WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

II.C. Die Versenkungen

 

Unter den Begriffen „Versenkungen" oder „Schauungen" verstehen wir jene Meditations-Zustände, die sich aus der Vertiefung und Intensivierung der gedanklichen Entleerung ergeben. Es sind vor allem Zustände, die bei vollem und klarem Bewußtsein höhere Daseinsebenen repräsentieren und als solche natürlich viel weniger leidgebunden sind als diejenigen unseres erdgebundenen Daseins. Je weiter die bewußte, gedankliche Leerheit getrieben wird, desto umfassender und grenzenloser wird die innere Loslösung, bis sie in der Überwindung auch der letzten und sublimsten Gedanken und Vorstellungen, in einem der gänzlichen Erlösung nahen Zustand kulminiert. Zum Unterschied von dem bisher dargelegten Weg des Wissens und Weilens, ist dies der Weg des Schauens. Mit der Beschreibung dieses Weges der Versenkungen knüpfen wir dort an, wo wir bei der Beobachtung der Atmungs-Vorgänge zu den Betrachtungen übergegangen sind (s. S. *).

 

Wenn der Meditierende jene Konzentrations-Stufe erreicht hat, auf der es ihm keine Mühe mehr macht, beliebig lange den Weg des Atems vom Zwerchfell bis zur Nasenöffnung hin und her zu verfolgen, so richtet er seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Berührung des Atems mit der Nasenöffnung, dem „Tor". Es wird nicht mehr der Weg des Atems beobachtet, sondern nur noch die Berührung als solche, denn diese bildet nun das Objekt der Konzentration. Dabei bleibt aber trotzdem der Weg der Atmung ganz unwillkürlich bewußt, und gerade das Vorhandensein dieses unwillkürlichen Bewußtseins, das wohl ein Gegenwärtighalten, aber nicht ein Beobachten ist, führt ganz allmählich und sanft zu einer immer feiner und ruhiger werdenden Atmung, die mit der Zeit fast nicht mehr wahrgenommen werden kann, bis schließlich der Zustand erreicht wird, in dem das Wissen um die Atmung entschwindet.

 

Diese wichtige Etappe auf dem Wege zur Versenkung, ist bekannt als das vorbereitende Stadium. Die Atmung ist, wie gesagt, nicht etwa aufgehoben, sondern nur noch kaum wahrnehmbar. Das längere verweilen in diesem Zustand führt allmählich zu einer, mit einer subtilen Empfindung von Wohlsein und Glück verbundenen Erscheinung, dem sogenannten Reflex-Bild, das schon in alten Zeiten verglichen wurde mit dem Sternenschimmer, mit einem Edelstein oder einer Perle, mit dem Vollmond, mit der Sonne usw. Ein geisterzeugtes Bild, das je nach den Fähigkeiten und Vermögen des Meditierenden variiert, und dessen Erscheinen gleichbedeutend ist mit dem völligen Überwundenhaben jener fünf typischen Hemmungen, die wir als

kennen gelernt haben. Es sind jene Faktoren, die die Klarsicht immer wieder trüben und die geistige Beruhigung zunichte machen. Der Meditierende hat nun zwar in dem erreichten Stadium der sogenannten „angrenzenden Versenkung" diese Hemmungen restlos überwunden, weilt aber noch in der Sinnen-Sphäre und benützt nun dieses Reflex-Bild als Objekt seiner Konzentration. Er muß nun versuchen, dieses neu gewonnene Konzentrations-Objekt nicht mehr aus seinem geistigen Auge zu verlieren und hat es wie eine außergewöhnliche Kostbarkeit zu hegen und zu pflegen, wobei es größer und größer wird, bis es schließlich den ganzen Raum zu erfüllen scheint.

 

Eine gewisse Konstanz dieser Erscheinung und dieses Zustandes vermittelt nun den Übergang von der Sinnen-Sphäre zur Sphäre der Reinen Form, d. h. zur vollen ersten Versenkung, in der von den vielen möglichen Bewußtseins-Faktoren nur noch Anregung und Erwägung, Freude, Glück und Konzentration (Einsgerichtetsein) zu finden sind.

