Anguttara Nikaya, Die Angereihte Sammlung

2. Kapitel: sīhanāda-vagga

A.IX. 11 Sāriputtas Löwenruf

Im Jetahain bei Sāvatthī.

Der ehrwürdige Sāriputta sprach zum Erhabenen:

»Beendet, o Herr, habe ich die Regenzeit in Sāvatthī. Ich möchte mich nun auf eine Wanderschaft durch das Land begeben.«

-»Wie es dir beliebt, Sāriputta.«

Und der ehrwürdige Sāriputta erhob sich von seinem Sitze, grüßte ehrfurchtsvoll den Erhabenen, und, ihm die Rechte zukehrend, entfernte er sich. Kaum aber war er gegangen, als einer der Mönche zum Erhabenen sprach:

»Der verehrte Sāriputta, o Herr, hat mich gestoßen, und, ohne sich zu entschuldigen, ist er auf die Wanderschaft gegangen (*1).«

Darauf wandte sich der Erhabene an einen der Mönche: »Gehe, o Mönch, und sage Sāriputta in meinem Namen, daß ihn der Meister ruft.«

»Gut, o Herr!« erwiderte jener Mönch, begab sich zum ehrwürdigen Sāriputta und sprach zu ihm: »Der Meister ruft dich, Bruder Sāriputta!«

-»Gut, Bruder!« erwiderte der ehrwürdige Sāriputta jenem Mönche (*2).

Da gingen der ehrwürdige Mahā-Moggallāna und der ehrwürdige Ananda, die Schlüssel mit sich nehmend, von Zelle zu Zelle, mit der Aufforderung: »Kommt, Verehrte, kommt! Jetzt wird der ehrwürdige Sāriputta in Gegenwart des Erhabenen den Löwenruf erschallen lassen.«

Und der ehrwürdige Sāriputta begab sich zum Erhabenen, begrüßte ihn ehrfurchtsvoll und setzte sich zur Seite nieder. Als er sich aber gesetzt hatte, sprach der Erhabene zu ihm:

»Es hat da, Sāriputta, einer deiner Ordensbrüder Anklage gegen dich erhoben und gesagt: 'Der verehrte Sāriputta, o Herr, hat mich gestoßen, und, ohne sich zu entschuldigen, ist er auf die Wanderschaft gegangen.'«

-»Wem da, o Herr, beim Körper nicht die Betrachtung über den Körper gegenwärtig ist, ein solcher, freilich, wäre imstande, einen seiner Ordensbrüder zu stoßen und ohne sich zu entschuldigen auf die Wanderschaft zu gehen.

Ob man da, o Herr, Reines oder Unreines auf die Erde wirft, ob man mit Kot, Urin, Speichel, Eiter oder Blut Beflecktes auf die Erde wirft, nicht wird dadurch die Erde verstimmt, aufgebracht oder empört. Ebenso, o Herr, weile ich mit einem der Erde gleichenden Gemüte, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen. Wem da, o Herr, beim Körper nicht die Betrachtung über den Körper gegenwärtig ist, ein solcher, freilich, wäre imstande, einen seiner Ordensbruder zu stoßen und ohne sich zu entschuldigen auf die Wanderschaft zu gehen.

Ob man da, o Herr, Reines oder Unreines im Wasser wäscht, ob man mit Kot, Urin, Speichel, Eiter oder Blut Beflecktes im Wasser wäscht, nicht wird dadurch das Wasser verstimmt, aufgebracht oder empört. Ebenso, o Herr, weile ich mit einem dem Wasser gleichen Gemüte, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen...

Ob man da, o Herr, Reines oder Unreines im Feuer verbrennt, ob man mit Kot, Urin, Speichel, Eiter und Blut Beflecktes im Feuer verbrennt, nicht wird dadurch das Feuer verstimmt, aufgebracht oder empört. Ebenso, o Herr, weile ich mit einem dem Feuer gleichen Gemüte, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen...

Ob da, o Herr, der Wind über Reines oder Unreines hinweht, ob er über mit Kot, Urin, Speichel, Eiter und Blut Beflecktes hinweht, nicht wird dadurch der Wind verstimmt, aufgebracht oder empört. Ebenso, o Herr, weile ich mit einem dem Winde gleichen Gemüte, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen (Gleichnisse auch in M.62) ...

Ob da, o Herr, der Staubwischer über Reines oder Unreines wischt, ob er über mit Kot, Urin, Speichel, Eiter und Blut Beflecktes wischt, nicht wird dadurch der Staubwischer verstimmt, aufgebracht oder empört. Ebenso, o Herr, weile ich mit einem dem Staubwischer gleichen Gemüte, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen...

