SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

III:12. Betrachtung der Zweiheit (Dvayatānupassanā-Sutta)

 

So habe ich gehört. Einst weilte der Erhabene in Sāvatthi, im Östlichen Klostergarten, in dem von der Mutter Migāra's* errichteten Stockwerk-Gebäude**. Damals nun - es war an einem Uposatha-Tag des halben Monats, in einer Vollmondnacht - hatte sich der Erhabene im Freien niedergesetzt, umgeben von der Mönchsschar. Da blickte der Erhabene über die völlig stille Mönchsschar hin und redete die Mönche an: "Was da, ihr Mönche, die heilsamen Lehren anbetrifft, die edlen, befreienden, zur Erleuchtung führenden, - was ist wohl für euch, o Mönche, hierbei der Grund, sie euch anzuhören? Wenn man euch, ihr Mönche, so fragt, dann wäre dies zu antworten: 'Eben nur zum Zwecke der wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis der zweiheitlichen*** Dinge.' Was aber bezeichnet ihr als Zweiheit?

 


* Laut K war die als 'Mutter Migaras' bezeichnete Stifterin dieses Klosters die berühmte Laien-Anhängerin Visākhā, die bei ihrem Schwiegervater, dem Kaufherrn Migāra, auf dessen Wunsch die Stelle der Hausmutter versah. -

** Unter pasāda, hier mit Stockwerk-Gebäude wiedergegeben, hat man nicht nur Terrassen, Türme oder Paläste zu verstehen, sondern, lt. K, auch Giebel-Wohnhäuser mit einem oder mehreren Stockwerken. Diese Bedeutung hat es vermutlich auch hier.

*** K: '.D.h. der sich auf die beiden Arten der Dinge, weltliche und überweltliche usw., richtende Klarblick (vipassanā); zu diesem Zweck und zu keinem weiteren. Soweit eben geht (der Zweck) des Hörens oder des Studiums (savanāya). Über dieses hinaus kommt dann die Erreichung höherer Ergebnisse (vises'adhigama; d.h. Vertiefungen, Heiligkeitspfade usw.) durch Geistes Entfaltung oder Meditation (bhāvanā)."


  

'Dies ist das Leiden; dies ist die Leidens-Entstehung',
das ist die eine Betrachtung.
'Dies ist die Leidens-Aufhebung; dies ist der zur Leidens-Aufhebung führende Pfad',
das ist die zweite Betrachtung*.

 


* K: "Das erste Glied dieser Zweiheit ist weltlich: das Leiden samt seiner Ursache; das zweite Glied ist überweltlich: die Aufhebung samt ihrer Methode."


 

Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet, dann kann man von ihm, sofern er unermüdlich, eifrig und entschlossen lebt, eines von zwei Ergebnissen erwarten: entweder das erlösende Wissen* bei Lebzeiten oder, wenn noch ein Haftensrest da ist, die Nichtwiederkehr."

 


* Das erlösende Wissen (aññā). Aññā ist eines der zahlreichen Pali-Worte für Erkenntnis, Einsicht u.ä., wofür unsere Sprache nicht im Entferntesten eine entsprechende Anzahl von Synonymen besitzt. Aññā wird nur für die höchste Erkenntnis benutzt, die mit der Gewinnung der Heiligkeit zusammenfällt. Die ausdrückliche oder angedeutete Erklärung eines Mönchs, die Heiligkeit erreicht zu haben, wird in den Texten stets ausgedrückt durch: die 'aññā' kundtun.


 

So sprach der Erhabene. Und nachdem der Gesegnete dies gesagt hatte, sprach der Meister ferner noch dieses:

 

724

Die nicht das Leiden kennen und des Leidens Ursprung,
Auch nicht, wo Leiden gänzlich, restlos wird zunichte:
Die jenen Weg nicht wissen, führend zu des Leidens Stillung,

 

725

Ermangeln Freiung des Gemüts und die durch Weisheit.
Nicht fähig, Endigung zu wirken, Geburt und Altern werden sie erfahren.