 

Der Meditierende hat sich von der Sinnen-Welt mitsamt ihren Anhaftungen losgelöst und verharrt im Zustand des reinen Schauens, innerlich unbeteiligt, abseits aller weltlichen Bindungen. Von Freude und Glücksempfinden ist er erfüllt; sinnliche Begehrungen und Leidenschaften sind aufgehoben. Seine Ruhe und Klarsicht hat eine solche Tiefe erreicht, daß die Sinne gegenüber den Dingen der Außenwelt unempfindlich geworden sind. Ungestört weilt er in seliger Heiterkeit, und nach Belieben kann er diesen Zustand verlängern. Es ist dieses Bewußtseins-Stadium, von dem es heißt:

 

„Völlig abgeschieden von den sinnlichen Dingen, abgeschieden von den schuldvollen Dingen erreicht er die von ,,Gedankenfassung" und „Diskursivem Denken" begleitete, durch „Abgeschiedenheit" geborene, von Verzückung und Glücksgefühl erfüllte erste Vertiefung und weilt darin."

Ein Zustand, dessen Glück- und Freude-Empfindungen nicht mit denen aus sinnlichen Dingen entsprossenen verglichen werden können; er ist übersinnlich und manifestiert eine höhere Daseins-Ebene.

 

Im allmählichen Fortschreiten in dieser Übung vermindert sich sukzessive die Anzahl der Bewußtseins-Faktoren, wobei zuerst Anregung und Erwägung zur Auflösung gelangen, und die zweite Versenkung erreicht wird. Da ist kein Gedankenfassen und kein Überlegen und Erwägen mehr; die gedanklichen Vorgänge sind zur Ruhe gekommen und an deren Stelle breitet sich jene „innere Meeresstille" aus, die ganz und gar als seliger Friede empfunden wird. Die völlig von Freude und Glück erfüllte Gemütsstimmung des auf dieser Stufe Weilenden durchdringt sein ganzes Wesen, und im klaren Bewußtsein der Überwindung aller erregenden Betrachtungen weilt er völlig in sich gekehrt.

 

In der dritten Versenkung haben sich, die, aus der Ruhe und dem Frieden geborene Freude und das Glücksgefühl der Loslösung in ein einzigartiges, den ganzen Körper durchdringendes Wohlgefühl verwandelt. Ein jenseits der positiven Freude beseligendes Weilen, eine Wonnestimmung unvergleichlicher Art. Wird schließlich auch, diese Empfindung noch aufgehoben, dann tritt die vierte Versenkung ein, in der alles Empfinden und jedwede emotionale Bewegung gänzlich erloschen sind. Dieser Zustand der gänzlichen Leere, als Frucht vollendeter Konzentration, stellt die totale Verwirklichung des kompromißlosen Gleichmutes, der „sancta indifferentia" dar. Von Atemzügen ist nichts mehr zu spüren, wohingegen das Bewußtsein in unübertreffbarer Klarheit und Helle die ganze Wirkens- und Leidenswelt durchschaut. Das Tor zu übernatürlichen Fähigkeiten und zum Kontakt mit den himmlischen Welten öffnet sich. Hier hat der Meditierende die Fähigkeit und Möglichkeit der Rückschau auf sein vorgeburtliches Wirken, auf zahllose seiner Wiedergeburten. Er erschaut aber auch das Verschwinden-Erscheinen der anderen Wesen, je nach ihrem Tun und Lassen, d. h. je nach ihrem Wandel in Worten, Taten und Gedanken, das als das Wunder der Kardiognasie auch bei PAULUS (1. Kor. 12, 10) Erwähnung findet, und da er nicht nur die Lebensbahn der Mitmenschen, sondern auch seine eigene in unendlicher Rückschau zu überblicken vermag, kann er erst anschaulich und total die ungeheure Bedeutung der Erlösung, die in der restlosen Aufhebung dieses anfangslosen Werde-Prozesses besteht, erfassen. Von dieser Meditations-Stufe aus ist ein unmittelbares Eintreten in die volle Erlösung möglich.

