WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

I.4. DES LEIDENS ENTSTEHUNG

 

Wenn die Vergänglichkeit das Kriterium des Leidens ist, so muß das Leiden schon in der Voraussetzung des Vergehens seine Wurzeln haben. Diese Voraussetzung ist in allererster Linie das Werden, denn vergänglich kann nur ein Gewordenes sein; ein Ungewordenes, Unentstandenes kann so wenig vergehen, wie ein Ungeborenes sterben. Ein Ungewordenes und Ungeborenes ist nicht wirklich, oder auch wirklich nicht, und trotzdem kann nicht behauptet werden, daß es so etwas nicht gibt. Es gibt auch ein erloschenes Feuer, wie es erloschene Menschen gibt, obwohl Erloschensein sowohl in Hinsicht auf das Feuer wie auf den Menschen, ein Nichts ist. Das Unentstandene, Ungeborene ist das, was nicht entstanden, nicht geboren ist, obgleich keine Rede davon sein kann, daß es wirklich ist. Wer versuchen möchte, ein erloschenes Feuer zu definieren, eine erloschene Empfindung oder ein erloschenes Bewußtsein irgendwie gedanklich zu erfassen und festzuhalten, der würde bald merken, daß es sich da um eine unmögliche Aufgabe handelt, weil jenseits des Gebietes der Wirklichkeit nichts zu erfassen und nichts festzuhalten ist. Doch dies nur so nebenbei.

 

Was uns nun interessiert, ist die Entstehung des Leidens, oder vielleicht besser gesagt, die Entstehung der Situation, über die wir eingangs dieses Buches schon gesprochen haben und von der wir nichts sehnlicher wünschen, als ihre Überwindung und Aufhebung.

 

Es liegt im Wesen der Religion, jeder Religion, daß sie sich zutiefst mit dieser Überwindung befaßt, aber es bleibt immer noch die Frage offen, ob eine solche Überwindung überhaupt in dem Bereiche der Möglichkeit liegt, und ob die Wege, die zu diesem Ziele eingeschlagen werden, auch gangbar sind und zum Ziele führen. Da die Tatsachen meist stärker sind als der Glaube, so kann der Spruch „Glaube macht selig" keine wirklich brauchbare Basis für die Überwindung des Leidens darstellen. Wollen wir zum Ziele kommen, so kann dies nur auf Grund der Einsicht in die Wirklichkeit und nicht mit Hilfe des Glaubens geschehen.

 

Wenn ein Arzt die Krankheit seines Patienten mit Erfolg behandeln will, so kann er dies nur, wenn er über deren Entstehung und deren Art genau Bescheid weiß. Ebenso verhält es sich hinsichtlich des Problems der Überwindung des Leidens. Wie könnten wir je daran denken, diese im wahrsten Sinne des Wortes tragische Situation, in der wir uns hier in die Welt hineingestellt sehen, überwinden zu können, wenn wir hinsichtlich ihrer Entstehung im Dunkeln bleiben müßten?

 

Es genügt aber nicht, wenn für diese Entstehung die Erbsünde als letzter Erklärungsgrund ins Feld geführt wird; es genügt nicht, wenn der Zufall als Grund herbeigezogen wird und es genügt auch nicht, auf den unerforschlichen Ratschluß einer höheren Macht abzustellen, da wir einem solchen ja völlig ohnmächtig gegenüberstünden und ihm nicht entfliehen könnten. Wirklich zu überzeugen vermag nur ein Erklärungsgrund, der nicht einfach geglaubt, oder bloß angenommen, oder hypothetisch irgendwie formuliert wird, sondern der erlebt werden kann und der auch erlebt wird. Nur das Erlebnis ist überzeugend, alles andere bleibt hier graue Theorie oder blinder Glaube.

 

Versuchen wir doch einmal die Entstehung des Leidens an einem konkreten Fall zu beleuchten, um damit einen Einblick in die unzähligen anderen Fälle, resp. in die Entstehung des Leidens überhaupt, zu gewinnen. Wohlgemerkt, es ist hier nicht die Rede vom körperlichen Leiden, von Krankheiten und Schmerzen, sondern vom Leiden im allgemeinen Sinne. Wir suchen die Wurzeln jener Zustände, besser gesagt, jener Bewußtseins-Zustände, die leidhaft sind, die uns ständig bedrohen und heimsuchen und die unser Dasein so gestalten, daß es letzten Endes immer wieder als leidvoll angesprochen werden muß.

