WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

III. Die Erlösung

 

Es kann nach dem bisher Ausgeführten keinerlei Zweifel mehr darüber bestehen, in welchem Sinne der Begriff der wahren und wirklichen Erlösung zu deuten ist. 

 

Nicht der Glaube an ein Unbekanntes, nicht die Hoffnung auf ein besseres Jenseits, nicht ein Anspruch auf Gnade und Barmherzigkeit und am allerwenigsten die Erfüllung vitaler Begehren können zum unwandelbaren Bereich der Leidlosigkeit führen, der immer wieder gesucht, erstrebt und erhofft, aber so wenig wirklich erkannt und erreicht wird. Allzuviel an Illusionen, Meinungen und Ansichten, allzuviel an Begehrungen, Wünschen und Hoffnungen, allzuviel an Menschlichem Allzumenschlichem stehen seiner Verwirklichung im Wege, und daher ist schon viel gewonnen, wenn da und dort wenigstens über die axiomatischen Grundwahrheiten hinsichtlich des leidvollen Charakters des Daseins und der Möglichkeit seiner Überwindung etwelche Gewißheit erlangt wird, auf Grund derer durch eigenes, vorbehaltloses Nachdenken und Nachsinnen allmählich tiefer in die Wirklichkeit, d. h. in diesem Falle in das wahre Wesen des Lebens und Leidens und der Erlösung eingedrungen werden kann.

 

Zum Ausgleich der kleinen und großen Mühseligkeiten und Kümmernisse des täglichen Lebens schafft sich der Mensch allerlei Freuden und Genüsse niederer und höherer Art, die ihn den in Wahrheit und Wirklichkeit tragischen Charakter seiner ephemeren Existenz immer wieder übersehen lassen und so kommt es, daß den sinnvollen religiösen Aspekten, die als solche über dieses soeben gelebte Dasein hinausweisen, von Seite verhältnismäßig weniger Menschen die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird, trotz dem immer wieder anzutreffenden Bekenntnis zum Glauben, der so oder so heißen mag. Der Grund mag darin liegen, daß die Glaubens-Religionen ihr Ziel ausnahmslos ins Jenseits projizieren, wodurch der Tod zur unerläßlichen Voraussetzung der Gewinnung desselben wird. So darf es nicht wundernehmen, wenn im Leben nicht nur seitens der Materialisten an Freuden und Genüssen ausgekostet wird, was die Sinnenwelt als das Zunächstliegendste und Unmittelbarste zu bieten vermag. Es fehlen im allgemeinsten jene Aspekte, die sich allein aus dem Erkennen der Wirklichkeit ergeben; es fehlt das Wissen um die Anfangslosigkeit des Daseins, um die endlose Reihe der Wiedergeburten, um das Schicksalhafte des eigenen Tun und Lassens, und vor allem fehlt es an anschaulichem Erkennen der Leidhaftigkeit und Vergänglichkeit alles Gewordenen und der Tatsache der Aufhebbarkeit der Leidenswelt. Nur auf Grund dieses Wissens und Erkennens ergibt sich jene totale innere Wandlung, die von der Bejahung des Daseins zur Überwindung des ewigen Kreislaufes des Werdens und Vergehens führt und damit zur Erlösung, die im Erlöschen des Werde-Prozesses und damit des Leidens besteht. Ohne dieses Wissen und Erkennen muß jedes Erlösungs-Streben sich immer wieder in abstrakte Vorstellungen und Illusionen verlieren, denen ja nicht die Wirklichkeit, wohl aber Phantasie und Wunschgedanken zu Grunde liegen. Nur wer den Leidensgedanken voll begriffen hat, begreift auch und weiß, daß kein anderer Zustand als der, in dem das Werden und dessen bestimmende Faktoren Gier, Haß und Verblendung aufgehoben sind, im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes Erlösung ist.

 

Es liegt in der Natur des Lebens, daß das Vitale immer wiederum obenauf schwingt und als das Primäre und Wichtigste angesehen wird, und so kommt es, daß die Durchschauung der Wirklichkeit vielfach gar nicht gewollt wird, da sie mit Recht als Hindernis im Lebensgenuß erahnt und so vom Bejaher des Daseins ganz instinktiv gemieden wird. Jenseits der Sinnesfreuden glaubt er das Nichts, die Langeweile und Öde. Er glaubt, daß dort alles wüst und leer sei, denn er vermag ja von seinem Standpunkt aus das Glück jenseits der Sinnengenüsse nicht zu erkennen, und doch ahnt er in seinem tiefsten Innern irgendwie, daß nur dieses überweltliche Glück, das Glück der Leidlosigkeit, das einzig sinnvolle, dauernde und erstrebenswerte ist.

