WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

I.2. WELT UND BEWUSSTSEIN

 

Es ist kaum anzunehmen, daß die Wahrheit von der Welt als Bewußtsein, die besagt, daß die Welt nur so weit reicht wie das Bewußtsein reicht, und daß somit die Weltausbreitung gleich der Bewußtseinsausbreitung ist, allseits ohne weiteres erfaßt und verstanden wird.

 

Es scheint im allgemeinen ganz offenkundig zu sein, daß die Welt auch ohne Bewußtsein, vielleicht besser gesagt: ohne Bewußtheit, besteht, was heißen würde, daß sie „an sich" besteht, ganz unabhängig vom Bewußtsein, denn, so wird gesagt, es kann doch jederzeit beobachtet werden, daß trotz des im Tode erlöschenden Bewußtseins der Wesen, die Welt weiter besteht. Aus diesem Augenschein wird dann gefolgert, daß, wenn beim Erlöschen des Bewußtseins anderer die Welt bestehen bleibt, sie auch beim Erlöschen meines Bewußtseins bestehen bleiben muß, womit anscheinend der Beweis von der Unabhängigkeit des Bewußtseins von der Welt erbracht ist.

 

So sehr richtig und unantastbar dieser Beweis zu sein scheint, so wenig deckt er sich mit der Wirklichkeit.

 

SCHOPENHAUER sagt im Anfang des zweiten Bandes seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung":

 

„ ,Die Welt ist meine Vorstellung’ - ist gleich den Axiomen Euklids, ein Satz, den jeder als wahr anerkennen muß, sobald er ihn versteht; wenn gleich nicht ein solcher, den Jeder versteht, sobald er ihn hört. - Denn erst nachdem man sich Jahrtausende lang im bloß objektiven Philosophieren versucht hatte, entdeckte man, daß unter dem Vielen, was die Welt so rätselhaft und bedenklich macht, das Nächste und Erste dieses ist, daß, so unermeßlich und massiv sie auch sein mag, ihr Dasein dennoch an einem einzigen Fädchen hängt: und dieses ist das jedesmalige Bewußtsein, in welchem sie dasteht."

Diese Erkenntnis gründet sich bei SCHOPENHAUER auf die Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt, oder in Erkennendem und Erkanntem. Diese Zweiteilung erübrigt sich aber in dem Momente, in dem das als transzendentales Subjekt gedachte Erkennende als das Ineinanderwirken der die Persönlichkeit formenden Faktoren, die wir als sogenannte Persönlichkeits-Gruppen kennen lernen werden, durchschaut wird.

 

Wenn wir nun einmal versuchen, das, was wir als Welt erkennen, auf die einfachste Weise zu definieren, so müssen wir sagen, daß die Welt aus körperlichen Formen, aus Tönen, Gerüchen, Geschmacksempfindungen, aus Tastungen und Denkvorgängen besteht, die ohne unsere Sinnesorgane, also ohne Auge, Ohr, Nase, Zunge, ohne Tastorgane und ohne das Denkorgan Gehirn, weder nachgewiesen, noch gedacht und empfunden werden könnten. Wie könnte es den Begriff „Farbe" geben, ohne daß es ein Auge gäbe, das die Vorstellung „blau", „grün" usw. jeweils überhaupt erst schafft? Wie könnte es den Begriff „Ton" geben, wenn nicht das Ohr da wäre, das in uns bewußt werden läßt, was wir Ton-Empfindung nennen? Wie könnte es ein Riechen, ein Schmecken, ein Tasten und ein Denken geben, ohne das jeweils entsprechende Bewußtwerden?

 

Es wäre ein vergebliches Bemühen, wollte man einem Blindgeborenen den Begriff der Farbe, wollte man ihm den Unterschied zwischen rot und blau beibringen: geradeso wie es ein vergebliches Bemühen wäre, einem Taubgeborenen das beizubringen, was wir Musik nennen. Der Begriff der Farbe existiert nicht im Weltbild des Blinden, geradeso wie der Begriff des Tones im Weltbild des Tauben nicht existiert, und so können wir sagen, daß es ohne Auge keine Welt des Sehbaren gibt und ohne Ohr keine Welt der Töne, ohne Nase keine Welt der Gerüche und ohne Zunge keine Welt des Schmeckbaren usw. Erst das auf Grund der Sinnesorgane entstehende Bewußtsein, das Sehbewußtsein, das Hörbewußtsein, das Riech-, Schmeck-, Tast- und Denkbewußtsein schafft unsere Welt, die es ohne Bewußtsein gar nicht geben könnte.