 

Nehmen wir den ganz alltäglichen Fall eines Mannes, der heftig in eine Frau verliebt ist, der um diese Frau mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln wirbt, der Tag und Nacht an sie denkt, von ihr träumt und der beseligt ist, wenn er in ihrer Nähe weilen kann. Diese Nähe vermißt und sucht er, wenn er ferne von ihr zu weilen gezwungen ist. Ein Leben ohne diese Frau erscheint ihm schal und leer, denn sie ist für ihn der Himmel auf Erden.

 

Eines Tages entdeckt nun dieser Mann, daß seine Angebetete mit einem anderen Manne Blicke der Zuneigung und des Vertrautseins wechselt, daß sie diesem anderen verschwiegene Stelldichein gewährt, daß sie mit ihm tändelt und schäkert, kurz, daß sie diesen anderen liebt. Wie ein Kartenhaus stürzen alle seine Hoffnungen, die er hinsichtlich dieser Frau gehegt und gepflegt, zusammen. In seinem Herzen bohrt peinigender Schmerz, tiefste Verzweiflung überwältigt ihn, namenlose Enttäuschung, gepaart mit stechender Eifersucht, vergiftet sein ganzes Dasein und das Weiterleben wird ihm zur sinnlosen Qual.

 

Dies ist die eine mögliche Version dieses Falles; betrachten wir aber auch die andere.

 

Des Mannes Begehren und Wünsche finden Erfüllung. Er führt die geliebte Frau heim und sie wird die glückliche Mutter seiner Kinder. Im stillen Frieden eines schönen Heimes lebt die Familie viele Jahre glücklich beieinander, aber nach dem unerbittlichen Gesetze der Vergänglichkeit alles Gewordenen, nimmt auch diese Zeit ein Ende, und eines Tages steht der Mann vor dem Totenbette seiner geliebten Gattin. Aufschluchzend in wildem Schmerze klagt er das Schicksal an, das ihm solches Leid zugefügt. Er kann sich kaum mehr zurecht finden, fühlt sich einsam und verlassen, sein Herz krampft sich zusammen in der Erinnerung an die gemeinsam verlebten schönen Jahre und voller Verzweiflung wünscht er sich selber den Tod.

 

Warum dieses Leid? Warum dieser Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und diese Verzweiflung? Warum? Warum?

 

Ausschließlich und allein nur infolge des Begehrens und des Anhaftens an dem geliebten Wesen.

 

Weil dieser Mann begehrte, weil er an dem Objekt seines Begehrens haftete, entstand diese ganze Kette der Geschehnisse, die so oder so einmal hatte zu Ende kommen müssen, und gerade dieses Zu-Ende-kommen ist gleichbedeutend mit dem Aufflackern des Leidens. Da es auf dieser Welt nichts gibt, das nicht zu Ende kommt, so ist daraus wohl zu ermessen, wie wir dem Leiden geradezu unheimlich und erbarmungslos ausgeliefert und verflochten sind.

 

Es liegt ohne weiteres auf der Hand, daß dieser Mann völlig gleichmütig und uninteressiert geblieben wäre, im Falle er diese Frau mit einem anderen Manne hätte schäkern und lachen sehen, wenn er sie nicht selber begehrt und geliebt hätte. Kein Kummer und kein Jammer wäre ihm diesfalls daraus entstanden, nichts von all dem, was da als Leiden emporwuchs.

 

Wenn er innerlich dieser Frau nicht angehangen, ihr nicht angehaftet gewesen wäre, hätte auch ihr Tod ihm wenig bedeutet, nicht mehr als der Tod irgend eines ihm fremden und gleichgültigen Wesens.