 

Alle Religionen kommen dieser mehr oder weniger bewußten Überzeugung entgegen und verkünden diese Stätte des Glückes, aber in der Deutung und Verwirklichung derselben besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen den Glaubens Religionen und dem Buddhismus - in dessen Rahmen ja alle unsere Ausführungen und Aspekte liegen -, der als einzige Religion sich allein auf die Tatsachen des Erlebens stützt und somit als Wirklichkeitslehre total immanent ist, im Gegensatz zu den Glaubens-Religionen, die ausnahmslos alle ins Transzendente weisen und sich damit dem Erlebnis der Erlösung entziehen.

 

Das Leiden ist wirklich und darum kann der Weg zu seiner Aufhebung auch nur innerhalb der Wirklichkeit liegen. Somit sind alle Hoffnungen und alle Glaubensakte, die auf ein Transzendentes, auf ein Unerforschliches und Unerkennbares hin tendieren, jenen Gedankengängen eines Träumenden zu vergleichen, der seine Traumbilder als Wirklichkeit nimmt.

 

Ganz offensichtlich erübrigt sich die Frage nach der Erlösung von einem glücklichen Dasein, denn die Verneinung eines solchen Aspektes wäre allgemein. So hat der Begriff der Erlösung auch nur Sinn und Inhalt hinsichtlich des Leidens. Alle dem Leiden ausgesetzten, denkenden Wesen empfinden dieses Ausgesetztsein als ein Übel, als ein Nicht-sein-sollendes, das es zu überwinden gilt. Man glaubt es zu überwinden durch die Einswerdung mit dem „Göttlichen", mit dem „Weltengrund", mit dem „Einen, das in allem ist"; man denkt es zu überwinden durch die Flucht in den Glauben, durch das Hoffen auf ein Jenseits, durch die alles erlösende Liebe; aber die bittere Tatsache des Entstehens und Vergehens läßt sich weder durch den Glauben, noch durch die Hoffnung und auch, durch die Liebe nicht aus der Welt schaffen. An der Unerbittlichkeit dieser Tatsache muß alles scheitern, was in der Meinung geschieht, daß das wirkliche Heil, die endgültige Überwindung des Leidens im Gewordenen, Gestalteten, oder in einem absoluten, transzendenten Sein gefunden werden kann.

 

Ganz abgesehen davon, daß sich dieses Glauben und Hoffen immer auf ein Unbekanntes bezieht, das niemand kennt, von dem niemand wirklich etwas weiß und auch nie wissen kann, auf ein Unbekanntes, das nur gedacht und vorgestellt, aber nie als Wirklichkeit erlebt wird - es sei denn, daß Projektionen aus dem Unbewußten dafür genommen werden -, muß dieses Glauben und Hoffen geradezu als ein Hindernis auf dem Wege zur wirklichen Erlösung betrachtet werden, denn es besteht aus nichts anderem, als aus dem Anhaften an Illusionen, an Meinungen und Vorstellungen, das eben selber restlos zu überwinden ist, wenn die Erlösung erreicht werden soll.

 

Was nützt es, von den Freuden einer ewigen Himmelswelt zu träumen und von der „Einswerdung mit dem Göttlichen", wenn weder dieses Göttliche, noch die Himmelswelten als Stätten der Ewigkeit feststellbar sind und also bloß als solche vermutet und den Wünschen entsprechend angenommen werden? Wir überwinden damit nicht das Entstehen und Vergehen, wir überwinden damit nicht die Ursachen des Leidens, nicht den Lebens-Durst, nicht das Anhaften, nicht alle die Glieder der Lebens- und Leidens-Kette, die sich aus dem Nichtwissen um die Wirklichkeit ganz zwangsläufig ergeben und die wir als Gestaltungen, als Berührungen, Empfindungen, als Anhaftungen und Werden usw. kennen gelernt haben und die schließlich immer wieder zu Geburt, Alter und Tod führen, sei es in dieser oder in anderen Welten.

 

Immer wiederum bestätigt die alltägliche Erfahrung, daß alles was wird, wieder vergehen muß. Dieses Gesetz kennt keine Ausnahme, und doch steckt auch im ärgsten Zweifler an der Möglichkeit der Erlösung eine Neigung zur Annahme, daß eine solche irgendwie denkbar sein müßte, wenn ein Jenseits dieses Gesetzes erreichbar wäre. Es ist erreichbar in der Aufhebung des Werdens, auf Grund der Aufhebung des Nichtwissens oder der Verblendung. Natürlich ist es, infolge des alles beherrschenden Lebensdurstes, äußerst schwer von jenem verhängnisvollsten Trugschluß des Menschengeschlechtes loszukommen, der in der Annahme besteht, daß das höchste Glück nur im Dasein bestehen kann, aber niemals in der Aufhebung desselben. Dasein wird auf alle Fälle als die Basis des Glückes angenommen, sei es im Weltlichen oder im Überweltlichen, in Himmels- oder Götterwelten, oder in der Vereinigung mit dem „All-Einen".