 

Was für uns wirklich und real ist, ist nur unter der Voraussetzung des entsprechenden Bewußtseins wirklich und real, ohne welche Voraussetzung es eben nicht wäre.

 

„Aber es gibt doch Dinge", hören wir sagen, „die als solche gar nicht abgestritten werden können und die auch ohne Bewußtsein einfach da sind, wie Berge, Meere, Häuser, Bäume, Menschen, Tiere usw."

Dieser scheinbar höchst vernünftige Einwand entpuppt sich aber bei näherer Betrachtung als ein sehr oberflächlicher, denn er übersieht ganz einfach, daß alle diese Komponenten des Weltbildes nur in unserem Bewußtsein sich zu dem gestalten, als was sie uns erscheinen.

 

Auch das „Süße" ist ein Teil der Welt und sogar ein sehr realer, aber erst im Geschmacks-Bewußtsein gelangt es zur Existenz, ohne das es überhaupt nicht da und nicht wirklich wäre. Genau gleich verhält es sich bei den Formen und Farben, bei den Tönen und Gerüchen, bei dem Tastbaren und Denkbaren.

 

Wie relativ wirklich alles ist, was unter Welt oder Teil derselben verstanden wird, ersehen wir am Beispiel eines gewöhnlichen Baumes. Wir können einen Baum suchen und untersuchen solange und soviel wir wollen, wir finden niemals „den Baum", sondern nur Holz und Blätter und Rinde usw. Suchen und untersuchen wir das Holz, die Blätter, die Rinde, so finden wir auch da nichts „an sich", sondern bloß physikalische und chemische Komponenten. Wir können auch diese auf ihr Wesenhaftes hin untersuchen, müssen aber dabei feststellen, daß wir nie zu einem Ende, einem Letzten und Absoluten kommen können, weil sich schließlich alles in bloße Begriffe verflüchtigt, die im Denken auslöschbar sind. Die Realität des Baumes als solcher ist also ganz und gar hypothetisch, denn es kann darüber keine Zweifel geben, daß das, was wir „Baum" nennen, nur in unserem Bewußtsein und nur für uns Menschen ein Baum ist. Was aber dieses Ding, das wir Baum nennen, in nichtmenschlichen oder außermenschlichen Bereichen sein mag und sein kann, das wissen wir nicht. Nur im menschlichen Bewußtsein formt sich der Stamm, die Wurzeln, die Äste und Blätter, in ihrem typischen Zusammenwirken, zum Begriff „Baum".

Wie könnte aber ein Baum da sein, wenn es dieses Bewußtsein nicht gäbe? Also steht und fällt das, was wir Baum nennen, mit dem menschlichen Bewußtsein.

 

Um die Abhängigkeit der Welt vom Bewußtsein noch besser zu beleuchten, überlegen wir uns einmal, daß es nicht nur verschiedene Arten von Bewußtsein gibt, wie Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast- und Denkbewußtsein, sondern daß es auch Unterschiede dem Grade und der Intensität nach gibt. Das bloß vitale Bewußtsein einer Pflanze, das vielleicht nur auf Licht und Schatten, auf Wärme und Kälte reagiert, ist dem Grad und der Intensität nach verschieden vom Bewußtsein des Tieres, das bei höheren Spezien schon eine große Differenzierung aufweist. Weit darüber hinaus geht das Bewußtsein des Menschen, und wenn wir uns nicht in den Glauben versteifen, daß der Mensch überhaupt das Höchste und Letzte in den Lebensbereichen verkörpert, so können wir auch ein Bewußtsein auf übermenschlichen Daseins-Ebenen nicht verneinen.

 

Der sogenannte Horizont eines Wesens hängt ab vom Erlebniswert seines Bewußtseins. Je differenzierter dasselbe ist, je mehr gesammelte und verarbeitete Erfahrungen ihm zugrunde liegen, desto größer ist sein Aktionsradius und desto vielgestaltiger und reicher ist seine Welt. Das sehen wir am besten bei der Bewußtwerdung eines Kunstwerkes.

 

In welchem Bewußtsein wird das Kunstwerk als solches zum Erlebnis, wird es existent und wirklich? Wo entsteht z.B. das Erlebnis „Venus von Milo"? Wie kann das was RAFFAEL geschaffen, lebendig werden? Wann klingt BEETHOVENS „Neunte" wirklich und spricht zu Herz und Gemüt? Und GOETHES „Faust"? Was ist das schon, wenn es nicht gelesen und somit nicht bewußt wird?