Gleichwie, o Herr, wie wenn da ein Knabe oder Mädchen von den Ausgestoßenen, mit einem Korbe in der Hand, in zerfetzter Kleidung, in ein Dorf oder eine Stadt eintritt, es eben mit demütiger Gesinnung eintritt; ebenso, o Herr, weile ich gleichsam mit dem Gemüte eines jungen Ausgestoßenen, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, frei von Haß und Übelwollen...

Oder gleichwie, o Herr, wie wenn ein frommer, gut gezähmter Stier mit gestutzten Hörnern, während er von Straße zu Straße, von Platz zu Platz entlanggeht, weder mit den Füßen noch mit den Hörnern irgendjemanden verletzt, ebenso, o Herr, weile ich gleichsam mit dem Gemüte eines seiner Hörner beraubten Stieres, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem, ohne Haß und Übelwollen...

Oder gleichwie, o Herr, wenn man einer Frau oder einem Manne, jung, jugendlich, schmuckliebend, mit gewaschenem Haupt, einen Schlangen-, Hunde- oder Menschenkadaver an den Hals hängen möchte, sie Entsetzen, Ekel und Abscheu empfinden würden, ebenso empfinde ich Entsetzen, Ekel und Abscheu vor diesem fauligen Körper. Wem da, o Herr, beim Körper nicht die Betrachtung über den Körper gegenwärtig ist, ein solcher, freilich, wäre imstande, einen seiner Ordensbrüder zu stoßen und ohne sich zu entschuldigen auf die Wanderschaft zu gehen.

Oder gleichwie, o Herr, wenn ein Mann einen aus vielen Löchern auslaufenden triefenden, mit Fett gefüllten Topf mit sich tragen möchte, ebenso, o Herr, trage ich diesen aus vielen Löchern auslaufenden und triefenden Körper mit mir herum. Wem da, o Herr, beim Körper nicht die Betrachtung über den Körper gegenwärtig ist, ein solcher, freilich, wäre imstande, einen seiner Ordensbrüder zu stoßen und ohne sich zu entschuldigen auf die Wanderschaft zu gehen.«

Da erhob sich jener Mönch von seinem Sitze, ordnete das Gewand über eine Schulter, fiel dem Erhabenen mit gesenktem Haupte zu Füßen und sprach:

»Eine Schuld, o Herr, hat mich überkommen in meiner Torheit, meiner Verirrung, meiner Schlechtigkeit, der ich den ehrwürdigen Sāriputta in falscher, nichtiger, lügnerischer, unwahrer Weise beschuldigte. Möge, o Herr, der Erhabene das Bekenntnis meiner Schuld annehmen, auf daß ich mich künftig davor hüten möge!«

-»Wahrlich, o Mönch, eine Schuld hat dich überkommen in deiner Torheit, deiner Verirrung, deiner Schlechtigkeit, daß du den ehrwürdigen Sāriputta in falscher, nichtiger, lügnerischer, unwahrer Weise beschuldigt hast. Insofern du aber, o Mönch, deine Schuld als Schuld erkennst und der Satzung gemäß Sühne tust, so will ich dein Bekenntnis annehmen; denn als Fortschritt gilt es in der Zucht der Edlen, wenn man seine Schuld als Schuld bekennt, der Satzung gemäß Sühne tut und sich künftig davor hütet.«

Darauf wandte sich der Erhabene an den ehrwürdigen Sāriputta und sprach:

»Verzeihe, Sāriputta, diesem Toren, bevor ihm noch auf der Stelle das Haupt in sieben Stücke zerspringt!«

-»Ich will, o Herr, dem Verehrten verzeihen, wenn er zu mir spricht: 'Möge der Verehrte mir verzeihen!'«


(*1) K: Jener Mönch ärgerte sich, als er sah, daß der ehrwürdige Sāriputta zusammen mit vielen Mönchen sich fortzugehen anschickte (und ihn selber zurückließ). Da dachte er: 'Ich will sein Fortgehen verhindern.' Es wird dazu berichtet, daß, als Sāriputta an jenem Mönch vorbeiging, eine vom Winde bewegte Gewandecke den Körper jenes Mönches berührte; und dies nahm jener zum Anlaß seiner Anklage.

