WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

II.A.4. Abstehen von Lüge und Verleumdung

 

Es ist so leicht und einfach, sich mit einer Unwahrheit, mag sie groß oder klein sein, aus einer Situation herauszuwinden, in die man sich selber, vielleicht auch wiederum durch eine Unwahrheit, gebracht hat, oder die einem sonstwie ungelegen kommt und nicht paßt; sei es, daß sie Unannehmlichkeiten zur Folge haben könnte, oder daß man gerne in einem besseren Lichte dastehen möchte, als es eigentlich sein müßte, oder daß dies oder jenes erreicht werden soll, was auf dem geraden Wege der Wahrheit nicht im gewünschten Maße oder überhaupt nicht erreichbar wäre.

 

Was kann da schon an einer kleinen Unwahrheit liegen? Niemand stirbt daran, und wieviel Unangenehmes läßt sich damit doch schnell und bequem vom Halse halten; wie leicht läßt sich damit glänzen, und so ein bißchen bewundert werden auf Kosten der Wahrheit, das schmeichelt. Aber oft und oft wird die Lüge gar nicht als das erkannt, was sie wirklich ist: ein ausgesprochener Betrug im wahrsten Sinne des Wortes. Mag sie groß sein oder klein, sie erweckt irrige Vorstellungen, falsche Meinungen, unrichtige Bilder und sie gibt Veranlassung zu falschem Handeln. Damit schadet sie. Sie schadet nicht nur dem Belogenen, sondern geradeso auch dem Lügner selber, denn er vergißt beim Lügen, daß er sich damit eine Last aufbürdet, die immer schwerer und schwerer wird, und er verkennt das Risiko, dem er sich aussetzt, wenn ihm überhaupt an der Achtung der Mitmenschen etwas gelegen ist. Um eine Lüge zu stützen braucht es eine zweite, und wo zwei Lügen sind, werden ihrer vier notwendig sein, dann acht, sechzehn usw., bis sich schließlich alles in einem unentwirrbaren Lügengewebe verstrickt, dem dann eine beschämende und peinliche Bloßstellung folgen muß.

 

Es ist unmöglich, ein auch noch so raffiniert aufgebautes Lügengewebe dauernd halten und stützen zu können, weil es als solches den tatsächlichen Gegebenheiten widerspricht und daher unfehlbar früher oder später durchschaut werden muß. Ein Mensch, der bewußt lügt, kann nie völlig zuverlässig sein, denn er wird bei Gelegenheit wieder lügen. Von ihm heißt es: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht." Wer einmal als Lügner erkannt wurde, genießt kein Vertrauen mehr, und wer kein Vertrauen mehr genießt, der zählt nicht mehr zu den rechtschaffenen Menschen, der ist nicht nur überflüssig geworden, sondern er bildet als Schädling geradezu einen Hemmschuh im Ablauf der natürlichen Geschehnisse und wird deshalb gemieden.

 

Lügen ist ein willkürliches Eingreifen in den kausalen Ablauf der Dinge und infolgedessen eine sinn- und zwecklose Handlung, da dieser Ablauf sich niemals auf die Dauer willkürlich verändern läßt. Nur was wahr ist, kann sich behaupten, wohingegen die Lüge immer wieder ihren Boden verliert und zusammenstürzt. Sie mag vielleicht für eine gewisse Zeit alles mögliche zudecken, was eben zudeckungswürdig und zudeckungsreif ist, aber umso schlimmer ist dann die Bloßlegung, wenn unter dem Schutz der Lügendecke das Versteckte und Verborgene mehr und mehr in Fäulnis übergegangen ist.

 

„Offen wie die Ebene ist das Tier und heimlich wie die Höhle ist der Mensch." Dieses Wort des BUDDHA ist ganz besonders zutreffend in Hinsicht auf den Menschen, der lügt. Die Lüge will verbergen, will täuschen, will irreführen, will Falsches für Rechtes ausgeben und Rechtes für Falsches; sie steht als Stein des Anstoßes auf dem Pfade der Wahrheit und Wirklichkeit, sie hemmt und blendet, sie täuscht und verführt, sie spielt mit dem Vertrauen, mit der Ehrlichkeit, mit der Zuneigung und mit dem guten Willen.