 

Dieser Trugschluß steht in engster Verbindung mit einem anderen: mit dem Glauben an die Existenz einer transzendentalen Wesenheit der einzelnen Individuen. Nur auf Grund dieses Glaubens kann die Annahme bestehen, daß die Aufhebung des Daseins Vernichtung bedeutet; aber Vernichtung könnte niemals Erlösung sein.

 

Wenn wir also davon sprechen, daß die wirkliche Erlösung in der Aufhebung des Daseins besteht, diese Aufhebung aber nicht Vernichtung ist, so geschieht dies aus der Erkenntnis heraus, daß unser ganzes Sein nichts anderes als ein bedingtes Werden ist, daß wir nicht „an sich" sind, nicht im Sinne eines absoluten „Ich", sondern daß wir nichts als einen Werde-Prozeß manifestieren, der bedingt entsteht und vergeht. Das einzelne Wesen ergibt sich als Resultat dieses Prozesses, der unter dem Namen So und So erfaßt wird und bekannt ist, und der seit anfangslosen Zeiten und in die Unendlichkeit hinein wirkt, so lange wirkt und so lange Wirklichkeit ist, bis vielleicht einmal jene große, innere Selbst-Durchschauung einsetzt, die dann zur völligen Wendung und zur Aufhebung dieses Prozesses führt. Von Vernichtung ist da nicht die Rede, denn diese hätte sich auf ein „Ich" zu beziehen, das sich aber im Lichte der Wirklichkeit als Illusion erweist.

 

So gesehen bedeutet Erlösung in ihrem höchsten Sinne Aufhebung der Wirklichkeit, denn in ihr hat der Wirkensprozeß aufgehört. Die Flamme des Werdens brennt nicht mehr. Es ist kein Brennstoff mehr da, der in der Form der Gier, des Hasses und der Unwissenheit über die Ursachen des Leidens und seiner Aufhebung, immer wieder zu neuen Wiedergeburten, zu neuen Werdeprozessen führt und damit zu neuem Leiden. Wo es keine Ursachen gibt, sind auch keine Folgen möglich, wie auch kein Feuer möglich ist, wenn es keinen Brennstoff gibt. Während der Lebenszeit eines Erlösten bezieht sich die Aufhebung der Wirklichkeit auf die Leidens-Faktoren, denn das Leben glüht da noch, gleich einem allmählich verlöschenden Funken weiter, aber bei seinem Tode wird diese Aufhebung zur totalen und endgültigen. Ein Prozeß kann aufgehoben, kann zum Stillstand gebracht werden; sein Wirken kann beendet werden, kann aufhören und erlöschen. In diesem Sinne haben wir auch die Erlösung als ein Erlöschen zu verstehen, als ein Erlöschen und Aufhören des kausalen Wirkens in Form der Persönlichkeit; wobei noch zu sagen ist, daß nur, was anfangslos ist, endgültig aufhören kann, denn für das, was einen Anfang hat, kann im Falle des Aufhörens die Möglichkeit des erneuten Anfanges nicht verneint werden.

 

Es wäre auch falsch, von der Erlösung als von einem positiven Ziel zu sprechen. Nichts ist weniger positiv als das Erlöschen und man kann es mit der Schmerzlosigkeit vergleichen, die ja als solche auch keinen positiven Wert, wohl aber ein höchst erstrebenswertes und erstrebtes Negativum, eine Aufhebung darstellt. Die Schmerzlosigkeit ist an sich nichts und gewinnt ihren Sinn und ihren Wert erst aus der allerdings sehr positiv empfundenen Gegebenheit des Schmerzes. So kann auch die Erlösung nicht als ein Positivum angesprochen werden, da sie ihren Sinn erst aus der Gegebenheit des Leidens gewinnt. Mag sie vom Leben her als ein Nichts gelten, als Gegenpol der Leidenswelt ist sie alles, ist sie das Ziel par excellence, das summum bonum, das Endgültige, Einzige und Unvergleichliche, die vollendete Erfüllung anfangsloser Sehnsucht, das wahrhaft Todlose, der Große Frieden.

 

Wenn das Freisein von allen Leidenschaften, wenn die Abwesenheit von Gier, Haß und Verblendung als das Negative, als Nichts angesehen wird, so muß das Brennen der Begierde und des Hasses sowie das Leben in der Illusion und Verblendung das Positive sein.

 

Wer würde sich selber eingestehen, daß dieses Positive auch das Erstrebenswerte ist?

