Vis. VII. 4. Die Betrachtung über die Sittlichkeit (sīlānussati)
Als "Betrachtung über die Sittlichkeit" gilt die betreffs der Sittlichkeit
aufgestiegene Betrachtung; damit bezeichnet man jene Achtsamkeit, die die
Vorzüge der Sittlichkeit zum Vorstellungsobjekte hat, nämlich ihr
Ungebrochensein usw.
Wer aber die Betrachtung über die Sittlichkeit zu entfalten wünscht, begebe sich in die Einsamkeit, und abgeschieden gedenke er der eigenen Sittlichkeit d.i. hinsichtlich ihres Ungebrochenseins und der übrigen Vorzüge, nämlich: "Wahrlich meine Sittlichkeit ist ungebrochen, lückenlos, ungescheckt, ungetupft, befreiend, von den Weisen gepriesen, unberührt, zur Sammlung führend" (A.III.71; VI.10; XI.12).
Der Hausbewohner gedenke der Sittenregeln der Hausbewohner, der Mönch der
Mönchsregeln. Seien es nun die Sittenregeln der Hausbewohner oder seien es die
Mönchsregeln: diejenigen Sittenregeln, von denen weder im Anfang noch am Ende
irgend eine gebrochen ist, diese gelten, weil sie nicht wie ein am Rande
zerrissenes Übergewand gebrochen sind, als "ungebrochen".
Diejenigen Sittenregeln, von denen in der Mitte auch nicht eine einzige
gebrochen ist, diese gelten, weil sie nicht wie ein in der Mitte durchlöchertes
Übergewand eine Lücke haben, als "lückenlos".
Diejenigen Sittenregeln, von denen nicht etwa zwei oder drei der Reihe nach gebrochen sind, die also nicht gescheckt sind wie eine Kuh mit einem Körper von schwarzer, roter oder anderer Farbe, die auf dem Rücken oder am Bauche mit ungleichfarbigen Flecken von langer, runder oder anderer Form bedeckt ist, diese gelten als "ungescheckt".
Diejenigen Sittenregeln, die nicht hier und da gebrochen sind, diese gelten,
weil sie nicht wie eine durch ungleiche Tupfen gezeichnete Kuh getupft sind, als
"ungetupft".
Oder ganz allgemein: alle Sittenregeln, sofern sie nicht mit der siebenfachen
Geschlechtsfessel oder mit Zorn, Wut und den übrigen bösen Eigenschaften
behaftet sind, gelten als ungebrochen, lückenlos, ungescheckt, ungetupft.
Als "befreiend" gelten sie, weil sie den Zustand der Befreiung bewirken,
sofern sie von der Sklaverei des Begehrens befreien.
Als "von den Weisen gepriesen" gelten sie, weil sie von den Erleuchteten und
den anderen Weisen gepriesen werden.
Als "unberührt" gelten sie, weil sie unberührt sind von Begehren. Ansichten u.dgl.; oder weil niemand daran Anstoß nehmen kann, sagend: 'Dieser Makel findet sich in deinen Sitten'.
Als "zur Sammlung führend" gelten sie, weil sie zur Angrenzenden oder Vollen
Sammlung, oder aber auch zur Sammlung der Pfade und der Pfadergebnisse führen.
Wer so der eigenen Sitten gedenkt hinsichtlich ihres Ungebrochenseins und der
übrigen Vorzüge, dessen Geist ist zu einer solchen Zeit weder von Gier, noch von
Haß, noch von Verblendung besessen; ganz aufgerichtet ist zu einer solchen Zeit
sein Geist angesichts der Sittlichkeit. In wem solcherart in der oben
besprochenen Weise die Hemmungen gelähmt sind, in dem steigen gleichzeitig die
Vertiefungsglieder auf. Infolge der Unergründlichkeit der Sitten aber oder
infolge des Bestrebens, sich der vielartigen Vorzüge zu erinnern, erreicht die
Vertiefung nicht die 'volle sondern bloß die 'angrenzende' Stufe. Weil diese nun
auf Grund der Erinnerung an die Vorzüge der Sittlichkeit aufgestiegen ist, darum
gilt sie als die Betrachtung über die Sittlichkeit. Der aber dieser Betrachtung
über die Sittlichkeit hingegebene Mönch ist voller Achtung vor der Schulung, von
anteilsvollem Wesen, von unermüdlicher Freundlichkeit, scheut sich vor den
kleinsten Fehltritten, gewinnt volles Vertrauen usw., ist stets von Begeisterung
und Frohsinn erfüllt; und sollte ein solcher nicht weiter vordringen, so ist er
doch einer glücklichen Daseinsfährte gewiß.
Drum möge sich des ernsten Strebens
Befleißigen der weise Mann
In der Betrachtung seiner Sitten,
Die solche hohe Macht besitzt.
Dies nun ist die ausführliche Darlegungsweise der Betrachtung über die Sittlichkeit.