(*2) Dem K zufolge wußte der Erhabene sehr wohl, daß Sāriputta einer solchen Handlung nicht fähig war; doch um, seitens des anklagenden Mönches den Vorwurf der Parteilichkeit und damit das Aufsteigen übler Gedanken in ihm auszuschließen, ließ der Erhabene Sāriputta rufen.


A.IX. 12 Den niederen Welten entronnen

Einst weilte der Erhabene im Jetahaine bei Sāvatthī, im Kloster des Anāthapindika. Und der ehrwürdige Sāriputta kleidete sich in der Frühe an, nahm Gewand und Schale und begab sich nach Sāvatthī um Almosenspeise. Und er dachte: »Zu früh ist es noch, um in Sāvatthī um Almosenspeise zu gehen. So will ich denn das Kloster der andersfährtigen Wanderasketen aufsuchen.« Und der ehrwürdige Sāriputta begab sich zum Kloster der andersfährtigen Wanderasketen. Dort angelangt, wechselte er mit jenen andersfährtigen Wanderasketen freundlichen Gruß, und nach Austausch höflicher, zuvorkommender Worte setzte er sich zur Seite nieder.

Bei jener Gelegenheit aber kam unter den andersfährtigen Wanderasketen, während sie versammelt dasaßen, die Rede darauf, daß keiner, der noch einen Haftensrest (*1) besitzend stirbt, befreit ist von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und entronnen ist den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Der ehrwürdige Sāriputta indessen weder billigte noch mißbilligte die Worte jener andersfährtigen Wanderasketen. Ohne Beifall oder Mißbilligung zu zeigen, erhob er sich von seinem Sitze und ging fort im Gedanken: »Vom Erhabenen werde ich wohl den Sachverhalt dieser Worte erfahren.« Nachdem nun der ehrwürdige Sāriputta von seinem Almosengange zurückgekehrt war, begab er sich am Nachmittage, nach beendetem Mahle, zum Erhabenen und teilte ihm die Sache mit.

(Der Erhabene:) »Unerfahrene Toren, Sāriputta, sind jene andersfährtigen Wanderasketen. Und diese sollten erkennen, wer noch einen Haftensrest besitzt und wer von jedem Haftensrest befreit ist?

Neun noch einen Haftensrest besitzende Menschen, Sāriputta, sind bei ihrem Tode befreit von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und sind entronnen den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen Welches sind diese neun Menschen?

Da, o Sāriputta, ist ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, vollkommen in der Geistessammlung, aber nur mäßig entwickelt (*2) in Weisheit. Nach dem Schwinden der fünf niederen Fesseln wird er ein 'Auf halber Fährte Erlöschender'. Das, Sāriputta, ist der erste noch einen Haftensrest besitzende Mensch, der bei seinem Tode befreit ist von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und entronnen ist den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Fernerhin, Sāriputta, ist da ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, vollkommen in der Geistessammlung, aber nur mäßig entwickelt in Weisheit. Nach dem Schwinden der fünf niederen Fesseln wird er ein 'Nach halber Fährte Erlöschender' - ein 'Mühelos Erlöschender' - ein 'Mühsam Erlöschender' - ein 'Stromaufwärts zu den Hehren Göttern Eilender' (*3). Das, Sāriputta, ist der zweite, dritte, vierte und fünfte noch einen Haftensrest besitzende Mensch, der bei seinem Tode befreit ist von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und entronnen ist den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Fernerhin, Sāriputta, ist da ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, aber nur mäßig entwickelt in Geistessammlung und Weisheit. Nach dem Schwinden von drei Fesseln und Abschwächung von Gier, Haß und Verblendung kehrt er noch einmal wieder; und noch einmal in diese Welt zurückkehrend, macht er dem Leiden ein Ende (*4). Das, Sāriputta, ist der sechste noch einen Haftensrest besitzende Mensch, der bei seinem Tode befreit ist von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und entronnen ist den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Fernerhin, Sāriputta, ist da ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, aber nur mäßig entwickelt in der Geistessammlung und Weisheit. Nach dem Schwinden von drei Fesseln wird er ein 'Einmal Aufkeimender', und, nur noch einmal in menschlichem Dasein wiedergeboren, macht er dem Leiden ein Ende. Das, Sāriputta, ist der siebente noch einen Haftensrest besitzende Mensch...

Fernerhin, Sāriputta, ist da ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, aber nur mäßig entwickelt in Geistessammlung und Weisheit. Nach dem Schwinden von drei Fesseln wird er ein 'Von Geschlecht zu Geschlecht Eilender': noch zweimal oder dreimal unter edlen Geschlechtern die Geburten durcheilend, die Geburten durchwandernd, macht er dem Leiden ein Ende. Das, Sāriputta, ist der achte noch einen Haftensrest besitzende Mensch...