 


K: "Die mit der Heiligkeits-Frucht verbundene geistige Sammlung (arahattapphala-samādhi) ist, als Auflösung der Lust, die Gemüts-Befreiung (ceto-vimutti). Die mit der Heiligkeits-Frucht verbundene Weisheit (arahattapphala-paññā) ist, als Auflösung des Nichtwissens, die Weisheits-Befreiung (paññā-vimutti)."


 

726

Doch die das Leiden kennen und des Leidens Ursprung,
Und wo das Leiden gänzlich, restlos wird zunichte;
Die jenen Weg auch wissen, führend zu des Leidens Stillung,

 

727

Sind teilhaft der Befreiung des Gemüts und der durch Weisheit;
Befähigt, Endigung zu wirken, erfahren nicht mehr sie Geburt und Altern.

 

,Gibt es auch noch auf andere Weise eine rechte Betrachtung der Zweiheit?' Wenn man euch so fragt, ihr Mönche, dann wäre zu antworten: 'Das gibt es.' Und inwiefern gibt es das? 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch die Daseins-Stützen (upadhi) bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch der Daseins-Stützen restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach der Meister ferner noch dieses:

 

728

Bedingt durch Daseins-Stützen bilden sich die Leiden*,
Die in der Welt so mannigfach gestaltet.
Unwissend wer sich Daseins-Stützen schafft,
Stets neu gerät in Leid solch Tor.
Daher soll, wer erkennt, nicht Daseins-Stützen schaffen,
Er, der des Leids Geburt und Ursprung sieht.

 


* K: "d.h. bedingt durch triebverbundenes Wirken" (sāsavakamma-paccayā). Von den in Anm. v. 364 genannten vier Arten von Daseins-Stützen (upadhi) trifft hier also 'kamma-upadhi' zu.


 

,Gibt es auch noch eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Nichtwissen bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Nichtwissens restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach der Meister ferner noch dieses:

 

729

Die immer wieder hin sich wenden zum Kreislauf von Geburt und Tod,
Zum Dasein hier und anderwärts, - Unwissen ist's, das ihren Lauf bewirkt.

 


Kreislauf von Geburt und Tod (jāti-marana-samsāra). K: "Die Entstehung der Daseinsgruppen, das ist Geburt; der Zerfall der Daseinsgruppen ' das ist Tod; die Aufeinanderfolge der Daseinsgruppen, das ist die Wandelwelt oder der Kreislauf (khandha-nibbatti jāti, khandha-bhedo maranam, khandha-patipāti samsāram)."


 

730

Unwissen, wahrlich, ist der große Wahn,
Durch den man lange diese Welt durchlief.
Die Wesen aber, die zum Wissen kamen,
Nicht gehen sie mehr in neues Dasein ein.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch karmisches Gestalten (sankhāra) bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch restlose Vernichtung und Aufhebung des karmischen Gestaltens kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

731

Was irgend hier entsteht an Leiden, durch karmisches Gestalten* ist's bedingt.
Wenn aufgehört hat karmisches Gestalten, nicht gibt es mehr Entstehen von Leid.

 


* Karmisches Gestalten ist eine verdeutlichende Wiedergabe des Begriffs sankhāra in dem hier zutreffenden Sinne. Sankhāra hat nämlich, abgesehen von seinem Charakter als eine der Daseinsgruppen (khandha), eine aktive und eine passive Bedeutung: aktiv, als das 'Gestaltende' oder 'das Gestalten', d.i. der Wiedergeburt erzeugende karmische Wille; passiv, als 'das Gestaltete', d.i. die Daseinsgebilde. Hier, in dieser Variante der Bedingten Entstehung, trifft die aktive Bedeutung zu. Da sie in der üblichen Übersetzung durch das Abstraktum 'Gestaltung' nicht mit genügender Eindeutigkeit zum Ausdruck kommt, wurde die obige Wiedergabe gewählt.