 

Daß der Mensch dem instinktiven Lebenstrieb huldigt, ist natürlich, aber es ist weder gesagt noch erwiesen, daß er damit jenem Ziele näher kommt, dem er bewußt oder unbewußt ständig zustrebt, dem Zustand der Leidlosigkeit; ganz im Gegenteil, gerade dieser Trieb ist es, der ihn an der Erreichung dieses Zieles hindert.

 

Wer sich in Schmerzen windet, dem erscheint der Zustand der Schmerzlosigkeit als das Höchste und Begehrenswerteste, und so erscheint dem, der das Dasein als Leiden begriffen hat und es als solches erlebt, die Aufhebung dieses Daseins als das Höchste und Begehrenswerteste, weil diese Aufhebung, und nur diese allein, endgültige Leidlosigkeit bedeutet.

 

Jede Hoffnung auf ein ewiges Glück im Sein, und sei es auch in den denkbar höchsten Sphären, ist, trotz allen verlockenden Aspekten, deshalb trügerisch, weil es auch in diesen Sphären nichts als Entstehen und Vergehen gibt. „Sein" ist das Gegenteil von „Werden", es ist Nicht-werden. Wären wir aber Nicht-Werden, so gäbe es für uns auch kein Leiden, keine Geburt und keinen Tod, und der Begriff der Erlösung hätte keinen Sinn, da ein solcher Zustand den Begriff des Leidens völlig ausschließt. Gerade in diesem Nicht-Werden liegt also die Lösung des Problems der totalen Leidens-Aufhebung, liegt die wirkliche Erlösung.

 

Es ist nicht zu verwundern, daß unter uns westlichen Menschen die Überzeugung vorherrscht, ein solcher Abschluß sei in keiner Weise wünschbar und begehrenswert. Das Leben und Werden gilt da als das Höchste. Im Grunde genommen braucht aber dieser Abschluß gar nicht wünschbar und begehrenswert zu sein, denn er ergibt sich zwangsläufig aus dem klarbewußten und illusionslosen Streben nach Leidlosigkeit, die wie nichts sonst, begehrt, aber meistens dort gesucht wird, wo sie nicht zu finden ist. Daß endgültige Leidlosigkeit im Nicht-mehr-werden besteht, ist eben so wie es ist und alles andersartige Wünschen und Wollen bleibt vergebens, weil es immer wieder an der Wirklichkeit zerbrechen muß.

 

Zugegeben, es ist kein Leichtes um die Erringung der Leidlosigkeit; es braucht vor allem eine restlose Durchdringung der Wirklichkeit, und ganz besonders braucht es das völlige Aufgeben des Gedankens der Ich-heit, der als die Quelle alles Irrtums eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Dieser Gedanke der Ich-heit ist gleichzeitig der Gedanke des Seins, und solange an diesem Gedanken mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen gehaftet wird, kann es keine Erlösung geben, denn solange gibt es immer wieder neues Werden und Vergehen.

 

Nicht-mehr-werden, das würde also Sein bedeuten?! Ein letzter Hoffnungsschimmer scheint da dem Lebens- und Ich-Bejaher aufzudämmern, aber er täusche sich nicht, er frohlocke nicht zu früh. Ein solches „Sein" müßte schon da sein vor der Aufhebung des Werdens. Es wäre das „Ich", das wir aber als bloßen Werde-Prozeß durchschaut haben. Also ist es nichts mit diesem „Sein" in der Aufhebung des Werdens. Es ist aber doch ein Sein, ein rein negatives, das in der erloschenen Flamme ein Gleichnis hat, das Erloschen-Sein „an sich". Was allerdings etwas ganz anderes ist, als das „Sein" eines Wesenhaften.

Wer könnte es wagen, dieses Sein zu ergründen?

 

Daß es Leidlosigkeit an sich ist, das ist ohne Zweifel, denn es ist kein Werden mehr, wie die erloschene Flamme kein Brennen mehr ist. Daß es aber „etwas ist", ist nicht gesagt, daß es „nichts ist", ist auch nicht gesagt, daß es „weder-etwas-noch-nichts ist", ist ebenfalls nicht gesagt. Wir finden hier keine Deutungsmöglichkeit, weil die Aufhebung der Wirklichkeit, die Nicht-Wirklichkeit, das große Nicht-mehr so wenig eine Deutung zuläßt, wie die erloschene Flamme. Sagt doch der BUDDHA:

 

„Den der zur Ruhe ging, kein Maß ermißt ihn,
Von ihm zu sprechen gibt es keine Worte;
Verweht ist, was das Denken könnt’ erfassen,
So ist der Rede jeder Pfad verschlossen."

Sutta-Nipāta, Vers 1076.


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