Fernerhin, Sāriputta, ist da ein Mensch vollkommen in der Sittlichkeit, aber nur mäßig entwickelt in Geistessammlung und Weisheit. Nach dem Schwinden von drei Fesseln wird er ein 'Höchstens siebenmal Wiedergeborener': noch siebenmal unter Göttern und Menschen die Geburten durcheilend, die Geburten durchwandernd, macht er dem Leiden ein Ende (*5). Das, Sāriputta, ist der neunte noch einen Haftensrest besitzende Mensch, der bei seinem Tode befreit ist von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreiche und entronnen ist den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Unerfahrene Toren, Sāriputta, sind jene andersfährtigen Wanderasketen. Und diese sollten erkennen, wer noch einen Haftensrest besitzt und wer von jedem Haftensrest befreit ist? Diese neun noch einen Haftensrest besitzenden Menschen sind bei ihrem Tode befreit von der Hölle, dem Tierschoße und dem Gespensterreich und sind entronnen den niederen Welten, der Leidensfährte und den Daseinsabgründen.

Diese Lehrdarlegung, Sāriputta, habe ich noch nicht den Mönchen und Nonnen, den Laienjungern und Laienjüngerinnen gegeben. Und warum nicht? Damit sie nach dem Hören dieser Lehrdarlegung nicht der Lässigkeit verfallen. Nur als Antwort auf deine Frage, Sāriputta, habe ich dir diese Lehrdarlegung gegeben.«


(*1) sa-upādi-seso; upādi wird hier mit upādāna, 'Haften', erklärt, sonst aber meist als das, 'woran' man haftet, nämlich die fünf Daseinsgruppen. Vgl. A.VII.53.

(*2) ChS: mattato kārī, wie auch in der ähnlichen Stelle A.III.87; PTS hat hier durchweg na pāripūrī kārī, 'nicht vollkommen betätigend'.

(*3) Dies sind die fünf Arten des Nichtwiederkehrers (anāgāmī); vgl. A.III.88.

(*4) Dies ist der Einmalwiederkehrer (sakadāgāmī).

(*5) Dies sind die drei Arten des 'Stromeingetretenen' (sotāpanna).


A.IX. 13 Der Zweck des Heiligen Wandels

Der ehrwürdige Mahā-Kotthita sprach zum ehrwürdigen Sāriputta:

»Sage, Bruder Sāriputta, führt man wohl unter dem Erhabenen das Heilige Leben, damit einem die bei Lebzeiten wirkende Tat (*1) zu einer künftig wirkenden Tat (*2) werde?«

-»Nicht doch, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die künftig wirkende Tat zu einer noch bei Lebzeiten wirkenden Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die freudewirkende Tat zu einer leidwirkenden Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die leidwirkende Tat zu einer freudewirkenden Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die ausgewirkte Tat zu einer noch nicht ausgewirkten Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die noch nicht ausgewirkte Tat zu einer bereits ausgewirkten Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die stark wirkende Tat zu einer schwach wirkenden Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die schwach wirkende Tat zu einer stark wirkenden werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die wirksame Tat zu einer unwirksamen Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Oder etwa, damit einem die unwirksame Tat zu einer wirksamen Tat werde?«

-»Auch das nicht, Bruder.«

-»Auf alle diese Fragen, Bruder Sāriputta, antwortest du mir 'Das nicht, Bruder'. Zu welchem Zwecke aber, Bruder Sāriputta, führt man unter dem Erhabenen das Heilige Leben?«

-»Um das Unerkannte, Ungeschaute, Unerreichte, Unverwirklichte, Undurchdrungene zu erkennen, zu schauen, zu erreichen, zu verwirklichen und zu durchdringen: darum, Bruder, führt man unter dem Erhabenen das Heilige Leben.«

-»Was aber, Bruder Sāriputta, ist das Unerkannte, Ungeschaute, Unerreichte, Unverwirklichte, Undurchdrungene, das zu erkennen, zu schauen, zu erreichen, zu verwirklichen und zu durchdringen man unter dem Erhabenen das Heilige Leben führt?«

-»'Das ist das Leiden' - 'Das ist die Entstehung des Leidens' - 'Das ist die Aufhebung des Leidens' - 'Das ist der zur Leidensaufhebung führende Pfad' - dies ist das Unerkannte, Ungeschaute, Unerreichte, Unverwirklichte und Undurchdrungene, das zu erkennen, zu schauen, zu erreichen, zu verwirklichen und zu durchdringen man unter dem Erhabenen das Heilige Leben führt.«


(*1) ditthadhamma-vedanīyam kammam; d.i. die noch bei Lebzeiten eine gute oder üble Wirkung hervorrufende Tat. Vgl. A.III.34.

