freudvollen und glücklichen Gemütszustand befindet, die ganze Welt in Wohlwollen umarmen möchte. Glück erzeugt Güte, aber Güte erzeugt auch Glück, ein von allem Triebhaften losgelöstes und deshalb reines Glück. Haßgefühle, Übelwollen, Antipathie und Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten und Leiden anderer Wesen, lassen sich nicht leicht mit einem Schlage abtun. Die dauernde Überwindung solch unheilvoller Eigenschaften kann nur allmählich erreicht werden und am sichersten durch die Meditation über die Güte. Es wäre vielleicht zu viel zugemutet, wollte man eines bisher gehaßten und verachteten Menschen plötzlich in Güte gedenken, und es ist auch nicht ratsam, wenn im Anfang der Übungen versucht wird, einen Menschen des anderen Geschlechtes mit Güte zu durchstrahlen, denn leicht könnte daraus ein körperliches Verlangen, ein leidenschaftliches Begehren, eine sinnliche Hinneigung erwachsen, und das wäre ja nicht der Zweck der Übung. So ist es am besten, vorerst Personen ins Auge zu fassen, denen gegenüber man völlig indifferent empfindet, und damit zu beginnen, daß man einer solchen Person etwa in folgender Weise gedenkt:

Auch du bist ein sterbliches Wesen, dem Alter, der Krankheit und dem Tode verfallen; auch du kommst aus anfangslosen Zeiten und wandelst in eine endlose Zukunft; auch du suchst das Glück und verabscheuest das Leid; auch du zitterst um das Glück und Wohlergehen deiner Lieben, seien es Eltern, Gatte oder Gattin, Kinder, Freunde und Verwandte, oder seien es sonst liebe Menschen, an denen dein Herz hängt; auch du leidest, wenn das, was du liebst und begehrst, vergeht und verfällt. Ich sehe das Glück und die Freude in deinen Augen, im Falle sich dir sehnlichst Erwünschtes erfüllt, und ich sehe darin den Schmerz und die Trauer, wenn diese Wunscherfüllung sich wieder verflüchtigt. Neues Sehnen und Hoffen wird dein Herz erfüllen, und dann wird wieder neues Leid an die Stelle des genossenen Glückes treten, immer und immer wieder, anfangslos und endlos. Reines, dauerndes Glück ist die Sehnsucht aller Menschen, und auch du sehnst dich in der Tiefe deines Herzens nach diesem Glück; also stände es mir nicht zu, in Rede, Tat oder Gedanken der Erfüllung dieser Sehnsucht irgendwie hinderlich zu sein. Wie könnte ich deinem Wohlsein im Wege stehen! Wie könnte ich wünschen, daß du, ein Wesen wie ich selber, nicht glücklich sein solltest! Möge dein Tun und Lassen immer so sein, daß es dir selber und den Mitmenschen zum Heile und Segen gereicht.

So oder in ähnlicher Weise möge sich das Denken des Meditierenden gestalten, um dann allmählich von der einen Person zu Zweien überzugehen, dann zu drei, dann zu fünf, zu zehn, zu hunderten, tausenden und hunderttausenden, um schließlich alle Menschen und alles Lebendige überhaupt zu umfassen.

 

Auf diese Art wird die Meditation letzten Endes zu einer Ausstrahlung von Güte-Wellen, die sich nicht ins Leere verlieren, denn gar fein und subtil ist die Empfindsamkeit der Menschen. Schon die Nähe eines gütigen Menschen wirkt beruhigend und besänftigend auf ein erregtes und feindliches Gemüt, und auch die Tiere ahnen die Gesinnung eines sich ihnen nähernden Wesens. Die Wellen des Wohlwollens sind so spürbar wie die Wellen des Hasses, und so können sie beglücken, wie die des Hasses zu erschrecken vermögen.

 

Die Meditation der Güte ist also kein vergebliches Bemühen, denn sie schafft nicht nur für den Meditierenden selber, sondern ebensosehr auch für die ihn umgebenden Wesen eine Atmosphäre des Wohlbefindens und der Freude.