 

Daß in Hinsicht auf den Begriff „Kunstwerk" weder das Bewußtsein der Pflanze, noch das des Tieres in Betracht kommen können, liegt auf der Hand, denn ohne ein auf Kunst ansprechendes Bewußtsein, und das finden wir nur beim Menschen, gibt es keine Kunst. Nur in diesem bestimmt differenzierten und gearteten Bewußtsein kann ein Kunstwerk als solches bestehen. Erst in diesem Bewußtsein wird es unter der Voraussetzung aktiver Sinnesorgane geboren, wird es zu dem, was es niemals „an sich" sein kann, eben zum Kunstwerk. Mag dasselbe materiell oder ideell sein, mag es so oder so sein, ein Kunstwerk kann es nur in einem dafür prädestinierten Bewußtsein sein, ohne dem es nicht ist. Genau gleich verhält es sich auch mit allen anderen Dingen, die wir in den Begriff „Welt", im weitesten Sinne des Wortes, einreihen.

 

Wir können uns z. B. unter „Holz an sich" gar nichts vorstellen, weil es keine Tatsächlichkeit, sondern nur ein leerer Begriff ist; wohingegen „Sehen" eine völlig reale Gegebenheit ist, die wir als ein Unmittelbarstes erleben. Auch „Hören" ist ein Unmittelbarstes und ebenso „Riechen", „Schmecken", „Tasten" und „Denken". Alle diese Sinnesfunktionen sind unmittelbare Realität. Ebenso ist der Wille und das Bewußtsein, sind Gier, Haß, Liebe, Wahrnehmung, Empfindung usw. unmittelbar real; wohingegen Begriffe wie Haus, Baum, Berg, Wald, Mensch, Tier, Wagen usw. als nichtreal anzusprechen sind, da sie als bloße Erscheinungen nicht erlebt werden können.

 

Wirklichkeit kann also nur dort sein, wo Bewußtsein ist und da es nur eine Wirklichkeit gibt, die des Erlebens, so ist in jedem Falle der Welt Anfang und Ende nicht außerhalb, sondern in uns zu suchen.


DIE PERSÖNLICHKEIT

 

Wenn die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt aller jener Meinungen und Ansichten, Hypothesen und Annahmen, die Wissenschaft und Glaube als Lösung und Beantwortung der letzten und höchsten Probleme hinsichtlich des Lebens und Sterbens vorbringen, gestellt wird, so ist wohl ohne weiteres zuzugeben, daß manches davon reich an Wirklichkeitsgehalt ist, in vielem aber kaum eine Spur davon gefunden werden kann. Solange wir uns aber nicht ganz und gar darüber im Klaren sind, was wir unter Wirklichkeit zu verstehen haben, wäre es verfrüht, darüber endgültige Urteile abzugeben.

 

Können wir überhaupt wissen, was Wirklichkeit ist? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es kommt ganz darauf an, in welcher Hinsicht diese Frage gestellt wird.

 

Wir wissen z. B., daß unsere gute, alte Erde auf einer bestimmten Bahn in einer bestimmten Zeit um die Sonne kreist, d. h. wir kennen ihre Bewegung im Sonnen-System. Weiter wissen wir auch, daß dieses System als Ganzes sich in einem anderen, weitaus mächtigeren bewegt. Wenn wir nun nach der wirklichen Bewegung der Erde im Raum fragen, so finden wir darauf keine Antwort mehr, zum mindesten sind wir diesbezüglich unsicher geworden. Es hindert uns aber nichts, nach weiteren, größeren und mächtigeren Systemen im unendlichen Raum zu fragen, die in ihrer Bewegung ähnlich der der Erde um die Sonne sind. In Ansehung dieser Möglichkeiten und Gegebenheiten wird aber die Frage nach der wirklichen Bewegung der Erde zu einem unlösbaren Problem und wir erkennen, daß wir mit solcherlei Betrachtungen nie zu einem Wirklichen kommen können.

 

Wenn wir irgend ein Materielles, irgend einen Stoff analysieren, so gelangen wir so weit wie die dazu notwendigen technischen Hilfsmittel reichen. Darüber hinaus können wir auch noch durch Berechnungen und Schlüsse zu allerlei Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten gelangen, zu Annahmen, die so, aber auch anders sein können, und schließlich verflüchtigt sich alles, wie schon einmal erwähnt, zu bloßen Begriffen, die mit dem sie tragenden Bewußtsein erlöschen. Es verbleibt also zur Durchschauung der Wirklichkeit nur der dritte Weg, der des Erlebens.