(*2) samparāyika-vedanīyam kammam.


A.IX. 14 Über das Wesen der Gedankenerwägungen

Der ehrwürdige Sāriputta sprach zum ehrwürdigen Samiddhi (*1):

»Was hat, Samiddhi, das im Menschen aufsteigende Denken und Trachten (*2) zur Grundlage (*3)?«

»Das Geistige und Körperliche (*4), Ehrwürdiger.«

»Worin aber haben sie ihre Mannigfaltigkeit?«

»In den (Sinnen-)Elementen (*5), Ehrwürdiger.«

»Und wodurch entstehen sie?«

»Durch den Sinneneindruck (phassa), Ehrwürdiger.«

»Und was hält sie zusammen?«

»Das Gefühl, Ehrwürdiger (*6).«

»Worin liegt ihr Führer?«

»In der Geistessammlung, Ehrwürdiger (*7).«

»Und wer meistert sie?«

»Die Achtsamkeit, Ehrwürdiger (*8).«

»Und was ist ihr Höchstes?«

»Die Weisheit, Ehrwürdiger.«

»Und was ist ihr wahrer Zweck (*9)?«

»Die Befreiung, Ehrwürdiger.«

»Und worin münden sie?«

»Im Todlosen, Ehrwürdiger (*10).«

»Vortrefflich, vortrefflich, Samiddhi. Gut hast du meine Fragen beantwortet. Möge dir aber darum kein Dünkel aufsteigen (*11)!«


(*1) Über Samiddhi siehe Samy.1.20; Samy.1.35, Samy.1.65-68; M.136; Theragāthā 46.

(*2) sankappa-vitakkā; sankappa bezeichnet das gerichtete, planende, beabsichtigende Denken; die geistige Einstellung (cetaso abhiniropana; so auch in der Erklärung des 2. Pfadgliedes, sammāsankappa).

(*3) ārammana, 'Objekt'; K erklärt mit paccaya, 'Bedingung'.

(*4) nāma-rūpa. K: Dies besagt, daß die vier geistigen Daseinsgruppen (arūpa-kkhandha) sowie, der Körper bestehend aus den (vier) Elementen und der von ihnen abhängigen Körperlichkeit, die Bedingungen sind für das Aufsteigen der Gedanken.

(*5) dhātu; K: durch das Element der Sehobjekte (rūpa-dhātu), Töne usw.; durch deren Vielfalt erhalten die Gedanken ihre Mannigfaltigkeit.

(*6) vedanā, d.i. die angenehme, unangenehme und neutrale Empfindung.

(*7) samādhi-pamukhā. In der Geistessammlung haben die Gedanken ihre größte Intensität. K bemerkt, daß es sich von hier an um geistige Vorgänge handelt, die das karmische Aufschichten und damit die Wiedergeburten verringern (apacaya-pakkhikā).

(*8) satādhipateyyā = sati-adhi. So auch in A.IV.245.

(*9) sārā, wtl: ihr (wahrer) Kern; d.i. das Wesentliche in den Gedanken ist, ob sie der Befreiung dienen oder nicht. Laut K handelt es sich hier jedoch lediglich um Gedanken, die zum Kernhaften vorgedrungen sind (sārappattā), nach Erreichung der Befreiung im Heiligkeitsziel (phalavimuttim patvā).

(*10) K: Im Todlosen (amata), d.i. in Nibbāna, mündend, finden die Gedanken dort ihren Ruhepunkt.

(*11) Siehe A.VIII.83; A.X.58.


A.IX. 15 Die Eiterbeule

Nehmt an, ihr Mönche, es ist da eine viele Jahre alte Eiterbeule, die neun von selbst entstandene Wundöffnungen hat. Was da nun hervorquillt und heraussickert, das alles ist unrein, übelriechend und ekelerregend.

Als eine Eiterbeule aber, ihr Mönche, bezeichnet man diesen aus den vier Grundstoffen bestehenden, von Vater und Mutter gezeugten Körper, der mit Reis und Grütze großgezogen wird, der Vergänglichkeit unterworfen ist, gesalbt und massiert werden muß und der Auflösung und Zersetzung anheimfällt.