 

732

Die dieses als das Elend wissen: 'Leid ist bedingt durch karmisches Gestalten',
Die wirklichkeitsgemäß erkennen, daß hier die Leid-Versiegung liegt:
Im Ruhefinden jeglichen Gestaltens, im Ende aller Illusionen, -

 


* K: "d.h. bedingt durch gutes, schlechtes und regloses (d.i. die vier unkörperlichen Vertiefungen) karmisches Gestalten" (puññāpunnāneñj-ābhisankhāra- paccayā).

Im Ruhefinden jeglichen Gestaltens (sabbasankhārasamathā); eine häufige Bezeichnung Nibbānas. Auch hier trifft u. E. die aktive Bedeutung von sankhāra zu, also: 'Stillen des karmischen Gestaltungs-Willens'. Denn dies ist die eigentliche 'Leid-Versiegung' (s. Zeile b), während der Ausfall der Daseinsgebilde lediglich die Folge-Erscheinung davon ist.

Unter dem gleichen Gesichtspunkt haben wir den zweiten Begriff dieser Verszeile saññānam uparodhanā zu betrachten. Saññā ist hier sicherlich nicht, wie in verschiedenen deutschen und englischen Übersetzungen, als 'Wahrnehmung' aufzufassen. Das Aufhören der Wahrnehmungen würde sicherlich nicht als das Leidens-Ende bezeichnet werden, da ja in der Heiligkeit bei Lebzeiten, dem Erlöschen der Leidenschaften (kilesa-nibbāna), die Wahrnehmungen noch ihren Fortgang nehmen und erst mit dem Tode des Heiligen, dem Erlöschen der Daseinsgruppen (khandha-nibbāna) schwinden Diese Bedeutung von saññā als 'Wahrnehmung' wird auch vom K gar nicht in Betracht gezogen. K erklärt: "das Aufhören des Sinnlichkeits-Gedankens usw. durch den Pfad"; er bezieht also offenbar diesen Begriff wieder, wie in v. 535, auf den 'dreifachen üblen Gedanken' der Sinnlichkeit, Gehässigkeit und Schädigung. Doch dies kann ebensowenig akzeptiert werden, da die Aufhebung dieser drei Gedanken noch keineswegs das Leidens-Ende bedeutet. Es wurde daher hier eine weitere Bedeutung von saññā herangezogen, nämlich '(falsche) Vorstellung' (wie in v. 886) und dementsprechend mit 'Illusion' übersetzt. Man möge hierbei an die vier Illusionen (vipallāsa) der Beständigkeit, Schönheit, Erfreulichkeit und Persönlichkeit denken. Eine interessante Querverbindung mit der Bedeutung 'Wahrnehmung' ergibt sich durch die bekannten kanonischen Gleichnisse für die fünf Daseinsgruppen in denen die Gruppe 'Wahrnehmung' mit einer Luftspiegelung (Fata Morgana) verglichen wird (maricik'ūpamā saññā; Samyutta-Nik. 22, 95). Ob unsere Wiedergabe den beabsichtigten Sinn des so viel deutigen Begriffs wirklich getroffen hat, muß freilich dahingestellt bleiben.


 

733

Die Wissensmeister sind durch rechte Schau, im rechten Wissen weise sind,
Des Māra Fesseln überwindend, nicht gehen sie mehr in neues Dasein ein.

 

,Gibt es auch noch auf andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Bewußtsein bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Bewußtseins restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

734

Was irgend hier entsteht an Leiden, durch das Bewußtsein ist all dies bedingt.
Doch wenn zum Schwinden kommt Bewußtsein,
nicht gibt es mehr Entstehen von Leid.

 


K: "d.h., bedingt durch das gleichzeitig mit Kamma entstandene gestaltende Bewußtsein (kamma-sahajāt'abhisankhāra-viññāna)."


735

Hat er als Elend dies erkannt: daß durch Bewußtsein Leiden ist bedingt,
Durch das Zuruhekommen des Bewußtseins
ist dann gestillt der Mönch, erlöst.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Sinnen-Eindruck bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Sinnen-Eindrucks restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses

 

736

Die da befangen sind im Sinnen-Eindruck, vom Daseins-Strome fortgerissen,
Die auf die falsche Bahn geraten, von Fessel-Lösung sind sie wahrlich fern.