 

Auf dem Boden der Lüge wachsen keine Blumen, weder Gutes noch Schönes. Ein Gifthauch schwebt darüber, der nichts aufkommen läßt, was nach Licht und Sonne, nach Wahrheit und Erkenntnis strebt.

 

Ganze Völker wurden und werden „im Interesse ihres Wohlergehens" von ihren Führern und Beherrschern belogen und betrogen, und wer solche Lügen damit rechtfertigen wollte, daß sie „in einem höheren Sinne", auf „weite Sicht", im „Interesse der Gesamtheit" eben notwendig sind, der täuscht sich selber und täuscht die anderen, denn Betrug bleibt Betrug, sowohl im Großen wie im Kleinen, und kann als solcher nie zu wahrem Wohlsein und Glück führen.

 

Denken wir an das erschütternde Bekenntnis des Großinquisitors in DOSTOJEWSKI’s einzigartigem Roman „Die Brüder Karamasoff", wo er zu Ihm von den Schwachen unter den Menschen spricht:

 

„Sie werden sich über uns wundern und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, eingewilligt haben, die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, die ihnen solche Furcht einflößt, und weil wir einwilligen, über sie zu herrschen, - ja so furchtbar wird es ihnen zum Schluß werden, frei zu sein! Wir aber werden sagen, wir gehorchten Dir und herrschten nur in Deinem Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen. Und in diesem Betruge wird unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen."

Mit welchem Resultat? Angst, Schrecken, Tyrannei, die Folter und der Scheiterhaufen. Aber die Welt ist eben so beschaffen, daß es den Anschein hat, als wäre es nicht möglich, ohne Lüge zu leben, was ja auch FRIEDRICH NIETZSCHE zum Ausdruck bringt. Das spricht allerdings in keiner Weise für dieses Leben.

 

Kann aber die Lüge nicht unter gewissen Bedingungen als eine Notwendigkeit, als ein Unentbehrliches und Nicht-zu-umgehendes zu entschuldigen sein? Schafft sie nicht auch Werte, die, mögen sie hundertmal Illusion sein, zum Glück der Menschen beitragen? Kann sie nicht über Dinge hinwegtäuschen, die an sich höchst leidvoll sind, mittelst ihrer aber weniger oder nicht als das empfunden werden?

 

Nein! Das ist alles nur scheinbar, das sind alles nur Palliativ-Mittel, die nicht lindern, sondern höchstens verzögern, das sind Ausreden, Ausflüchte, Gaukeleien, Vorspiegelungen, und das damit erkaufte Glück der Illusion vergrößert im Schwinden noch das Leiden.

 

Was könnte das für ein Glück und für eine Freude sein, deren Basis die Lüge ist?

 

Nichts als Seifenblasen, die platzen, sobald sie mit der Wirklichkeit in Berührung kommen, und sie stoßen in ihrem tänzelnden Spiel, über kurz oder lang, unfehlbar mit ihr zusammen, denn die Wirklichkeit ist allgegenwärtig, unangreifbar, erhaben und mächtig, sie ist einmalig und unteilbar; wohingegen die Lüge klein und erbärmlich ist, niedrig, ohnmächtig und gemein, ein Betrugsversuch an der Wirklichkeit, der immer enttäuschen muß. Man kann sich auch selber belügen und sich selber betrügen; man kann sich selber etwas vormachen, um ein Gefühl der Ohnmacht und des Unvermögens zu unterdrücken, um sich selber das eigene Nichtwissen zu verheimlichen, um sich selber zu erhöhen und zu entschuldigen und um zu rechtfertigen, wo eher ein Bekenntnis am Platze wäre. Wir haben ein klassisches Beispiel dieser Art in jenem oft zitierten Wort aus G. E. LESSING’s „Duplik" vor uns, das lautet:

 

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"