Dieser Körper hat neun natürliche Öffnungen. Und was da hervorquillt und heraussickert, das alles ist unrein, übelriechend und ekelerregend. Darum, ihr Mönche, wendet euch ab von diesem Körper!

(K: Dieser Text bezieht sich auf stark entwickelten Klarblick, balava-vipassanā)


A.IX. 16 Neun segensreiche Vorstellungen

Neun Vorstellungen, ihr Mönche, entfaltet und häufig geübt, bringen hohen Lohn und Segen; sie münden im Todlosen, enden im Todlosen. Welche neun?

Die Vorstellung der Unreinheit, des Todes, des Ekelhaften bei der Nahrung, der Reizlosigkeit des ganzen Daseins, der Vergänglichkeit, des Leidhaften in der Vergänglichkeit, der Ichlosigkeit im Leidhaften, des Aufgebens und der Entsüchtung. (Siehe A.VII.45)


A.IX. 17 Zu meidende Familien

(Erweiterung von A.VII.13)

Zu einer Familie, ihr Mönche, bei der sich neun Eigenschaften finden, sollte man sich nicht hinbegeben, falls man sie nicht schon aufgesucht hat. Hat man sich aber bereits hinbegeben, so sollte man sich dort nicht niedersetzen. Welches aber sind diese neun Eigenschaften?

Man erhebt sich nicht in höflicher Weise, grüßt nicht in höflicher Weise, bietet nicht in höflicher Weise einen Sitz an; man versteckt, was man hat; obwohl viel da ist, gibt man wenig; obwohl Gutes da ist, gibt man Schlechtes; man gibt ohne Ehrerbietung, nicht mit Achtung; man setzt sich nicht hin, um die Lehre anzuhören; man findet an dem Vorgetragenen keinen Geschmack (PTS und Sinh.K: bhāsitassa na rāsiyanti (= Denom. von rasa); ChS: bhāsitam assa na sussussanti, 'hören dem von ihm Gesprochenen nicht gut zu').

(Hier folgt die Umkehrung.)


A.IX. 18 Der Segen des Fasttages

Wie A.VIII.44, Teil 1, mit Zusatz der folgenden neunten Eigenschaft:

Da durchdringt der edle Jünger mit einem von Güte erfüllten Geiste die eine Himmelsrichtung, ebenso die zweite, die dritte und vierte; so durchdringt er oben, unten, quer, inmitten, allerwärts, in allem sich wiedererkennend, die ganze Welt mit einem von Güte erfüllten Geiste, einem weiten, umfassenden, unermeßlichen, von Haß und Übelwollen befreiten. Mit diesem neunten Gliede ist er ausgestattet.

In dieser Weise befolgt, ihr Mönche, bringt der Fasttag der neun Entschlüsse hohen Lohn, hohen Segen, ist mächtig an Würde und Größe.


A.IX. 19 Die reuigen Himmelswesen

Diese Nacht, ihr Mönche, zu vorgerückter Stunde, kamen zahlreiche Gottheiten, mit ihrem herrlichen Glanz den ganzen Jetahain erleuchtend, zu mir heran, begrüßten mich ehrfurchtsvoll und standen zur Seite. Seitwärts stehend aber sprachen jene Gottheiten also zu mir:

»Früher, o Ehrwürdiger, als wir noch Menschen waren, da kamen Asketen zu unseren Häusern. Wir warteten ihnen zwar auf, o Ehrwürdiger, doch wir begrüßten sie nicht mit Ehrerbietung. Derart unvollkommen in Werken, voller Reue und Gewissensbisse, sind wir nun in niederer Himmelswelt wiedererschienen.

Noch andere zahlreiche Gottheiten kamen zu mir heran und sprachen: »Früher, o Ehrwürdiger, als wir noch Menschen waren, kamen Asketen zu unseren Häusern. Wir warteten ihnen zwar auf und begrüßten sie ehrfurchtsvoll, doch nicht boten wir ihnen Sitze an.« - Wieder andere kamen und sprachen: »Wohl boten wir den Asketen Sitze an, doch nicht teilten wir ihnen nach Kraft und Möglichkeit Gaben aus.« - Wieder andere sprachen: »Wohl teilten wir den Asketen nach Kraft und Möglichkeit Gaben aus, doch nicht setzten wir uns zu ihnen, um die Lehre zu hören.« - Wieder andere sprachen: »Wohl setzten wir uns zu den Asketen, um die Lehre zu hören, doch wir schenkten ihr nicht volles Gehör ... wir bewahrten nicht die vernommenen Lehren im Gedächtnis ... wir erforschten nicht den Sinn der im Gedächtnis bewahrten Lehren ... die Lehre und ihren Sinn kennend, lebten wir nicht der Lehre gemäß. Derart unvollkommen in Werken, voller Reue und Gewissensbisse, sind wir nun in niederer Himmelswelt wiedererschienen.«