 


K: "Es handelt sich hier um den mit gestaltendem Bewußtsein verbundenen Sinnen-Eindruck (abhisankhāraviññāna-sampayutta-phassa). Die in der Reihenfolge der 'Bedingten Entstehung' hier vorhergehenden Glieder 'Geist und Körper' (nāma-rūpa) und 'Sechssinn-Grundlage' (salāyatana), werden hier nicht erwähnt, sondern es wird gleich vom Sinnen-Eindruck gesprochen. Diese beiden Glieder sind nämlich mit Körperlichem vermischt und können daher nicht als mit Karma 'verbunden' (sampayutta) gelten. (Diese Bezeichnung einer engen Verbindung ist nämlich im Abhidhamma lediglich für geistige Dinge reserviert.) Dieses Leid des Daseinskreislaufs entsteht nämlich aus Karma oder aus den mit Karma (eng) verbundenen Dingen."


 

737

Doch die den Sinnen-Eindruck ganz verstanden,
in solchem Wissen nur das Hohe Stille lieben,
Sie, wahrlich, sind befriedet und erlöst
durch Sinnen-Eindrucks völlige Ergründung.

 


Das Hohe Stille (upasama), K = Nibbāna.

Völlige Ergründung, (phass') bhisamaya; K erklärt als 'Aufhebung' (nirodha); s. Anm. v. 342.


 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Gefühl bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Gefühls restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

738

Ob freudig oder leidig, oder keins von beiden,
Ob eigen oder fremd, was auch immer Gefühl ist,

 


K: "das mit Karma verbundene Gefühl."


 

739

Wissend: 'Es ist leidvoll, trügerisch, gebrechlich!',*1
Und sehend auch, wie's immer wieder an uns rührt und schwindet*2,
Entsüchtet*3 wird er beim Gefühl durch solch Erleben;
Und nach Versiegung süchtigen Gefühls*4, befriedet ist er dann, erlöst.

 


*1 Jegliches Gefühl (auch das angenehme) ist eine Ursache für Leiden und insofern selber leidvoll.

*2 phussa phussa vayam passam; andere Übersetzungsmöglichkeit: "immer wieder es erfahrend und es schwinden sehend". So erklärt auch K: "es mit der 'Erkenntnis vom Entstehen und Schwinden' (udaya-bbayañāna) immer wieder erfahrend."

*3 Gefolgt wurde der Lesart virajjati (entsüchtet wird er); so in einigen Ausgaben und auch in der Parallelstelle Samy. Nik. 36.2. Andere Lesart: vijānāti, also lernt er es verstehen.

*4 K: Nach Versiegung des mit Karma (-erzeugendem Willen) verbundenen Gefühls.


 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Begehren bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Begehrens restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

740

Wenn das Begehren sein Gefährte ist,
kreist lange Zeit der Mensch durchs Dasein.
Dem Werden hier und anderwärts,
dem Daseinskreislauf kann er nicht entgehen.

 


Begehren sein Gefährte (tanhā-dutiyo), wtl.: als Zweiter. Vgl. hierzu Samy.-Nik. 35.63, wo der Buddha sagt, daß ein Mönch, der wohl äußerlich abgeschieden und allein lebt, aber Begehren als seine Gefährtin hat, nicht als ein Einsiedler (ekavihārī) bezeichnet werden könne.


 

714

Hat er als Elend dies erkannt: 'Begehren ist des Leids Entstehung',
Frei von Begehren, ohne Greifen, soll achtsam wandern dann der Mönch.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Hangen (upādāna) bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Hangens restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

742

Bedingt durch Hangen ist das Werden. Geworden, sinkt man ein ins Leid.
Geboren wird man Tod erfahren, - so kommt es zum Entstehen des Leids.

 

743

Daher, wenn Hangen ist versiegt, die weise sind im rechten Wissen,
Durchschauend der Geburt Versiegung,
nicht geh'n sie mehr in neues Dasein ein.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Eingreifen (ārambba) bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch des Eingreifens restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

744

Was irgend hier entsteht an Leiden, durch Eingreifen ist es bedingt.
Wenn aber Eingreifen schwindet, nicht gibt es mehr Entstehen von Leid.

