Visuddhi Magga I

9. In der Sinnenzügelung bestehende Sittlichkeit (43a) (indriya-samvara-sīla)

 

Was die in Sinnenzügelung bestehende Sittlichkeit betrifft, die unmittelbar hierauf angedeutet wird in den Worten: "Erblickt er mit dem Auge eine Form usw.", so bezieht sich darin "er" auf den Mönch, der feststeht in jener Sittlichkeit, die als Zügelung gemäß der Ordenszucht gilt. 'Erblickt er mit dem Auge eine Form' bedeutet: sobald er eine Form erblickt mit dem des Formenerkennens fähigen Sehbewußtsein, das gewöhnlich durch sein Werkzeug, das Auge, bezeichnet wird.

 

Die alten (Kommentare) nämlich sagen: "Das Auge sieht nicht, da es ohne Bewußtsein ist, und das Bewußtsein sieht nicht, da es ohne Auge ist (*)." Man sieht mit dem, die 'Sensitivität des Auges' (cakkhu-pasāda) zur Grundlage habenden Bewußtsein, sobald das Vorstellungsobjekt die (Seh-) Pforte trifft. Eine derartige Darlegung jedoch gibt bloß das Hilfsmittel an, genau wie man sagt, daß jemand mit dem Bogen (statt mit dem Pfeile) schieße u.dgl. Somit ist die Bedeutung hier: 'wenn er mit dem Sehbewußtsein eine Form erblickt'.

(*) Das ist eine in Kath.p.573 behandelte Streitfrage. Vgl. auch Masuda, Origin and doctrines of early Indian Buddhist Schools, Leipzig 1925, p.23.

 

"Er haftet nicht an der Gesamterscheinung" (na nimitta-ggāhī) bedeutet, daß er nicht festhält an der Erscheinung des Mannes oder Weibes oder an der die Grundlage für die 'Verderbtheiten' (kilesa) bildenden Vorstellung des Lieblichen (subha-nimitta) usw. (nämlich des Abstoßenden). Er hält ein, sobald er etwas gesehen hat.

 

"Er haftet nicht an den Einzelheiten" (n'ānuvyañjana-ggāhī) bedeutet, daß er nicht festhält an den verschiedenen Nebenmerkmalen, wie Hand, Fuß, Lächeln, Lachen, Sprechen, Wegblicken usw., die man als Nebenmerkmale bezeichnet, weil sie sich kundtun als Nebenmerkmale der Verderbtheiten.

 

Was da Wahrheit ist, daran hält er fest (nämlich an der Unreinheit der 32 Bestandteile des Körpers; VIII. 2), wie der Ordensältere Mahātissa, der Bewohner des Cetiyaberges.

 

Einst nämlich, so sagt man, hatte in einer gewissen Familie die Schwiegertochter sich mit ihrem Gatten gezankt; und, schön aufgeputzt und geschmückt wie eine himmlische Jungfrau, brach sie ganz frühe von Anurādhapura auf, um sich zum Hause ihrer Verwandten zu begeben.

Unterwegs aber erblickte sie den Ordensälteren, der gerade vom Cetiyaberge gekommen war und sich nach Anurādhapura zum Almosengange begab; und verdorbenen Herzens lachte sie dabei laut auf. Als nun der Ordensältere aufblickte, um zu sehen, was da los sei, gewann er beim Anblick ihres Zahngebisses (wörtlich der Zahnknochen) die Vorstellung von der Unreinheit und erreichte dadurch die Heiligkeit.

 

"Beim Anblick ihrer Zähne dacht' er
An frühere Betrachtungen,
Und noch am selben Orte weilend
Erreichte er die Heiligkeit."

 

Ihr Gatte, der ihr auf dem Wege nacheilte, traf ebenfalls den Ordensälteren und fragte ihn, ob er irgend eine Frau gesehen habe. Der Ordensältere erwiderte:

 

"Nicht weiß ich, was den Weg entlang lief,
Ob weiblich' oder männlich' Wesen,
Doch das weiß ich: ein Knochenbündel
Bewegt sich auf der Straße fort."

 

"Insofern in ihn usw." (siehe 43) bedeutet: Aus welchem Grunde oder durch welches Nichtgezügeltsein des Sehsinnes bedingt, in diesen Menschen - falls er mit unverschlossener Sehpforte verweilt und nicht mit dem Tore der Achtsamkeit (sati) den Sehsinn abschließt - Dinge wie Gier usw. einströmen und ihn verfolgen möchten.

 

"Er bemüht sich, dieses Auge zu zügeln" bedeutet: er bemüht sich, diesen Sehsinn vermittels des Tores der Achtsamkeit abzuschließen. Und wer sich da solcherart bemüht, von dem heißt es, daß er das Auge hütet und daß er Herrschaft darüber gewinnt. Zwar gibt es beim Auge weder Zügelung noch Nichtzügelung, und nicht entsteht zufolge der Sensibilität des Auges Achtsamkeit oder Unachtsamkeit. 

Solches aber nennt man 'Nichtgezügeltsein hinsichtlich des Sehsinnes'.

 

Und warum? Weil, wenn solches besteht, auch die (Seh-) Pforte unbewacht ist, ebenso das Unterbewußtsein und 'die den geistigen Vorgang bildenden Bewußtseinsmomente' (vīthi-citta), wie Aufmerken usw.

Und womit ist solches vergleichbar? Mit einer Stadt; denn obgleich das Innere der Häuser, sowie 'Toreingänge, Gemächer usw. wohl verschlossen sein mögen, so ist dennoch, wenn die vier Stadttore unverschlossen sind, auch im Innern der Stadt alle Habe unbewacht und unbeschützt, weil eben die Räuber durch die Stadttore eintreten und machen können, was sie wollen. So auch ist, wenn während der 'Impulsiv-Momente' (javana-kkhana) Unsittlichkeit usw. auftritt - eben weil dann Nichtgezügeltsein besteht - auch die (Seh-) Pforte unbewacht, ebenso das Unterbewußtsein und die den geistigen Vorgang bildenden Bewußtseinsmomente, wie Aufmerken usw.

 

Wenn aber im Impulsivmomente Sittlichkeit usw. auftreten, so ist auch die (Seh-) Pforte bewacht, ebenso das Unterbewußtsein und die den geistigen Vorgang bildenden Bewußtseinsmomente, wie Aufmerken usw. Und womit ist solches vergleichbar? Mit einer Stadt; denn obgleich selbst das Innere der Häuser usw. unverschlossen sein mag, so ist dennoch, wenn die Stadttore gut verschlossen sind, auch im Innern der Stadt alle Habe wohl bewacht und beschützt; denn weil die Stadttore gut verschlossen sind, haben die Räuber keinen Zutritt. So auch ist, wenn im 'Impulsivmomente' Sittlichkeit usw. auftreten, auch die (Seh-) Pforte bewacht, ebenso das Unterbewußtsein und die den geistigen Vorgang bildenden Bewußtseinsmomente, wie Aufmerken usw. Darum bezeichnet man die Zügelung, obgleich sie im Impulsivmomente auftritt, dennoch als 'Zügelung hinsichtlich des Sehsinnes'.

 

Für den Ausdruck: "Hört er mit dem Ohre einen Ton usw." gilt genau dieselbe Erklärung.

 

Somit hat man, kurz gesagt, die in Sinnenzügelung bestehende Sittlichkeit aufzufassen als gekennzeichnet durch Vermeidung des Festhaltens an der an die befleckenden Leidenschaften fesselnden Gesamterscheinung bei den Sehobjekten usw.


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