 

So ist es also offensichtlich und evident, daß seine Verzweiflung ihren Grund im Begehren und Anhaften hat, und daß, wenn dieses Begehren und Anhaften in ihm nicht bestanden, er auch die entsprechende Masse des Leidens nicht zu erdulden gehabt hätte. Dies gilt nicht nur in diesem speziellen Falle, sondern immer und überall. Begehren oder nicht begehren, anhaften oder nicht anhaften? Das ist jeweils die große und entscheidende Frage, und je nachdem wir uns im einzelnen konkreten Falle verhalten, ob wir bejahend oder verneinend antworten, hängt es ab, ob Leiden entstehen wird oder nicht. Jedenfalls ist nichts weniger paradox aber auch nichts wahrer als der Satz: „Wo Liebes ist, ist Leides."

 

Wo kein Anhaften, da kein Leiden; aber als Menschen haften wir eben, und dazu noch an unzähligen Dingen. In allererster Linie und am stärksten haften wir am Dasein überhaupt, am Leben, und dieses Haften nennen wir Lebensdurst, Lebenstrieb, Wille zum Leben. Darum auch erscheint uns der Tod als eines der größten Übel und nichts fürchten wir so sehr, als ihn. Wir haften aber auch an Eltern und Geschwistern, an Frau und Kindern, an Verwandten und Freunden, an Geld und Gut, an Macht und Ruhm, wir haften an tausenderlei Dingen und Meinungen, an Wünschen und Vorstellungen. Wir können aber auch sagen, daß wir am Auge, dem Sehorgan und seinen Objekten haften und an dem durch diese beiden Faktoren entstandenen Seh-Bewußtsein, samt all den sich daraus ergebenden angenehmen Empfindungen und Wahrnehmungen. So haften wir am Ohr und den Tönen, an der Nase und den Düften, an der Zunge und dem Schmeckbaren, am Körper und dem Tastbaren, am Denken und dem Bewußtsein und an den Bewußtseins-Objekten. Weil dies alles aber zusammen die Welt bedeutet, die Welt, wie sie sich in uns als Erlebnis gestaltet, die Welt als das bedingt Entstandene, Gestaltete, als das Gewordene und Werdende überhaupt, so verstehen wir nun auch, daß sich das Leiden über das Anhaften auf das Werden zurückführen läßt.

 

Das Werden ist die Voraussetzung des Vergehens, aber auch das Werden muß bedingt sein, und in Hinsicht auf den Menschen, auf die Wesen überhaupt, haben wir da in erster Linie den Willen verantwortlich zu machen, oder präziser ausgedrückt, den Willen zum Werden, zum Sein, zum Dasein und So-sein.

 

Es war SCHOPENHAUER, der als erster der abendländischen Philosophen darauf hingewiesen hat, daß der Wille als einer der mächtigsten Faktoren im Geschehen überhaupt zu betrachten ist. Im 1. Bande seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung" sagt er auf S. 165 hinsichtlich des Willens:

 

„Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich sind, in Menschen und Tieren, wird er als ihr innerstes Wesen jenen nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dahin leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert ja die Kraft, durch welche der Kristall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehen und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht, - diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem inneren Wesen nach als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt."

Wenn SCHOPENHAUER aber dann zu dem Schluss kommt: „Ding an sich ist allein der Wille", so können wir ihm da nicht mehr folgen, denn es ist unzweifelhaft, daß ein „Ding an sich" ein Unbedingtes sein müßte, also ein Absolutes, daß aber ein solches unerfaßbar und unwirklich, also auch wirklich nicht ist. Gerade der Wille aber, den wir vielleicht noch besser und deutlicher als das Triebhafte in uns bezeichnen, ist in jedem Falle als ein Bedingtes zu erkennen, und als das ist es auch wirklich, d. h. wirkend und erlebbar. Laut dem Gesetze des kausalen Bedingtseins alles Geschehens, dürfen wir nun aber auch nach der Wurzel des Wollens, des Triebhaften, desjenigen das immer wiederum neues Werden schafft, fragen. Worin also wurzelt der Wille?