 


Eingreifen (ārambha). K: "Die mit Wiedergeburt erzeugendem Wirken verbundene Anstrengung" (kamma-sampayutta-viriya). - Ārambha hat folgende Bedeutungen: Beginn, die einsetzende Energie (vgl. ārambha-dhātu, ein Teilaspekt von viriya), Anstrengung; im Sanskrit auch: Unternehmung, Vorbereitung, Einleitung (zu einem Buch). Es handelt sich hier also offenbar um die erste entscheidende Annäherung an das Objekt, als Folge des im vorigen Abschnitt behandelten 'Hangens', d.i. verstärkten Begehrens. Es ist das faktische 'In-Angriffnehmen' des Objekts, sein 'Be-handeln' (im Sinne Laotses), der verbindliche und bindende Eintritt in eine Situation nach Aufgabe der Zurückhaltung. Vgl. in v. 953 das durch ein Präfix verstärkte viy-ārambha.


 

745

Hat er als Elend dies erkannt: 'Leid ist durch Eingreifen bedingt',
Hat er sich jeden Eingreifens entäußert, - er, der durch Nicht-Eingreifen frei,

 


durch nicht-Eingreifen frei (anārambhe vimuttino). K: anārambhe nibbāne vimuttassa, "der befreit ist in dem jedem Bemühen oder Eingreifenwollen enthobenen Nibbāna."


 

746

Der die Begier nach Dasein abgeschnitten, ein Mönch mit ruhevollem Geist,
Er hat den Kreislauf der Geburten überschritten,
nicht gibt es für ihn Wiedersein.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Nahrung bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch der Nahrungsformen restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

747

Was irgend hier entsteht an Leiden, durch Nahrung ist all dies bedingt.
Durch Aufhören der Nahrungsformen, nicht gibt es mehr Entstehen von Leid.

 


Der Plural (āhārānam nirodhena) weist auf die vier Nahrungsarten hin: stoffliche Nahrung, Sinnen-Eindruck, Wille und Bewußtsein.


 

748

Hat er als Elend dies erkannt: 'Durch Nahrung ist das Leid bedingt',
Wenn alle Nahrung er durchschaut, an keiner Nahrung hängt er an.

 

749

Wenn er Gesundheit recht versteht und seine Triebe sind versiegt,
Besonnen im Gebrauch (der Notdurft), fest stehend in der Wahrheits-Lehre,
Geht nicht mehr in Benennbarkeit er ein, als Wissensmeister.

 


Die Gesundheit, d.i. die wahre Gesundung von der chronischen Krankheit des steten Hungerns nach den vier Nahrungsarten, ist, lt. K, Nibbāna.

Geht nicht mehr in Benennbarkeit er ein (sankham n'opeti); eine der charakteristischen Wendungen des Sutta-Nipāta zur Bezeichnung der Unerfaßbarkeit des Heiligen. K: "Er fällt nicht mehr unter solche Benennungen wie Gott, Mensch usw."


 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da irgend an Leiden entsteht, alles das ist durch Regung (iñjita) bedingt', das ist die eine Betrachtung. 'Eben durch der Regungen restlose Vernichtung und Aufhebung kommt es nicht mehr zur Entstehung des Leidens', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

750

Was irgend hier entsteht an Leiden, durch Regung ist all dies bedingt.
Wenn aber Regungen schwinden, nicht gibt es mehr Entstehen von Leid.

 


Regung; iñjita bedeutet: Vibrieren, Erzittern, Bewegung, Erregung. Objektiv ist es die Unruhe der Welt, die in den Versen 937, 939 so ergreifend charakterisiert wird. Subjektiv ist es die entsprechende Erregbarkeit und Reizbarkeit durch innere und äußere Eindrücke, d.h. die Reiz-Empfänglichkeit jeden Grades; es ist die An-regung zum 'Eingreifen' (v. 744). Vgl. v. 1040f. - K: "Die Regungen sind: Begehren, Dünkel, Ansichten, Karma und die befleckenden Leidenschaften."