 

Mit einem Stück Zucker im Munde wird uns die Wirklichkeit des Süßen unmittelbar bewußt, denn wir erleben es, und alles weitere Fragen hinsichtlich des Begriffes „süß" erübrigt sich. Richten wir unser Augenmerk auf eine Form oder Farbe, so gewinnen wir ein lebendiges und unmittelbares Bild davon, und dieses Erlebnis ist Wirklichkeit. Riechen wir den Duft einer Rose, so kann uns nichts in der Überzeugung stören, daß dieser Geruch ein angenehmer, wohltuender ist und die Wirklichkeit dieses Angenehmen und Wohltuenden ist über jeden Zweifel erhaben. Genau so verhält es sich mit den Erlebnissen auf Grund der anderen Sinnesorgane, die alle als Erlebens-Vermittler angesehen werden können.

 

Es gibt aber auch Freude und Leid, Vergnügen und Kummer, Lust und Schmerz, Erregung und Gleichmut, Haß und Liebe usw. Auch dies sind Erlebnisse und infolgedessen Wirklichkeiten die nicht weiter untersuchbar, aber auch nicht wegdisputierbar sind. Es sind unmittelbare Bewußtseins-Zustände, die in ihrer Gesamtheit Welt und Leben als Ganzes ausmachen.

 

Fragen wir also nach der Wirklichkeit, so hat diese Frage nur dann einen Sinn, wenn sie sich auf Erlebbares bezieht, und erlebbar ist im Grunde genommen die ganze Welt.

 

Was wissen wir von den Dingen, die von außen an uns herankommen? Nicht mehr als das, was die Sinnesorgane aufzunehmen vermögen. Das kann sehr wenig sein, es kann aber auch alles sein.

 

Wir haben bereits im vorigen Kapitel am Beispiel des Baumes die Schwierigkeiten erkannt, die sich dem entgegenstellen, der ein „Ding an sich", das ein absolut Unbedingtes sein müßte, zu suchen beabsichtigt, und wir haben gleichzeitig auch die Unmöglichkeit erkannt, ein solches zu finden, da Wirklichkeit immer bedingt ist und daher ein Unbedingtes nie Wirklichkeit sein kann.

 

Was wir hingegen durch und durch kennen, das ist die Freud- und Leid-Empfindung, das sind Liebe und Haß, das sind die emotionalen Zustände überhaupt, das sind die Resultate, die sich aus dem Zusammenwirken des Sehorganes, des Auges, mit dem Sehbaren oder den Sehobjekten ergeben; die sich aus dem Zusammenwirken des Ohres mit den Hörobjekten, der Zunge mit den Geschmacksobjekten, der Nase mit den Riechobjekten, der Tastorgane mit den Tastobjekten und des Denkorganes mit den Denkobjekten ergeben.

 

Zugegeben, wir befinden uns da auf einem etwas ungewöhnlichen Betrachtungs-Niveau. Ungewöhnlich deshalb, weil der Standpunkt, von dem aus wir die Dinge ansehen, verschieden ist sowohl vom Standpunkt der Wissenschaft, wie von dem des Glaubens. Der eine basiert hauptsächlich auf dem bloß Rationalen, der andere auf Erdachtem und Angenommenem. Für uns aber handelt es sich darum, jenen Boden zu gewinnen, der als ein unumstößliches Fundament allem weiteren zu dienen hat. Wir haben vorerst all das festzuhalten, was völlig unbezweifelbar ist und darum dürfen wir uns nicht auf Annahmen und Hypothesen einlassen.

 

Nach all dem bisher Gesagten können wir nun wohl die Frage nach dem aufwerfen, was wir als Menschen, als Persönlichkeiten, im Grunde genommen eigentlich sind.

 

Der Glaube verlangt von uns die Überzeugung, daß wir Kinder und Ebenbilder Gottes sind. Die Wissenschaft versucht uns klar zu machen, daß wir uns als die von den Eltern herstammende Erbmasse zu betrachten haben. Da uns weder die eine noch die andere Version restlos zu befriedigen vermag, gehen wir eben den dritten Weg, den Weg des Erlebnisses, der uns die Aufhellung dieses Problems bringen wird. Dabei können wir auf alle Theorien und Hypothesen, Meinungen, Ansichten und Glaubenspostulate verzichten.

 

Was jeder Mensch am besten und unmittelbarsten kennt oder zu kennen vermeint, ist seine Persönlichkeit. Da scheint es im einzelnen und bestimmten Falle gar keine Zweifel darüber zu geben, daß ich so und so bin, daß ich dies und das bin, daß ich von einer besonderen und bestimmten Art bin, daß meine Neigungen und Tendenzen diese und jene Richtung haben, und daß ich vor allem überhaupt als Persönlichkeit existiere.

 

Wie GOETHE einmal sagte, ist die Persönlichkeit „das höchste Glück der Erdenkinder"; im Lichte der Wirklichkeit aber verblaßt dieses Glück.