Ein solcher Agnostizismus muß lähmend auf das Denken und auf das Streben nach Wahrheit wirken, aber er ist nichts anderes als eine Selbst-Vernebelung, deren Ursache in einem kaum bewußten Unvermögen liegen mag. Wohl kann das Streben nach Wahrheit nicht hoch genug bewertet werden, aber über dem Wert des Strebens liegt der Wert der Wahrheit. Die Wahrheit ist höchstes Gut, wie die Gesundheit höchstes Gut ist; beides will nicht nur erstrebt, sondern auch erlangt und erhalten werden. Nehmen wir einen Kranken, der vor die Wahl gestellt wurde, zu wählen zwischen dem Streben nach Gesundheit und der Gesundheit selber, so ist doch zweifellos, daß er die Gesundheit wählen würde und nicht das Streben nach ihr. Würde er anschaulich erkennen, daß für ihn die Gesundheit ein nicht zu erlangendes Gut sei, so würde sein Streben danach jeden Sinn verlieren und resignierend hätte er sich mit der Tatsache abzufinden. So hat auch LESSING’s Ausspruch, trotz der darin zum Ausdruck kommenden edlen Bescheidenheit, weder Sinn noch Wert, denn weil er das Vertrauen zur eigenen Urteilskraft und zur eigenen Einsicht untergräbt, verhindert er auch das Streben nach letzter und endgültiger Erkenntnis, das Streben nach Wahrheit.

 

Die Lüge ist gleich einer Eiterbeule am Körper der Wahrheit, unschön, schmerzvoll, vergiftend, und da wir Menschen ja nicht belogen und betrogen sein wollen und möchten, da wir die Wahrheit wollen und nicht die Lüge, da wir selber Wirklichkeit sind und nicht Illusion, darum können wir die Lüge auch nicht bejahen, denn sie ist uns selber diametral entgegengesetzt.

 

Auch die kleinen, unscheinbaren Höflichkeits-Phrasen des täglichen Verkehrs der Menschen untereinander, diese Ausreden und Entschuldigungen, diese kleinen Beschönigungen und Verdrehungen, alle diese kleinen Zweiglein und Blätter am Baume der Lüge, die so leicht gegeben und so leicht entgegengenommen werden, sie sind das, was das kleine, krabbelnde Ungeziefer im Tierreich ist. Im einzelnen mögen sie harmlos sein, aber in ihrer Gesamtheit bilden sie doch eine Macht, die gefährlich werden kann. Wenn sie einmal zur Gewohnheit geworden, dann sind sie der Humus, der den Acker der Lüge düngt, und aus diesem Acker wächst dann, langsam aber unaufhaltbar, jenes Giftkraut, das nichts als Leiden bringt. Darum soll man nicht einmal im Scherze lügen, geschweige denn im Ernst.

 

Wer nach Sittlichkeit strebt, der wird die Lüge in jeder Form meiden, denn sie beschmutzt. Der Mensch aber soll rein sein.

 

Als Schwester der Lüge erkennen wir die Verleumdung. Sie ist es, die Harmonie und Frieden in Disharmonie und Streit verwandelt. Sie hebt gute Beziehungen auf und setzt an deren Stelle Mißtrauen, Angst, Haß und Abscheu. Sie ruiniert nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen, wovon Völkerhaß und Krieg nur allzudeutlich zeugen. Sie vergiftet nicht nur die Atmosphäre einzelner gegenseitiger Beziehungen, sondern auch die ganzer Völker, und stellt somit einen jener Faktoren dar, die die Welt zur Höllenwelt stempeln.

 

Man schafft aber die Verleumdung, wie das Unsittliche überhaupt, nicht aus der Welt, indem man von ihr spricht und sie verurteilt, sondern nur, indem man sie im eigenen Denken nicht aufkommen läßt, und insofern sie trotzdem aufgekommen, sie in der Überlegung, daß sie häßlich, niedrig, gemein und also unheilsam und leidschaffend ist, zum Schweigen und zur Aufhebung bringt. Auch das ist ein Gebot der Sittlichkeit.


5. Abstehen von Berauschung

 

Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist der Geist, oder vielleicht besser: das Geistige, sein Denkvermögen, seine Vernunft, seine Urteilskraft, im allgemeinen sein Bewußtsein.