Dann aber kamen andere zahlreiche Gottheiten zu mir heran und sprachen: »Früher, o Ehrwürdiger, als wir noch Menschen waren, da kamen Asketen zu unseren Häusern. Wir warteten ihnen auf, begrüßten sie ehrfurchtsvoll, boten ihnen Sitze an, teilten ihnen nach Kraft und Möglichkeit Gaben aus, setzten uns zu ihnen, um die Lehre zu hören, schenkten ihr volles Gehör, bewahrten sie im Gedächtnis, erforschten ihren Sinn und, die Lehre und ihren Sinn kennend, lebten wir der Lehre gemäß. Derart vollkommen in Werken, sind wir nun in höherer Himmelswelt wiedererschienen.«

Ihr habt nun, ihr Mönche, Plätze unter den Bäumen, habt leere Behausungen! Übet Vertiefung, ihr Mönche, und seid nicht lässig, damit euch später keine Reue ankommt wie jenen früheren Gottheiten!


A.IX. 20 Die Betrachtung der Vergänglichkeit - das höchste Verdienst

Im Jetahain bei Sāvatthī.

Der Erhabene sprach zu Anāthapindika, dem Hausvater:

»Gibt man wohl, Hausvater, in deinem Hause Almosen?«

-»Freilich, o Herr, gibt man in meinem Hause Almosen, und zwar groben roten Reis, und als zweites eine Reissuppe (*1).«

-»Ob da einer, o Hausvater, Grobes oder Feines als Almosen darreicht, gibt er es ohne Achtung und Höflichkeit, nicht eigenhändig, bloße Abfälle, ohne Glaube an eine Vergeltung, so empfindet sein Herz, wo auch immer die Wirkung der jeweiligen Gabe eintritt, keine Freude an vorzüglicher Speise, kostbaren Gewändern und stattlichen Wagen, keine Freude an den erlesenen fünf Sinnengenüssen (*2). Und seine Kinder, Frauen, Knechte, Dienstboten und Arbeiter gehorchen ihm nicht, hören nicht auf ihn, kümmern sich nicht um ihn. Und warum ist dies so? Weil eben Werke, die ohne Achtung ausgeführt werden, ein solches Ergebnis haben.

Ob da einer, o Hausvater, Grobes oder Feines als Almosen darreicht, gibt er es mit Achtung und Höflichkeit, eigenhändig, keine Abfälle, im Glauben an eine Vergeltung, so empfindet sein Herz, wo auch immer die Wirkung der jeweiligen Gabe eintritt, Freude an vorzüglicher Speise, kostbaren Gewändern, stattlichen Wagen, Freude an den erlesenen fünf Sinnengenüssen. Und seine Kinder, Frauen, Knechte, Dienstboten und Arbeiter gehorchen ihm, hören auf ihn und sind aufmerksam. Und warum ist dies so? Weil eben Werke, die mit Achtung ausgeführt werden, ein solches Ergebnis haben.

Einstmals, o Hausvater, lebte ein Brahmane namens Velāma. Dieser spendete folgende Gabe, eine gewaltige Gabe: er verschenkte vierundachtzigtausend mit Silber gefüllte goldene Gefäße, vierundachtzigtausend mit Gold gefüllte silberne Gefäße, vierundachtzigtausend mit Kleinodien gefüllte Bronzeschüsseln, vierundachtzigtausend goldgeschmückte, goldbeflaggte und mit goldgewirkten Netzen bedeckte Elefanten, vierundachtzigtausend mit Löwen-, Tiger- und Pantherfellen und gelben Wolldecken überzogene, goldgeschmückte, goldbeflaggte und mit goldgewirkten Netzen bedeckte Wagen, vieruntachtzigtausend mit Seide bedeckte und mit bronzenen Melkgefäßen behängte Kühe, vierundachtzigtausend mit edelsteinbesetzten Ohrringen geschmückte Jungfrauen, vierundachtzigtausend mit befransten, weißwollenen, blumengewirkten Decken und mit schönen Antilopenfellen gedeckte, mit Überdecken und mit purpurnen Kissen an beiden Bettenden versehene vornehme Ruhelager, vierundachtzigtausend Koti (*3) Gewänder aus feinster Leinwand, Seide, Wolle und Baumwolle. Was soll man da erst von Speise und Trank sagen, von den Kauwaren, Eßwaren, Leckereien und Getränken, die dort gleichsam in Strömen flossen?