 

Nun gibt es da tausenderlei Fragen nach den anatomischen, biologischen und psychologischen Gegebenheiten unserer körperlich-geistigen Erscheinung und es wäre kein Ende abzusehen, wollten wir uns auf alle diese Fragen einlassen. Jedenfalls würden wir dabei nicht weiterkommen als bis dahin, wo Wissenschaft und Glaube heute stehen. Wir haben aber ein viel größeres und weitergestecktes Ziel im Auge, wir wollen nicht mehr und nicht weniger als volle Klarheit und Gewißheit, nicht nur hinsichtlich unserer Persönlichkeit als Erscheinung, sondern auch hinsichtlich ihres „Woher" und „Wohin".

 

Wenn wir nun die ungeheuer komplizierte, materielle Beschaffenheit unseres Körpers auf die denkbar einfachsten, sozusagen axiomatischen Gegebenheiten zurückführen, auf Gegebenheiten, die überhaupt nicht weiter analysierbar sind, so kommen wir auf vier sogenannte Grund-Elemente, auf das Feste, das Flüssige, das Feurige und das Windige, oder mehr symbolhaft ausgedrückt, auf Erde, Wasser, Feuer und Luft.

 

Was diese Elemente „an sich" sein mögen, interessiert uns nicht, weil eine diesbezügliche Frage gar nicht beantwortbar wäre, und dann auch, weil eine angenommen mögliche Antwort nichts zur Tatsache der unmittelbaren Gegebenheit dieser vier Elemente beizutragen hätte.

 

Wir können natürlich das Feste oder Erdhafte näher bezeichnen als Knochen, Fleisch, Haut, Sehnen, Herz, Lungen, Nieren, Leber usw. Unter Flüssigem verstehen wir das Blut und die Säfte, unter Feurigem die körperliche Wärme, die sich aus dem Lebens-Prozeß ergibt, und unter dem Windigen alles das, was im Körper als luftartig, als Gase, Dämpfe, Dünste usw. zu finden ist.

 

Für unsere Zwecke ist es überflüssig, in die Details der Körperlichkeit näher einzudringen, denn es genügt uns zu wissen, daß die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft restlos alles umfassen, was uns als Körperlichkeit erscheint, d. h. was wir als Körperlichkeit erleben, oder noch zutreffender, was sich als Körperlichkeit und körperliche Organe erlebt.

 

Ein noch allgemeinerer Begriff für das Körperliche ist der Begriff der Form. Alles Geformte ist körperlich, oder alles Körperliche ist geformt. Dieser Begriff „Form" umfaßt die eine Seite unserer menschlichen Erscheinung, die materielle. Die andere Seite besteht aus jenem großen und vielseitigen Komplex, den wir mit dem Begriff des „Geistigen" umfassen und dem alle psychischen und emotionalen Erscheinungen zugehören.

 

In diesem Komplex des Geistigen unterscheiden wir vorerst all das, was wir als Empfindung kennen, denn vor allem anderen Geistigen ist die Empfindung da. Sie ist die erste und für alles weitere grundlegende Regung des Lebens, ohne die keine geistigen Reaktionen möglich wären. Wir empfinden durch unser Sehorgan, das Auge, Dunkelheit und Licht, wir empfinden Farben und Formen usw., kurz, wir empfinden das Sehbare. In gleicher Weise wird vermittelst des Ohres das Hörbare, Lärm und Ruhe, Geräusche der verschiedensten Art, harmonische und disharmonische Klänge, menschliche und tierische Laute usw. empfunden. Wir empfinden vermittelst der Nase die Verschiedenartigkeit der Gerüche, vermittelst der Zunge die zahllosen Varianten des Schmeckbaren, vermittelst der Tastorgane die Weichheit oder Härte eines Tastobjektes, seine Temperatur, seine Struktur, seine Rauhheit oder Glätte, die Art seiner Form usw., und vermittelst unseres Denkorganes, des Gehirns, empfinden wir das Denk- und Vorstellbare in seiner unendlichen Vielfalt und Vielgestaltigkeit. Wir empfinden aber auch mit dem Herzen. Wir empfinden Freude und Leid, Lust und Schmerz, Gleichgültigkeit und Interesse, wir empfinden alle nur denkbaren Nuancen emotionaler Zustände, kurz, wir empfinden das Erlebbare überhaupt. Wir erkennen nun auch, daß ohne diesen Empfindungs-Komplex unser Leben gar nicht denkbar wäre und damit auch nicht unsere Persönlichkeit. Also ist neben der Körperlichkeit die Empfindung ein integrierender Bestandteil dessen, was wir als Mensch, als Persönlichkeit bezeichnen. Viele Empfindungen, vielleicht die meisten, gelangen aber nicht über die Schwelle des Bewußtseins und verbleiben in einem Stadium dunkler, vager Vorstellungen. Die lebenswichtigen Empfindungen aber werden bewußt wahrgenommen und klar erfaßt. Der Vorgang der Wahrnehmung entspricht dem Aufnehmen und Betrachten eines Gegenstandes hinsichtlich seiner Zugehörigkeit, seines Wertes, seiner Brauchbarkeit usw. Wir haben also unter Wahrnehmung die urteilende Auffassung, die Apperzeption zu verstehen, die verschieden ist von dem, was wir als bloßes Haben von Empfindungen erkennen. So ist es also die Wahrnehmung, die von der dumpfen Empfindung „farbig" zum klaren Begriff „blau" oder „rot" usw. führt. Die Wahrnehmung ist es, die Sehbares, Hörbares, Riechbares, Schmeckbares, Tastbares und Denkbares in den Bereich des bewußten Erlebens emporhebt und so lebendig werden läßt. Ohne Wahrnehmung wäre das Leben nicht Leben und der Mensch nicht Mensch, und darum ist der Gesamt-Komplex der Wahrnehmungen ein ebenso integrierender Bestandteil unserer Persönlichkeit, wie der der Körperlichkeit und der Empfindung.