 

Wir haben den ganzen Komplex des Geistigen bereits früher in den vier Persönlichkeits-Gruppen Empfindung, Wahrnehmung, Gestaltungen und Bewußtsein zusammengefaßt. Nun dürfte wohl ohne weiteres evident sein, daß jedes Individuum, schon um der Erhaltung des Daseins willen, das größte Interesse daran hat, die geistigen Komponenten seiner Individualität möglichst ungebrochen, ungeschwächt, ungetrübt, möglichst klar und gesund zu erhalten. Nur mit einem gesunden, klaren Geist kann der Kampf ums Dasein erfolgreich geführt werden, kann ein Fortschritt im Leben erzielt werden, kann Wesentliches in Wissenschaft, Kunst, Literatur und nicht zuletzt in Hinsicht auf eine wirkliche Humanität geleistet werden, können weiterhin die menschlichen Beziehungen untereinander, sofern sie nicht durch Gier und Haß verdorben sind, zu frohen und glücklichen gestaltet werden, kann der Einzelne sich selber über das bloß Vitale, Triebhafte hinausentwickeln, wodurch er dann für jene höheren und reineren Regionen des Daseins reif wird, die glückdurchwoben sind und zu den Götterwelten gezählt werden können.

 

Man sollte es nicht für möglich halten, aber es ist doch Tatsache, daß dieser Geist, dieses kostbarste Gut, immer wieder und geradezu mutwillig durch allerlei Betäubungsmittel, speziell Alkohol und andere Narkotika, geschädigt und in Verwirrung gebracht wird, womit ein glückhaftes Schwelgen, ein wohltuendes Behagen, eine Beruhigung des brennenden Begehrens vermeintlich erreicht wird; aber daß dieses Glück und dieses Behagen viel zu teuer bezahlt werden muß, daß es nur auf Kosten der geistigen und leiblichen Gesundheit erlangt wird, daß es im Leiden wurzelt und zum Leiden führt, das wird im Momente des Genießens völlig vergessen. Und wenn noch daran gedacht wird, wenn in hellen Momenten die Einsicht durchschimmert, daß es besser wäre, in jeder Hinsicht besser, von den Berauschungsmitteln zu lassen, so ist die Gewöhnung daran meistens schon so stark geworden, daß die Kraft zu ihrer Bekämpfung nur noch schwer aufgebracht wird. Dann haben wir jene Elends- und Schreckensbilder vor uns, wie sie der im Rausche Taumelnde und Torkelnde, Schimpfende und Tobende bietet. Dann haben wir das Bild des unter das Tier gesunkenen Menschen vor uns, der als Opfer seiner Leidenschaft aller Würde bar ist. Und wer trägt die Schuld?

 

Nicht die äußeren Umstände, nicht das Drängen anderer, nicht üble Sitten und Gebräuche, nicht von außen kommende Dinge. Nein! Ausschließlich und allein der Betreffende selber, denn er erntet, was er sät.

 

Daß der Mensch durch den Genuß von Rauschmitteln geistig irgendwie vorwärts kommen könnte, daß er durch sie höhere Daseinsebenen zu erreichen imstande wäre, daß damit seine ethischen und sittlichen Qualitäten gehoben und gefördert werden könnten, kann und wird ja im Ernst niemand behaupten, ganz im Gegenteil; je mehr und je öfters Rausch- oder Betäubungsmittel eingenommen werden, desto tiefer sinkt das menschliche, das körperliche und geistige Niveau des Genießenden, desto weiter entfernt er sich von der Entropie der Leidenschaften und des Leidens, von der wir bereits früher gesprochen haben. Glück und Leidlosigkeit wollen ja alle Menschen, überhaupt alle Wesen, aber wer der Sklave seiner Sinne geworden ist, der hat sich doppelt in das Leiden verstrickt. Da ist nur noch Abwärtsgleiten und Hineinsinken in die tieferen Regionen der Leidenswelt, in noch festere Verstrickungen und Bindungen an das Leidvolle. Das Glück des Rausches und des Sinnentaumels ist nicht das Glück, das diesen Namen verdient, denn es ist ein Trugbild, eine bloße Vorspiegelung, eine Selbsttäuschung, der jeweils ein leidvolles Erwachen folgt. Nicht das kurze Befriedigtsein eines Begehrens, nicht die ephemere Lust, nicht der Sinnentaumel führt zum Glück der Leidlosigkeit, sondern die Überwindung des Begehrens und der Lust, das Abstehen von den Sinnengenüssen, das Loslassen des Objektes der Leidenschaft, das ist es, was Ruhe und Gelassenheit bringt, Frieden und wirkliches Glück.