 

751

Hat er als Elend dies erkannt: 'Durch Regung ist das Leid bedingt',
Hat er daher der Wunsches-Regung sich entäußert,
zum Stillstand das Gestalten auch gebracht,
Unregsam, ohne anzuhangen, soll achtsam wandern dann der Mönch.

 


Wunsches-Regung. Hier steht im Text das sprachlich mit iñjita verwandte ejā, im K und MNidd stets mit 'Begehren' (tanhā) erklärt.

Zum Stillstand das Gestalten auch gebracht. K: "Karma und die damit verbundenen Sankhāras (hier wohl = cetasikā, 'Geistesfaktoren') aufhebend."


 

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Für den Abhängigen besteht Erzittern' (nissitassa calitam hoti), das ist die eine Betrachtung. 'Unabhängig, erzittert man nicht' (anissito na calati), das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 


Zum vorherigen Prosa-Abschnitt vgl. die ganz ähnliche Wendung in Majjh. 144: Nissitassa calitam, anissitassa calitam natthi.


 

752

Der Unabhängige erzittert nicht. Wer abhängt aber, wer da anhängt,
Das Dasein hier und anderwärts, die Wandelwelt kann er nicht überschreiten.

 

753

Hat er als Elend dies erkannt: 'In Abhängigkeiten liegt Gefahr',
Unabhängig, ohne anzuhangen, soll achtsam wandern dann der Mönch.

 


Abhängigkeiten (nissayesu). K nennt hier drei: Begehren, Ansichten und Dünkel; vgl. Anm. v. 363.

Die im vorigen Abschnitt behandelte 'Regung', für die hier 'Erzittern' (calita) ein Synonym ist, wird hier also auf das Sich-Abhängigmachen zurückgeführt.


 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Besser als die Welten reiner Form sind die formfreien', das ist die eine Betrachtung. 'Besser als die formfreien Welten ist die Aufhebung', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

754

Die Wesen reiner Form und die in formbefreiten Welten wohnen
Unwissende der Aufhebung, sind Wanderer sie zum Wiedersein.

 

755

Doch die durchschaut die Welten reiner Form
und nicht verwurzelt in den formbefreiten,
Durch Aufhebung (Nibbāna) sind sie erlöst; solch Wesen lassen hinter sich den Tod.

 


Nicht verwurzelt (asanthitā); diese im burmes. Mskr. gegebene Lesart ist sinngemäß vorzuziehen derjenigen in der siames. und PTS-Ed.: susanthitā (gut gegründet); auch die Parallele Itivutt. 51 hat asanthitā.


 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da, ihr Mönche, in der Welt mit ihren Himmelswesen und Māra-Göttern, mit ihrer Schar von Asketen, Priestern, Göttern und Menschen als wahr angesehen wird*, das wird von den Edlen der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit als irrig erkannt', das ist die eine Betrachtung. 'Was da, ihr Mönche, in der Welt mir ihren Himmelswesen und Māra-Göttern, mit ihrer Schar von Asketen, Priestern, Göttern und Menschen als irrig angesehen wird**, das wird von den Edlen der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit als wahr erkannt', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 


* K: "nämlich der für beständig usw. gehaltene Geist und Körper (nāma-rūpa)."

** K: "d.i. das Nibbāna; dieses wird nämlich von der Welt als nicht bestehend angesehen, weil sich in ihm Körper, Gefühl usw. nicht finden."


 

756

Sieh hier die Welt mit ihrer Götterschar: Ichloses wähnt sie als ein Ich!
In Geist und Körper eingewöhnt, meint sie, daß dies die Wahrheit sei.

 


Zeile a. - Richtige Lesart: atta-mānim, 'als ein Ich dünkend' (Akkus.).

Zeile b. - K: "nämlich daß Geist und Körper die 'Wahrheit' sei, im Sinne ihrer Beständigkeit, Reinheit usw.