 

Wir sind aber noch nicht am Schlusse der Aufzählung alles dessen, was die Persönlichkeit als solche zum Ganzen formt. Eine der wichtigsten Persönlichkeits-Faktoren ist die Gestaltung. Es gibt körperliche, sprachliche und geistige Gestaltungen und besonders die letzteren sind es, die uns hier besonders interessieren.

 

Mit dem Begriff „geistige Gestaltungen" umfassen wir die gesamte willentliche Aktivität der Persönlichkeits-Erscheinung, den Willen als solchen, die Gemütstätigkeiten, die bewußten Sinnesprozesse, die Vorstellungen, alle Äußerungen des Denkens und Wollens überhaupt, alle Erwägungen, Überlegungen, Betrachtungen, Entschlüsse willkürlicher und unwillkürlicher Art, kurz, die aktive innere Welt im Sinne von SCHOPENHAUER’s „Welt als Wille", wenn auch nicht mit der Bedeutung des Willens als des „Dinges an sich", sondern bloß als eines Faktors, einer Formation, eines Teiles jenes Erlebnis-Komplexes, den wir als geistiges Werden im weitesten Sinne des Wortes anzusprechen haben.

 

Diese Gestaltungen sind es, die die Welt in uns formen, die uns selber zur Welt formen, zum Leben, zum lebendigen Wirken, das sich als Wirklichkeit erlebt.

 

Körperlichkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen sind Teile eines Ganzen, das ohne die Gestaltungen nicht denkbar wäre.

 

Als krönender Abschluß unseres Persönlichkeits-Baues aber wirkt das Bewußtsein, das im allgemeinen als das jeweilige Produkt der physiologischen Vorgänge unseres Körpers, und im besonderen als das Produkt der funktionierenden Sinnesorgane betrachtet werden muß. Wir können es vergleichen mit einem Scheinwerfer, der alle in seinen Bereich kommenden Dinge hell bestrahlt, weiter Entferntes nur schwach beleuchtet und noch weiter Entferntes so in eine Art Reflexlicht taucht, wodurch es unklar und verschwommen erscheint.

 

Die primären Voraussetzungen des Bewußtseins sind die wirkenden Sinnesorgane und ihre Objekte.

 

Trifft unser Auge auf eine Form, eine Farbe, kurz, auf ein Sehbares, so wird uns dieses Ding bewußt und wir können sagen, daß im Momente des Zusammentreffens von Auge und Sehobjekt das Seh-Bewußtsein aufflammt und im Lichte dieses Aufflammens spielt sich der eigentliche Vorgang des Erkennens ab. Trifft das Ohr auf einen Ton, besser gesagt, kommt unser Hörorgan mit ihm entsprechenden Schwingungen in Berührung, so wird uns diese Berührung bewußt und wir können sagen, daß im Momente des Zusammentreffens von Ohr und Hörobjekt das Hör-Bewußtsein aufflammt und damit der Vorgang des entsprechenden Erkennens. Bei der Berührung der Nase mit Riechbarem, der Zunge mit Schmeckbarem, des Körpers mit Tastbarem und des Denkorgans mit Denkbarem, flammt jeweils das entsprechende Bewußtsein auf und beleuchtet den Gegenstand oder den Vorgang.