 

Außer der bisher besprochenen gibt es noch andere, ähnliche zur Versenkung führende Methoden, die nicht auf der Beobachtung des Atmens beruhen, sondern auf der Betrachtung eines bestimmten Gegenstandes, z. B. einer kreisrunden Scheibe von gelber, roter, blauer oder weißer Farbe, eines Fleckens Erde, einer begrenzten Wasserfläche usw.

 

Nachdem die Vorbedingungen, die wir bereits in Hinsicht auf die Atmungs-Übung als unumgänglich notwendig aufgezeigt haben, erfüllt und evtl. Hindernisse wie Lärm, Kälte, unbequeme Körperstellung usw. beseitigt sind, betrachtet der Meditierende z. B. eine an die Wand geheftete gelbe Scheibe von etwa 40 cm Durchmesser. Sie wird mit halb geöffneten Augen scharf fixiert, unter Ausschaltung alles anderen Denkens und Vorstellens. Diese scharfe Betrachtung wird so lange fortgesetzt, bis das Bild der Scheibe auch dann sichtbar bleibt, wenn die Augen geschlossen werden.

 

Diesen so gewonnenen Auffassungs-Reflex, der immerhin einige Zeit als ein vollmondartiges, klares Spiegelbild der Scheibe bestehen bleiben muß, benützt nun der Meditierende an Stelle der Scheibe als Meditations-Objekt und richtet seine Aufmerksamkeit so lange darauf, bis ein noch mehr verinnerlichter Reflex, ohne ausgeprägte Konturen, erscheint. Der Moment seines Eintrittes entspricht dem Zustand der "angrenzenden Versenkung" und somit auch der völligen Überwindung der fünf Hemmungen, von denen wir bereits gesprochen haben.

 

Im Fortschreiten dieses Zustandes stellt sich die volle Versenkung ein, womit das gleiche Bewußtseins-Niveau erreicht ist, das oben geschildert wurde. Damit hat der Meditierende die Schwelle des Überweltlichen überschritten, welch letzteres natürlich nicht im Sinne eines Transzendenten „an sich" aufzufassen ist, sondern als ein höheres, über die Sinnenwelt hinaus entwickeltes Bewußtseins-Stadium. Noch auf der Erde weilend kostet er das Glück einer Götterwelt bereits in der ersten Versenkung; doch auf Grund der Erkenntnis, daß auch dieses Glück vergänglich ist, steigt er allmählich weiter empor bis zum totalen Gleichmut, und aus den erhabenen Bewußtseins-Ebenen der Reinen Formwelt überblickt er als Schauender, aber nicht mehr als Beteiligter das ganze Getriebe der Wirklichkeit, durchdringt es bis in die letzten Einzelheiten und erlebt in einem bisher völlig unbekannten Maße die Überwindung des Leidens.


II.C.1. Höhere Versenkungen. Die Bereiche des Formlosen

 

Es gibt eine weitere Steigerung der Bewußtseins-Entleerung, die zu noch höheren als der bisher erwähnten mentalen Zuständen führt, um schließlich in der zeitweise totalen Aufhebung aller bewußten Lebens-Funktionen einzumünden. Allerdings sind diese Zustände für das Erlösungs-Streben nicht weiter von Belang, da sie reine Verweilungen in den Bereichen des Formlosen darstellen, denen keine erkenntnismäßigen Durchdringungen mehr zukommen.

 

Da ist einmal der Bereich des grenzenlosen Raumes, in dem der Meditierende nach völliger Überwindung aller Wahrnehmungen von körperlichen Formen, nach dem Hinschwinden aller Reflex-Bilder und durch Nichtbeachten der Vielheit-Wahrnehmungen, im reinen Schauen des unendlichen Raumes verweilt. Als nächste Stufe ist zu nennen:

 

der Bereich des grenzenlosen Bewußtseins, die Stätte der Bewußtseins-Unendlichkeit. Nichts anderes ist da als das Schauen der Grenzenlosigkeit des Bewußtseins. Aber auch diese Stätte ist noch als ein Positivum zu werten und wird überwunden durch den

 

Bereich der Nichtirgendetwasheit, in dem nichts mehr zu finden ist als die vollkommene Leere. Aber auch dieser Zustand wird noch überboten durch den Eintritt in den

 

Bereich der Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung, der als Grenzscheide des Wahrnehmens einen dämmerartigen Zustand darstellt, der selber fast kaum mehr wahrgenommen wird, und der dann in die totale Aufhebung aller Bewußtseins-Funktionen und der unterbewußten Bildekräfte mündet; welcher sozusagen kataleptische Zustand sich vom Tode dadurch unterscheidet, daß er nur eine zeitliche Aufhebung der körperlichen, sprachlichen und geistigen Gestaltungen ist, aber die Vitalität und Lebens-Wärme bestehen läßt.