 

Es ist nicht das Rauschmittel, das zu verurteilen ist, sondern die Berauschung, denn diese ist es, die den Menschen in den entwürdigenden Zustand versetzt, in welchem er seiner Sinne nicht mehr mächtig ist. Jede Berauschung, auch wenn sie nicht zur Gewohnheit geworden ist und nur hie und da vorkommt, schädigt. Sie schädigt nicht nur momentan, sondern wirkt sich auch schädigend in der Zukunft aus. Das Denken wird stumpfer, die Überlegungen getrübter, die daraus sich ergebenden Handlungen und Worte sind minderwertiger, sittliche Hemmungen werden geschwächt oder aufgehoben, und es ist so, daß nicht nur in diesem Leben die Folgen der Berauschung zu tragen sind, sondern auch in den Existenzen der Zukunft.

 

Berauschung schädigt in allererster Linie den Geist und führt zu Schwachsinn. So gehen wir nicht fehl, wenn wir jene unglücklichen Gestalten, jene Kretins, die mit ihren täppischen Bewegungen und blödem Lächeln ein trauriges Dasein manifestieren, als Folgeerscheinungen vorgeburtlicher Trunkenheit und Unmäßigkeit betrachten.

 

Würde sich ein solch unglückliches Geschöpf an die Ursachen seines jetzigen Elends zurückerinnern können, so würde es bestimmt den Vorsatz fassen, künftig von allen berauschenden Getränken und genüßlichen Betäubungsmitteln resp. deren Mißbrauch abzustehen.

 

Berauschung hat Leiden zur Folge und darum ist sie zu meiden. Berauschung ist unsittlich, weil sie nicht nur den Berauschten selber schädigt, sondern auch seine Mitmenschen, insoweit sie mit ihm in Verbindung stehen. Darum heißt es wachsam sein und sich im Zaume halten, wenn der Weg zur Erlösung mit Erfolg begangen werden.

 

Wer diesen Weg wirklich gehen will, der kann dies nicht tun, ohne sich in der Sittlichkeit zu üben. Er wird wenigstens die gröbsten Steine aus dem Wege räumen müssen und sich üben im Abstehen vom Töten, im Abstehen vom Nehmen nichtgegebener Dinge, im Abstehen von der Unkeuschheit, im Abstehen von Lüge und Verleumdung und im Abstehen von der Berauschung. Er wird sich vor Unmäßigkeit aller Art hüten, denn immer und überall ist der Weg der Mitte der goldene Weg, d. h. der Weg des geringsten Leidens.

 

Es gibt aber noch viele andere Dinge, die gemieden werden müssen. Welch ein Übel ist doch der Geiz! Wie häßlich ist doch der Neid! Wie bösartig die Mißgunst! Wie hemmend sind doch Faulheit und Trägheit! usw. Alle diese Eigenschaften und Unarten zeugen, dort wo sie zum Vorschein kommen, von einer Blindheit der ihnen Verfallenen, von einer völligen Verkennung des wahren Charakters des Daseins.

 

Dieses Dasein kann nicht überwunden werden durch immer wieder neue Bindungen an dasselbe, nicht durch immer wieder neue Begehrungen und Wünsche und Hoffnungen, sondern nur durch die Loslösung von allem, was ans Dasein fesselt.

 

Darum ist wahre und wirkliche Sittlichkeit immer ein Akt und ein Zustand des Überwindens und Loslassens aller jener Dinge, die zur Entfesselung der Leidenschaften führen, die den Haß und die Gier zur Folge haben und die im Wahne wurzeln.