 

So ist das Bewußtsein der eigentliche Brennpunkt alles Geschehens und aller Dinge; es ist der Brennpunkt des Lebens und damit der Welt überhaupt. Nur das, was im Bewußtsein ist, ist wirklich, außerhalb des Bewußtseins gibt es keine Welt.

 

Alle irgendwie erkennbaren oder denkbaren Komponenten unserer Persönlichkeit lassen sich auf eine der fünf genannten zurückführen, denn der Begriff „Körperlichkeit" umfaßt alles Formhafte überhaupt, der Begriff „Empfindung" alles überhaupt Empfindbare, der Begriff „Wahrnehmung" alle Wahrnehmungsvorgänge, der Begriff „Gestaltungen" alles sich irgendwie Gestaltende und der Begriff „Bewußtsein" alle Formen der Bewußtwerdung. Die vier letzteren Komponenten können gesamthaft als Geist bezeichnet werden. Die Mannigfaltigkeit innerhalb der einzelnen Persönlichkeits-Komponenten legt nahe, dieselben als Gruppen bestimmter Gegebenheiten anzusehen, so daß wir da eine Gruppe des Körperlichen haben, eine Gruppe der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der Gestaltungen und eine solche des Bewußtseins, gesamthaft die Persönlichkeits-Gruppen.

 

Im bestimmten und bedingten Zusammenwirken dieser Gruppen erschöpft sich völlig, was wir als Persönlichkeit erkennen und erleben, und es ist weder etwas denkbar noch vorstellbar, was außerhalb ihrer noch als zum Gesamt-Komplex gehörig angenommen werden könnte.

 

Wir erleben diesen Gesamt-Komplex von Erscheinungen, den wir Persönlichkeit nennen, zu jeder Zeit voll und ganz und nehmen gerne an, daß er konstant sei. Diese Annahme ist aber offensichtlich ein Irrtum, denn nicht einmal für die Zeiteinheit einer Sekunde, oder eines Bruchteiles davon, sind wir konstant. Daß sich unsere Körperlichkeit pausenlos verändert, daß kein Blutkörperchen an seinem Orte bleibt, daß infolge der Nahrungsaufnahme und Verdauung das Material des Körpers sich ständig erneuert, daß die Atmung ein fortwährendes Austauschen von lebenswichtigen Stoffen bedeutet usw., das wissen wir wohl, aber wir beachten es meistens zu wenig. Daß die Empfindungen ununterbrochen wechseln, daß die Wahrnehmungen blitzartig einander folgen und die Gestaltungen und das Bewußtsein sich in unvorstellbar kurzen Zeiträumen verändern, das erleben wir ja ununterbrochen und wissen es auch, aber wir ziehen daraus nicht die letzten und notwendigen Konsequenzen.

 

Reihen wir nun diesen Gesamt-Komplex, der sich da auch in kleinster Zeiteinheit als Persönlichkeit erlebt, in die Kette vorausgegangener und nachfolgender Zeiteinheiten ein, so ergibt sich das kontinuierlich erscheinende Bild, das wir als Mensch ansprechen. In Wirklichkeit ist aber da nichts anderes als Werden und Wirken, als Entstehen und Vergehen. Es gibt da kein „Sein", sondern nur „Werden", denn in keinem Momente sind wir absolut gleich wie im vorausgegangenen oder im zukünftigen.

 

Betrachten wir den Körper, wie er sich von der Geburt bis zum Tode ständig verändert, wie sich die Nahrung in ihm assimiliert und wie seine Struktur sich dadurch ständig erneuert, wie er wächst und verfällt, an Kräften zu- und abnimmt, an Spannungen gewinnt und verliert, wie er gesund und krank ist, jung und alt, klein und groß, wie er ruht und sich bewegt, hungrig und satt ist usw., dann wird es uns unmöglich, hinsichtlich dieses Körpers von einer Dauer oder Beständigkeit zu sprechen.

 

Noch weniger ist uns dies möglich hinsichtlich der geistigen Persönlichkeits-Komponenten, der Empfindungen, Wahrnehmungen, Gestaltungen und des Bewußtseins, da hier der Aktionsverlauf ein weit schnelleres Tempo innehat als bei dem der Körperlichkeit.