 

Dieser Zustand ist wieder aufhebbar durch eine zeitlich vorausgegangene, dementsprechende Willensbildung.

 

Damit sind wir am Ende der Darlegung des Weges und Wandels vom Leiden zur Erlösung. Es mag eine lange, beschwerliche, mühsame, sich vielleicht über unzählige Wiedergeburten erstreckende Wanderung sein, aber trotzdem ist sie, als die vom Leiden zur Leidlosigkeit führende, das Beglückendste, was sich denken läßt.

 

Eigenartigerweise begnügen wir Menschen uns zumeist völlig mit dem Glück der Sinnengenüsse, mit den ach so vergänglichen kleinen und großen Freuden der vitalen Existenz, denn es scheint so schwer und fast unmöglich zu sein, höherer, überweltlicher Freuden teilhaftig zu werden. Und doch sind derartige Freuden im Grunde leichter zu gewinnen als die der Sinnenwelt, denn sie beanspruchen weder Sinnes-Objekte, noch irgendwie darauf hinzielende körperliche und geistige Bemühungen. Sie gründen sich allein auf dem Aufgeben der Begierden und des Anhaftens, und wem es auch nur einmal gelungen ist zu lassen anstatt zu begehren, einmal Dinge der Sinnenwelt nicht zu wollen anstatt zu wollen, der merkt unmittelbar aus der sich daraus ergebenden inneren Beruhigung und Stillung und dem Wohlgefühl als weiterer Folge, daß in dieser Richtung ein ganz anderes, höheres, reineres, dauerhafteres Glück gefunden werden kann, als es die Sinnenwelt je zu bieten vermag.

 

Wer den Pfad zur Erlösung geht, ist, vom Standpunkt der Bejahung des Lebens aus, für das Leben natürlich verloren, aber vom Standpunkt der Wirklichkeit aus steht er weit über den immer wieder im selbstgeschaffenen Leiden versinkenden Lebens-Bejaher, denn auf Grund seiner Einsicht in das Wesen des Lebens erkennt er dessen Bejahung als Fesselung an das Leiden, und so schreitet er auf hohem Pfade jenem völlig leidlosen Zustand entgegen, der, weil darin auch alle Wurzeln des Leidens zerstört sind, unvergänglich ist.

 

Diesen Weg und Wandel lehrte und lebte der BUDDHA vor zweieinhalb Jahrtausenden und verkündete ihn erstmals in seiner berühmten Rede von Benares mit den Worten:

 

„Und welches, ihr Mönche, ist dieser von dem Vollendeten völlig verstandene mittlere Pfad, der sehend macht, der Erkenntnis verleiht, der zur Ruhe, zum höheren Wissen, zur Erwachung, zum Nibbana führt? Es ist eben dieser edle achtteilige Weg, nämlich: Rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Überdenken, rechtes Sichversenken."

Dies ist der einzige, wahre und wirkliche Weg, der Weg der Einsicht und des Erlebens, der ohne Opfer an Vernunft und Geist, ohne Glaubenspostulate und Zeremonien, ohne Ansprüche an Götter und Menschen zur endgültigen Leidensüberwindung führt. Es mag viele Wege zu allerlei glücklichen Zuständen, zu Himmels- und Götterwelten geben, aber diese Zustände gleichen sich alle in ihrer Vergänglichkeit und im Momente ihres Vergehens wandelt sich das Glück in Leid. Alle diese Zustände und Bereiche sind aus dem Werden entstanden, und was entsteht, muß auch wieder vergehen. Was bleibt, ist allein das Unentstandene.

 

Dieser einzige Weg ist nicht etwa da als fertig zum Begehen; er wird erst zum Weg im Gehen, und in diesem Gehen findet sich die Erlösung.


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