 

Der Sittenreine ist genügsam und deshalb braucht er wenig, um ein frohes und zufriedenes Leben führen zu können.

 

Der Sittenreine steht in hohem Ansehen bei allen Verständigen und er ist überall willkommen, wohin er sich auch wenden mag.

 

Der Sittenreine ist furchtlos, innerlich gefestigt und beherrscht seine Rede, sein Denken und sein Handeln.

 

Der Sittenreine ängstigt sich nicht vor dem Tode, denn er hat nichts zu bereuen.

 

Der Sittenreine weiß, daß ihm nach seinem Tode eine glückliche Fährte winkt, ein Weilen in höheren Welten, oder wenn er als Mensch wiedererscheint, wird er in gesunden und glücklichen Verhältnissen, unter Menschen, die auf der Sonnenseite des Daseins leben, wiedergeboren werden, d. h. dort, wo Frieden und Frohsinn herrscht.

 

Der Sittenreine ist im Besitze jener vorzüglichen Bedingungen, die ein Weiterschreiten und Vorwärtskommen auf dem Pfade zur völligen Leidensüberwindung ermöglichen. Alles Sittenlose hingegen ist unheilsam, hinderlich und hemmend, denn es löst nicht, sondern es bindet und fesselt und damit schafft es immer wieder neues Leiden.

 

Man kann nicht durch Gebete, durch Waschen mit heiligen Wassern, durch Wallfahrten und Bußübungen, durch Leidens-Askese oder durch irgendwelche Zeremonien und Zaubereien sich innerlich reinigen, sich vervollkommnen und ein sittlicher Mensch werden, sondern ausschließlich und allein durch den eigenen Willensakt, durch die Ausführung des festen Entschlusses, alles Unsittliche zu meiden, durch die strenge Bewachung der Sinnestore, durch die Betrachtung des Unreinen und seine Widerwärtigkeit, durch die Mäßigung in allen Dingen, durch den Verkehr mit sittlich höherstehenden Menschen, kurz: durch das eigene Tun und Lassen. Nur so ist an einen Erfolg zu denken.

 

Eines aber gehört zur Sittlichkeit, wie der Duft zur Rose, wie der Glanz zum Golde, die reine Güte. Nicht die Liebe ist das Höchste auf dieser Erde, die ist immer Affekt-gebunden, ist Leid-schaffend, ist egoistisch und anspruchsvoll, ist wählend, sondernd, ausschließend und Besitz-heischend, sondern die Güte ist das Höchste, denn sie ist völlig rein, selbstlos, ohne Hintergedanken, völlig frei von allen Bindungen und sie beansprucht nichts. Die Güte will nichts für sich, sie will nur helfen, lindern, trösten und verstehen. Die wahre Güte umfaßt alle Wesen, alles Lebendige steht unter ihrem Schutz und sie kennt nichts anderes als die Förderung des Glückes und der Leidfreiheit.

 

Güte wächst empor aus tiefer Einsicht in das Leidvolle des Daseins, in die Leidensverstrickung der Wesen und in die Glückssehnsucht alles Lebendigen. Wo sie auftritt, weicht das Kalte, Fröstelnde, Unbehagliche, das Niedrige und Gemeine, denn sie durchstrahlt die Herzen mit den wärmenden Strahlen des Wohlwollens, sie gibt Zuversicht und Vertrauen, Milde und Beruhigung, Hoffnung und Gerechtigkeit; sie hemmt den Zorn und den Haß und sie spornt an zur Humanität, zu barmherziger Tat, zu beglückender Rede und zu erfreuenden Gedanken.