 

Wir finden nichts, was da auf ein Bleibendes, Dauerndes, Ewiges hindeuten könnte, und wenn wir dieses Nichtfinden auf eine etwaige Unzulänglichkeit unseres Erkenntnisvermögens zurückführen möchten, so müßte da eingewendet werden, daß die eventuelle Aufhebung einer solchen Unzulänglichkeit gleichbedeutend wäre mit der Aufhebung unserer Persönlichkeit überhaupt; denn die hier in Frage kommende Unzulänglichkeit wäre im Grunde genommen nichts anderes als die Annahme, daß z. B. das Sehbare als solches, also Formen und Farben nicht das sind, als was sie uns erscheinen, sondern etwas anderes, Unbekanntes und Unerfaßbares, was zugleich heißen würde, daß die Leistung des Auges nicht dem entspricht, was es leisten könnte, wenn es ein „absolutes" Auge wäre. Es dreht sich hier nicht um die Erweiterung des materiellen Sehens, sondern um die Frage, ob es einen Sinn hat, dem Auge im Transzendenten liegende Funktionen so quasi als eine Möglichkeit zuzubilligen. Eine Transzendenz könnte aber auf alle Fälle nur jenseits des Objekt-Begriffes gedacht werden, da aber das Auge, im Sinne des Sehens überhaupt, und das Seh-Objekt sich gegenseitig bedingen, so steht und fällt mit dem Seh-Objekt auch das Auge, resp. das Sehen. Mit anderen Worten: Wenn wir annehmen und mit Recht auch annehmen können, daß es Formen und Farben gibt, die dem Auge nicht mehr erkennbar sind, weil ihre Lichtschwingungen das Fassungsvermögen des Auges übersteigen, so würde das Auge, auch wenn sein Fassungsvermögen ins Endlose erweitert würde, trotzdem nichts anderes als Formen und Farben sehen, da es etwas anderes für dasselbe ja gar nicht geben kann. Von einer Unzulänglichkeit könnte hier also nur im materiellen Sinne gesprochen werden, niemals aber von einer Unzulänglichkeit des Sehens „an sich". Genau so verhält es sich bei dem Hörbaren, dem Riechbaren, Schmeckbaren, Tastbaren und Denkbaren, oder beim Ohr, der Nase, der Zunge, dem Körper und dem Denkorgan. So kann also wohl von einer Unzulänglichkeit unseres Erkenntnisvermögens im materiellen Sinne, niemals aber von einer Unzulänglichkeit desselben „an sich" gesprochen werden. Natürlich käme einer Erweiterung unseres Erkenntnisvermögens auch eine Erweiterung der Welt gleich, aber es würde nie zu einer Aufhebung oder totalen Veränderung dessen führen, was wir als Welt erleben, da wir diese Welt ja letzten Endes selber sind.

 

Auch für ein sogenanntes überweltliches Auge gibt es nichts anderes als Sehbares, und für ein überweltliches Ohr nichts anderes als Hörbares usw., und so erkennen wir, daß es nichts als ein Gedankenspiel ist, wenn wir über die Welt in eine Transzendenz hinauszudenken versuchen, da ja alles, was wir erkennen könnten, im Momente des Erkennens zur Welt im eigentlichsten Sinne des Wortes werden muß. Darum sind alle Versuche eines transzendentalen Ausblickes, eines Vorstoßes in ein der Welt Jenseitiges, so hoffnungslos unfruchtbar. Es sind reine Glaubensvorgänge, die nie etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben können und darum sind sie auch völlig entbehrlich und überflüssig, ja im höchsten Sinne sind sie geradezu schädlich.

 

Wir stehen also vor der Tatsache, daß jeder Einzelne als Persönlichkeit, als Mensch, nicht ist, sondern wird. Niemand bildet einen festen Status im Weltengetriebe; alles erschöpft sich im steten Sich-wandeln.

 

Damit haben wir einen Standpunkt gewonnen, von dem aus die Zusammenhänge alles Geschehens, die Probleme des Lebens und Todes, in einem ganz anderen Lichte erscheinen, als wenn die Persönlichkeit als Mittelpunkt und „Ding an sich" genommen wird.

 

Da wir mit dem besten Willen weder in uns noch außer uns etwas Bleibendes zu entdecken vermögen, führt uns die unumstößliche Tatsache der Vergänglichkeit alles Gewordenen, so auch unserer eigenen Persönlichkeit, zu einem völligen Umdenken in Hinsicht auf Sinn und Zweck des Daseins und Soseins; es führt zu einer Zielsetzung, die ihre Basis weder im Glauben noch in der Wissenschaft hat, sondern ausschließlich und allein im Erlebnis der Wirklichkeit. Mit dieser Zielsetzung werden wir uns noch eingehend zu befassen haben.

 

Unter dem Begriff der Persönlichkeit fassen wir also die Persönlichkeits-Gruppen und ihr kausal-bedingtes Ineinanderwirken zusammen. Auf die kausale Bedingtheit, die zugleich die Antwort auf das „Warum" der Persönlichkeit umschließt, werden wir im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen noch zurückkommen.


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