Du möchtest nun wohl denken, Hausvater, daß der Brahmane Velāma, der damals solch große Gabe spendete, irgendein fremder Mensch gewesen war. Doch das sollst du nicht denken; denn der Brahmane Velāma, der damals jene große Gabe spendete, der war ich. Beim Spenden jener Gabe aber, o Hausvater, war kein Gabenwürdiger zugegen, keiner heiligte jene Gabe.

Bei weitem verdienstvoller als die große Gabe des Brahmanen Velāma ist es nun, o Hausvater, wenn man einen 'Erkenntnisbesitzenden' (*4) speist. Bei weitem verdienstvoller aber ist die Speisung von hundert Erkenntnisbesitzenden; bei weitem verdienstvoller die Speisung eines Einmalwiederkehrers; bei weitem verdienstvoller aber die Speisung von hundert Einmalwiederkehrern; bei weitem verdienstvoller die Speisung eines Niewiederkehrers; bei weitem verdienstvoller die Speisung von hundert Niewiederkehrern; bei weitem verdienstvoller die Speisung eines Heiligen; bei weitem verdienstvoller die Speisung von hundert Heiligen; bei weitem verdienstvoller die Speisung eines Einzelerleuchteten; bei weitem verdienstvoller die Speisung von hundert Einzelerleuchteten; bei weitem verdienstoller die Speisung des Vollendeten, Heiligen, vollkommen Erleuchteten; bei weitem verdienstvoller die Speisung der Mönchsgemeinde mit dem Erleuchteten an der Spitze; bei weitem verdienstvoller aber ist es, wenn man für die Mönchsgemeinde aller vier Himmelsrichtungen ein Kloster erbaut; bei weitem verdienstvoller, wenn man zuversichtlichen Herzens beim Erleuchteten, der Lehre und der Mönchsgemeinde Zuflucht nimmt; bei weitem verdienstvoller, wenn man zuversichtlichen Herzens die Sittenregeln auf sich nimmt: die Vermeidung von Töten, Stehlen, geschlechtlicher Ausschreitung, Lügen und Rauschmitteln; bei weitem verdienstvoller aber ist es, wenn man selbst nur soviel wie einen flüchtigen Duft *5) liebevoller Gesinnung (mettā-citta) erweckt; doch bei weitem verdienstvoller als all dies ist es, wenn man die Betrachtung der Vergänglichkeit übt, und wäre es nur für einen Augenblick (*6).«


(*1) Frage und Antwort beziehen sich hier, wie auch K bemerkt, bloß auf Bettler und andere Bedürftige, nicht aber auf Mönche, als deren größter Spender Anāthapindika bekannt war.

(*2) Hier ist offenbar ein Mensch gemeint mit einer angeborenen Vorliebe für das Rauhe, Unansehnliche, Abstoßende, und einem instinktiven Widerwillen gegen alles Schöne und Wohlgefällige, das er, selbst wenn es ihm angeboten wird, meist unter irgendwelchen Scheingründen abweist und oft gar noch in seinem Verhalten eine Tugend erblicken will.

(*3) Im gewöhnlichen Gebrauch, sagt K, habe ein Koti 20 Stück, in diesem Falle jedoch bloß zehn.

(*4) ditthisampanna, eine Bezeichnung des Stromergriffenen (sotāpanna).

(*5) gandhūhanamattam; K: die Zeitdauer des Riechens an einer Priese Duftpulver. K gibt als andere Lesart gaddūhanamattam und erklärt es als die Zeitdauer des einmaligen Säugens eines Kalbes am Kuheuter.

(*6) Wtl: während eines Fingerschnalzens. - K schreibt der Vergänglichkeitsbetrachtung diesen hohen Rang nur dann zu, wenn der damit befaßte intensive Klarblick seinen Höhepunkt erreicht hat (sikhāpatta-balava-vipassanā), so daß unmittelbar darauf die Erreichung einer der Heiligkeitsstufen folgt. - Wie dem auch sei - stetig gepflegte Vergänglichkeitsbetrachtung führt zur Einsicht auch in die beiden anderen Daseinsmerkmale (Leidhaftigkeit und Ichlosigkeit), und schließlich, nach Gewinnung des vollen Klarblicks, zum Nibbāna. Daher wird dieser Betrachtung vom Buddha ein so hoher Wert zuerkannt.


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