 

757

,Was auch immer sie vermeinen, anders wird es doch geraten*!'
Denn als Irrtum hat ihr dies zu gelten, und Irriges hat nicht Bestand .

 


* K: "nämlich, wenn sie von der Körperlichkeit, dem Gefühl usw. glauben: 'Mein ist die Körperlichkeit usw.'" - Diese Verszeile, die häufig im Kanon vorkommt (z.B. auch v. 588), ist offenbar eine sprichwörtliche Redewendung.


 

758

Ein Zustand ohne Irrtum ist Nibbāna; dies wissen Heilige als wahr.
Sie, wahrlich, sind gestillt, erlöst, nachdem die Wahrheit sie durchschaut.

 

,Gibt es auch noch auf eine andere Weise . . . (wie oben). 'Was da, ihr Mönche, in der Welt mit ihren Himmelswesen und Māra-Göttern, mit ihrer Schar von Asketen, Priestern, Göttern und Menschen als Glück angesehen wird, das wird von den Edlen der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit als Leid erkannt', das ist die eine Betrachtung. 'Was da, ihr Mönche, in der Welt . . . als Leid angesehen wird, das wird von den Edlen der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit als Glück erkannt', das ist die zweite Betrachtung. Wenn ein Mönch so in rechter Weise die Zweiheit betrachtet . . . (wie oben) . . . sprach ferner der Meister noch dieses:

 

759

All jene Formen, Töne, Säfte, Düfte und die Berührungen, Gedanken,
Soweit sie angenehm, erwünscht sind und erfreulich,

 

760

Wenn sie bestehen, gelten sie der Welt als Glück;
Und wenn sie schwinden, gilt es ihr als Leid.

 


"z.B. gilt der Motte das Licht, dem Fische der Köder, dem Affen die Leimrute als 'Glück' (d.h. als etwas Angenehmes und Erstrebenswertes)."


 

761

Als Glück erkennen es die Heiligen: Zunichtewerden dieses Ichgebildes;
Der ganzen Welt ist freilich dies zuwider, nicht aber denen die verstehen*.

 


* Im Pali-Text ist zu trennen: sabbaloke, na passatam; PTS-Ed. hat fälschlich sabbalokena.


 

762

Was Glück ist für die anderen, leidig nennt's der Heilige;
Was leidig gilt den anderen, der Heilige weiß es als das Glück.
Sieh diese Lehre*, die so schwer erkennbar!
Die Einsichtslosen sind hierbei verwirrt!

 


* Diese Lehre, d.i. Nibbāna (K).


 

763

Wie Finsternis ist's denen, deren Blick verschleiert,
Und Dunkelheit für solche, die nicht sehen.
Den Guten aber ist es offenbar, gleichwie den Sehenden das Licht.
Obgleich so nahe*, bleibt es fern den Toren,
Den Unerfahrenen in der Lehre bleibt es unverständlich!

 


* K: "Es ist das Nibbāna, welches hier als 'nahe' bezeichnet wird, weil man es unmittelbar erreichen kann, wenn man beim eigenen Körper bloß die mit 'Haut' endende Fünfergruppe (taca-pañcaka) meditativ erfaßt hat (d.h. die ersten fünf der 37 Körperteile); oder es gilt auch als 'nahe', weil es bloß in der Aufhebung der eigenen Daseinsgruppen (khandha) besteht."


 

764

Die in der Daseinslust befangen, vom Daseins-Strome fortgerissen,
Die ins Bereich des Todes sind geraten, nicht leicht begreiflich ist für sie die Lehre.

 

765

Wer könnte, außer Heiligen, jene Stätte auch begreifen,
Wo Triebbefreite sind erlöst in höchster Weisheit!

 

So sprach der Erhabene. Beglückten Herzens freuten sich jene Mönche über das Wort des Erhabenen. Während aber diese Lehrdarlegung gesprochen wurde, löste sich bei sechzig Mönchen das Herz ohne Haften von den Trieben.