 

So kommt es nicht von ungefähr, daß gerade in den buddhistischen Ländern, sei es auf Ceylon, in Siam oder Burma usw. im Verkehr der Menschen untereinander ein so freundlicher, liebenswürdiger, höflicher und aufrichtiger Ton herrscht, denn immer wiederum wird dort jenes hohe Lied der Güte zitiert, das lautet:

„Glücklich und zufrieden mögen alle Wesen sein und frei von Leid!
Was immer es für Lebewesen gibt,
Ob sie beweglich sind,
Ob festgebannt an ihre Stätte,
Ob groß sie sind, ob klein,
Ob kurz oder lang,
Ob grob oder auch ganz fein,
Ob sichtbar oder unsichtbar,
Ob ferne oder nah,
Ob sie geboren sind,
Oder nach Geburt erst streben,
Alle Wesen mögen glücklich sein!"

 

In ähnlicher Weise wie die Meditation der Güte, ist sowohl die Meditation des Mitleides, wie die der Mitfreude und des Gleichmutes zu üben und zu pflegen.

 

Das Mitleiden nennt NYANAPONIKA THERA den „großen Riegelheber", der das Tor in die Freiheit zu öffnen vermag. Es weitet „das kleine Herz zum Umfangen der Welt, - nimmt ihm die lastende, lähmende, dumpfe Schwere" und verleiht „dem Erd- und Ich-Gebundenen Flügel". Und weiter sagt er: „Das Mitleid des Wissenden aber ,leidet’ nicht mehr ,mit’. Sein Geist, sein Wort, sein Tun sind voller Erbarmen. Doch sein Herz erzittert nicht dabei, es bleibt ruhig und fest. Wie könnte er sonst helfen?"

 

So betrachtet, ist das Mitleid ein unentbehrlicher Faktor auf dem Wege zur Erlösung.

 

Die Mitfreude ist ein köstliches Gut und wer sie zu erleben vermag, der gewinnt nicht nur selber an Freude und Zufriedenheit, sondern steigert auch die der anderen. Griesgram und mürrische Laune, Ärger und Neid, Trübsal und Weltschmerz als vorherrschende Stimmung sind keine Faktoren der Leidensüberwindung und sollen deshalb gemieden werden. Ein bewußtes Weilen in der Mitfreude, die ihre Ursache im guten Wandel des Nächsten hat, ist beglückend und befreiend.

 

Der wahre Gleichmut wurzelt im Wissen um die Wirklichkeit, und als dauernde Ausgeglichenheit des Gemütes bedeutet er ein Ziel, dessen Erreichung schwere Mühe lohnt. Er darf nicht mit der Gleichgültigkeit verwechselt werden, deren Grund in Gefühllosigkeit und Kälte, Stumpfheit und lebloser Starre liegt, sondern er ist vollkommene Harmonie des Geistes, ohne Hangen und Bangen, er ist das, was wir unter Entropie der Leidenschaften verstehen, er ist das Schweben über dem Auf und Ab der Wogen des Gefühls, und seine Äußerung ist die Ruhe des Weisen und die Stille des vom Ich-Wahn Geheilten. Sich in Gleichmut zu üben, bedeutet höchste Förderung auf dem Wege zum Heil und seine Gewinnung krönt die Harmonie der Persönlichkeit.

 

Alle diese Übungen führen, häufig geübt und gepflegt, zum anschaulichen und unmittelbaren Wissen um die Wahrheit vom Leiden und seiner Überwindung, und zum Weilen in trieb- und haftfreien Zuständen, und so beeinflussen sie auch die alltäglichsten Lebensäußerungen im Sinne des Ausgerichtetseins auf das hohe Ziel der Erlösung. Sie verfeinern und veredeln, sie heben Bindungen auf und lösen Fesseln, sie beglücken und befreien.  


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