 

Es ist ohne weiteres klar, daß es einen Willen nur dort gibt, wo etwas gewollt wird, und dieses „Etwas" muß gefühlt oder empfunden werden, bevor es gewollt werden kann. Gefühl oder Empfindung ist also die Voraussetzung des Wollens. Ohne Hunger-Gefühl würde nichts gegessen werden, d. h. es gäbe keinen Trieb nach Nahrung, kein Wollen der Nahrung, kein Verlangen nach Nahrung. Ohne die Empfindung eines Dinges, sei es was es will, gäbe es kein Verlangen danach. Alles Schöne, Begehrenswerte, Glückverheißende, Leidenvermindernde muß zuerst empfunden werden, bevor es begehrt werden kann; wie auch alles Abstoßende, Häßliche, Widerwärtige zuerst empfunden werden muß, bevor das Verabscheuen, das Wegwenden, der Widerwille entstehen kann. Es ist also kein Wollen kein Trieb denkbar ohne die vorausgegangene diesbezügliche Empfindung und darum ist der Wille durch die Empfindung bedingt. Es ist aber in keinem Falle so, daß nur eine einzige Bedingung für sich allein den Grund der Folge bildet, sondern es müssen immer mehrere Bedingungen zusammentreffen, um das Neue schaffen zu können. Eine Bedingung kann aber immer als die wichtigste angesehen werden, wie z. B. der Same für das Entstehen des Baumes. Es gehören aber auch noch andere notwendige Bedingungen zu diesem Entstehen, wie z. B. Erde, Wasser, Luft, Licht, Wärme usw., und erst aus dem zweckmäßigen Zusammenwirken aller dieser Bedingungen folgt dann das, was wir unter dem Begriff „Baum" verstehen.

 

Im Bereiche des Menschen ist aber auch die Empfindung nur ein Glied in der Kette des kausalen Geschehens, dem der Kontakt oder die Berührung vorausgehen muß. Nicht nur mit den Tast-Organen sind Berührungen möglich, auch das Auge berührt, und zwar Formen und Farben, das Ohr berührt Töne, die Nase Düfte, die Zunge Säfte und das Denk-Organ berührt Gedanken und Vorstellungen. Da ohne Berührung nichts empfunden werden kann, bildet also die Berührung die notwendige Voraussetzung der Empfindung, d. h. sie ist die unmittelbarste und wichtigste Voraussetzung.

Die Berührung aber, wo wurzelt die?

 

Wenn die Hände berühren, so sind diese Hände die Voraussetzung der Berührung; wenn das Auge berührt, so ist dieses Auge die Voraussetzung, und gleich verhält es sich auch bei den übrigen Sinnes-Organen.

 

Wir können also sagen, daß die Voraussetzung der Berührung im allgemeinen die Sinnes-Organe sind. Und diese Sinnes-Organe können nicht ohne den lebensfähigen Körper bestehen, dessen Dasein wiederum vom Bewußtsein abhängig ist, und dieses wiederum von den Gestaltungen des Tuns, der Rede und des Denkens, welche Gestaltungen aus dem unterbewußten Lebens-Strom emporquellen, dessen Strömen sich in uns selber, in unserem So-Sein, in unserem ganzen Tun und Lassen manifestiert.

 

Da der Mensch im allgemeinen nicht dazu neigt, das Leben als leidhaft anzuerkennen, geschweige es mit dem Leiden zu identifizieren, interessiert er sich im Grunde meist gar nicht für die Ursache des Leidens, sondern er nimmt es einfach als ein Unabwendbares mit in Kauf, versucht es von Fall zu Fall auf irgend eine Art zu überwinden und lebt voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft weiter. Er steckt so gewissermaßen den Kopf in den Sand und will von all dem, was es da an unumstößlichen Hinweisen auf das Leidhafte des Daseins gibt, nichts wissen. Und es ist tatsächlich nicht nur ein Nicht-wissen-wollen, sondern es ist in Tat und Wahrheit ein Nichtwissen um die Wahrheit vom Leiden der Existenz, aus der sich das anfangs- und endlose Fließen des Lebens-Stromes und damit das Leiden ergibt. Dieses Nichtwissen, das selbstverständlich auch das Nichtwissen um die Möglichkeit einer Aufhebung der Leidenswelt mit einbegreift, können wir somit als die umfassendste und allgemeinste Ursache des Leidens, als jenes Glied in der Leidens- und Ursachen-Kette betrachten, das als ein primäres alle anderen provoziert.