 

 


Nachbemerkung zur Sutte "Betrachtung der Zweiheit"

 

Den Haupt-Teil dieser Sutte bildet eine verkürzte Fassung der 'Bedingten Entstehung' (paticca-samuppāda), wobei jedes einzelne Glied als eine Bedingung für die Leid-Entstehung und dessen Aufhebung als eine Bedingung für die Leid-Auflösung behandelt wird. Dies mag als ein zusätzlicher Beleg für die Auffassung des südlichen (Theravāda-) Buddhismus dienen, daß die Reihe der 'Bedingten Entstehung' weder eine Kosmogonie noch eine Entwicklungstheorie des Lebens vom Embryonalzustand angefangen geben will, sondern lediglich dazu dient, die bedingte Entstehung des Leidens aufzuzeigen und seine durch die Bedingtheit gegebene Aufhebbarkeit.

 

Die Zweiheit, das Grundmotiv dieser Sutte, ist nichts anderes als die 'vorwärtswendige und rückwendige' Reihe der 'Bedingten Entstehung' (anuloma-patiloma-paticca-samuppāda).

 

Wir dürfen wohl dem Kommentar darin zustimmen, daß die 'Bedingte Entstehung' in dieser Sutte unter dem Gesichtspunkt des Karma behandelt wird und daß aus diesem Grunde diejenigen Glieder, welche körperliche Elemente, also Karma-Wirkungen, enthalten (s. Anm v. 736), fortgelassen wurden. Aus dem gleichen Grunde wurden wahrscheinlich die letzten drei Glieder (Werden usw.) nicht in besonderen Strophen behandelt, sondern nur in v. 742 erwähnt.

 

Nachstehend folgt eine Übersicht über die Gliederung der Sutte und eine teilweise Gegenüberstellung mit der 'Bedingten Entstehung':

 

"Betrachtung der Zweiheit"

Bedingte Entstehung

I. (v. 724-727) Die vier Wahrheiten

II. (v. 728) Daseins-Stützen (upadhi

= Karma *)

(2) Karmisches Gestalten (sankhara)

III. (v. 729-730) Nichtwissen

(1) Nichtwissen (avijja)

IV. (v 731-733) Karmisches Gestalten

(2) Karmisches Gestalten (sankhara)

V. (v. 734-735) Bewußtsein

(3) Bewußtsein (viññāna)

VI. (v. 736-737) Sinnen-Eindruck

(4) Geist und Körper (nāmarūpa)

VII. (v. 738-739) Gefühl

(5) Sechssinn-Grundlage (salayatana)

VIII.(v. 740-741) Begehren

(6) Sinnen-Eindruck (phassa)

IX. (v. 742-743) Anhangen

(7) Gefühl (vedana)

(8) Begehren (tanhā)

(9) Anhangen (upadana)

   Hier ist ferner die Fortsetzung der Bedingten Entstehung erwähnt: 

Werden

(10) Werden (bhava)

Geburt

(11) Geburt (jāti)

Tod

(12) Alter und Tod (jara-marana)

   Zusätzliche 'Zweiheiten

X. (v. 744-746) Eingreifen (arambha) und dessen Aufhebung

XI. (v. 747-749) Nahrung (ahara) und deren Aufhebung

XII. (v. 750-751) Regung (injita) und deren Aufhebung

XIII. (v. 752-753) Abhängigkeit (nissaya) und ihre Aufhebung

XIV. (v. 754-755) Die höheren Welten bzw. Vertiefungen und ihre Aufhebung

   (In den folgenden Versen erscheinen die Zweiheiten als eine Umkehrung der Wertungen, und zwar:)

XV. (v. 756-758) hinsichtlich Wahrheit und Irrtum

XVI. (v. 759-762) hinsichtlich Glück und Leid

XVII. (v. 763-765) Abschluß. - Aus der 'Umkehrung der Wertungen' ergibt sich die schwere Erkennbarkeit der Lehre, die hier behandelt wird.

 

* Wenn die Identifizierung von upadhi mit Karma zutrifft, so dienen die Abschnitte II bis IV offenbar dazu, die wechselseitige Abhängigkeit von Karma und Nichtwissen aufzuzeigen.


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