 

Den Nächsten zu lieben wie sich selbst, gilt allgemein als ein ethisches Postulat, das in seinem Wert nur noch von dem „Liebe deine Feinde!" übertroffen wird. Bereits im ältesten Indien, also schon vor Jahrtausenden, galt diese Forderung in Hinsicht auf die gegenseitigen menschlichen Beziehungen als grundlegend und gipfelte in dem Ausspruch „Tat tvam asi" (das bist du). Der so Erkennende war und ist sich bewußt, im Nächsten, im Anderen ein Wesen vor sich zu haben, das, wie er selber, einen Teil des Universums, des All-Einen manifestiert und so mit ihm selber im Wesentlichsten verbunden und Eins ist. „Also", folgert er, „wäre es dumm und widersinnig, diesen Anderen nicht so zu behandeln, wie man selber behandelt zu werden wünscht" und „ihm nicht die gleiche Gesinnung entgegenzubringen, die man von ihm einem selber gegenüber erwartet und wünscht". Im Lichte der Wirklichkeit ist aber dieses „Tat tvam asi" eine bloße Annahme, eine Illusion, und die auf ihm errichtete Identitätsphilosophie eine hohle Spekulation, die nie und nirgends einen Gehalt an Wirklichkeit aufweisen kann, da sie auf der Voraussetzung eines „Absoluten", eines „Weltengrundes", eines „Wesenhaften an sich" beruht, welchen Begriffen jedwede Anschaulichkeit und Erlebnismöglichkeit fehlt, weshalb sie leer und inhaltslos sind.

 

So gründet sich also auch die Forderung der Nächstenliebe sowohl wie die der Feindesliebe auf einer Annahme, die der kritischen Betrachtung nicht stand hält. Es ist nichts anderes als eine bloße Behauptung, wenn gesagt wird: „Ich bin du", oder: „Du und ich sind im innersten Kern Eins"; wie man überhaupt nie zu Recht von einem „Ich" oder „Du", im Sinne eines Absoluten, Unerkennbaren und Unvergänglichen sprechen kann, wenn man leere Begriffe vermeiden will. Der Begriff der Nächstenliebe weist hin auf sein Gegenstück, die Selbstliebe. Beiden gemeinsam ist das Anhaften, sei es am Nächsten oder am Selbst, und dieses Anhaften haben wir als durchaus unheilsam und leidvoll erkannt. Die Loslösung vom Anhaften bedingt aber auch eine Loslösung von der Nächsten- und Feindesliebe und eine Wandlung dieser Liebe zur reinen Güte. Damit fällt auch die so überaus schwer erfüllbare Forderung der Feindesliebe dahin. Feindschaft und Liebe schließen sich aus wie Feuer und Wasser, aber man kann der Feindschaft mit Güte begegnen; nur dadurch wird sie unwirksam und kann sich mindern bis zum Erlöschen.

 

Was also vor allem not tut und immer und überall zu pflegen ist, das ist die Güte allen Wesen (auch den Tieren) gegenüber.

 

Es erscheint als selbstverständlich, daß den Eltern und Kindern, den Gatten, den Brüdern und Schwestern, den Verwandten und Freunden Liebe entgegengebracht wird, aber sobald ein größerer Kreis von Menschen, vielleicht auch ein feindlich gesinnter, in diese Liebe einbezogen wird, weitet sie sich zur umfassenden Güte, die nicht mehr selbstverständlich, sondern entweder eine Folgeerscheinung aus vorgeburtlichem Wirken ist, oder eine aus tiefster Einsicht in das Wesen des Daseins gewonnene innere Einstellung. Die Güte kann aber auch nur schwach entwickelt sein; dann hat man sich in ihr zu üben, hat sie auf einen immer größeren und umfassenderen Kreis von Wesen auszudehnen, bis schließlich alle Wesen darin einbegriffen sind.

 

Wer alle Wesen mit Güte durchstrahlt, der betätigt sich als ein vollkommen Gerechter und seine Bahn auf dieser Erde gleicht der leuchtenden Spur eines Kometen, der, alles um sich erhellend, aus den Tiefen des Kosmos aufleuchtet und strahlt, bis er wieder in die Unermeßlichkeit des Weltenraumes entschwindet.

 

So gedeiht auch wahre Kultur nur dort, wo Sittlichkeit, Selbstlosigkeit und Güte zu finden sind. Ohne diese drei Grundpfeiler wahrer Menschlichkeit bleiben alle Bemühungen um höhere und reinere Lebensformen unfruchtbar.

 

Zusammenfassend können wir sagen, daß rechtes Wissen und rechter Wandel Grundvoraussetzungen der vollkommenen Leidensüberwindung sind.


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