 

In der Aufhebung dieses Nichtwissens, in der Beseitigung desselben durch das Wissen um Ursache, Grund und Folge und damit um die Möglichkeit einer Aufhebung der ganzen Kette von Ursachen und Folgen, aus der unser Leben besteht, beruht also auch die Aufhebung des Leidens.

 

FRIEDRICH NIETZSCHE, der Lebensbejaher par excellence, gesteht in seinem Werke „Der Wille zur Macht" III. Buch, Aphorismus 853:

 

„ . . . es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn . . . eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, die ,Wahrheit’, zum Siege zu kommen, das heißt, um zu leben . . . Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins."

 

Wenn das Leben im Siege über die Wahrheit bestehen soll, und wenn dazu Lüge notwendig ist, so steht es schlimm um dieses Leben, und der Sieg ist ein höchst fragwürdiger, denn er ist sinnlos und in seinen Folgen für den Sieger verheerend.

Wer wollte sich selber das Leiden ersiegen?

 

Es gibt einen Standpunkt, von dem aus das Leben als Leiden durchschaut werden kann, von dem aus die Wirklichkeit im Dasein erkannt wird, und dieser Standpunkt ist jener letzte und höchste, der mit dem Leben auch den Tod sieht.

 

Die Lüge, von der NIETZSCHE spricht, ist nicht etwa eine bewußte Lüge, sondern es ist jenes Nichtwissen, jene Verblendung und Blindheit, die den wahren Charakter des Daseins verkennt und damit dasselbe erst ermöglicht. Der Lebensfrohe wird auf keinen Fall bewußt ein vergiftetes Getränk zur Stillung seines Durstes trinken, aber es kann vorkommen, daß er sich im Glase irrt, und dann hat er auch die Folgen zu tragen. Der Mensch will nicht leiden, er stillt aber seinen Lebens-Durst ununterbrochen mit neuen Lebens-Äußerungen und damit mit neuem Leiden, weil er eben hinsichtlich seiner selbst seines Daseins und Soseins in Verblendung und Irrtum lebt; er lebt im Nichtwissen um die Unerfüllbarkeit und Hoffnungslosigkeit seines ewigen Suchens nach Glück, unter welchem Glück er meistens das der Sinnengenüsse versteht. Solange diese Verblendung besteht, solange dieses Nichtwissen nicht aufgehoben ist, solange wird er eben immer wieder nach falschen und untauglichen Mitteln zur Überwindung des Leidens greifen.

 

Nicht im Begehren liegt das Glück, sondern im Lassen!

 

Wir umfassen also mit dem Begriff „Nichtwissen" ausschließlich und allein das Nichtwissen um die Tatsache, daß Leben Leiden ist, wir umfassen damit das Nichtwissen um die Entstehung des Leidens, und seine Aufhebung und um den Weg der zu seiner Aufhebung führt. Alles sonstige Nichtwissen ist im Grunde genommen bedeutungslos und niemals so wurzelhaft unheilvoll wie dieses.

 

Selbstverständlich ist auch dieses Nichtwissen bedingt, bedingt durch die Geburt und den lebensfähigen Körper, durch Bewußtsein usw., und so stoßen wir auf die Tatsache, daß die einzelnen Glieder der kausalen Daseins-Kette sich in allererster Linie gegenseitig bedingen, daß aber gerade beim Nichtwissens-Glied die Möglichkeit einer Wendung besteht, einer Wendung zum Wissen und damit zur Erlösung.

 

Wenn aber unser Dasein durch das Nichtwissen, durch die Verblendung, bedingt ist, so bleibt immerhin noch die Frage offen, wie eine Wirkung vor dem Eintritt ihrer Bedingungen zustande kommen kann? Oder wie die Folgen vor der Ursache existent sein können?

 

Wenn wir infolge des Nichtwissens existent sind, die Bedingungen dieses Nichtwissens aber in der Existen liegen, so müssen wir notwendigerweise schon vor der jetzigen Existenz dagewesen sein, d. h. wir müssen schon vor unserer Geburt irgendwie gelebt haben und gleichzeitig dem Nichtwissen verfallen gewesen sein.

 

Mit diesem Aspekt wollen wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen.


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