Visuddhi Magga I

3. In welchem Sinne hat man Sittlichkeit zu verstehen?

 

Sittlichkeit hat man zu verstehen im Sinne von Sittenausübung.

Und was ist diese Sittenausübung?

Sie ist das Koordinieren, d.h. die Widerspruchslosigkeit der körperlichen und anderer Taten kraft guten Sittenwandels.

Oder: sie ist die Unterlage, d.h. die Stütze, im Sinne einer Grundlage, für die verdienstvollen Zustände. Alle, die sich auf Worterklärungen verstehen, geben diesen doppelten Sinn hier zu.

 

Andere (Vgl. Vorwort zur 1.Auflage) aber erklären hier den Sinn in der Weise, daß Sittlichkeit (sīla) 'Haupt' (siras) oder 'Kühlung' (sītala) usw. bedeute.


Vis. I. 4. Was sind Merkmal, Wesen, Äusserung und Grundlage der Sittlichkeit?

 

Ihr "Merkmal" (lakkhana) ist die Sittenübung,
Wenn sie auch vielgeteilt erscheint,
Wie für die vielgeteilten Farben
Die Sichtbarkeit ihr Merkmal ist.

 

Denn gerade wie das Gebiet der Farben, trotz der mannigfachen Einteilung in blau, gelb usw., eben die Sichtbarkeit als Merkmal hat und trotz jener Einteilung über das Sichtbarsein nicht hinausgeht, genau so auch hat, trotz ihrer mannigfachen Einteilung, die Sittlichkeit als Merkmal eben die Sittenausübung, die erklärt wurde als das Koordinieren der körperlichen und anderen Taten und als die Grundlage der heilsamen Zustände. Und von der solches Merkmal zeigenden Sittlichkeit wurde gesagt:

 

"Im Tilgen üblen Sittenbrauchs
Und ihrer Unverdorbenheit:
Darin ihr ganzes "Wesen" liegt,
Als 'Zustand' und als 'Tätigkeit'."

 

Somit besteht diese Sittlichkeit, in ihrem Wesen als Tätigkeit, im Zerstören der Unsittlichkeit; und, in ihrem Wesen als erlangtem Zustand, in Untadeligkeit. Denn in dem Ausdrucke: "Merkmal usw." gilt 'Wesen' (rasa) entweder als Tätigkeit (kicca) oder als Zustand (sampatti).

[Als Wesen (rasa) einer Sache gilt sowohl ihre Tätigkeit (kicca) oder Funktion (kicca-rasa) als auch ihr Zustand (sampatti).]

 

Die Weisen haben dargetan,
Daß sie als Reinheit sich erzeigt
Und daß Gewissensscheu und Scham
Für sie die Unterlage sind.

 

Diese Sittlichkeit nämlich zeigt sich in ihrer "Äusserung" (paccupatthāna) als Reinheit, nämlich als Reinheit in Werken, Worten und Gedanken; und durch Reinheit tut sie sich kund und tritt in einen festen Zustand ein.

 

Schamgefühl (hiri) und Gewissensscheu (ottappa) aber werden von den Weisen als ihre "Grundlage" (pada-tthāna), d.i. als ihr nächster Grund, erklärt. Denn sind Schamgefühl und Gewissensscheu anwesend, so festigt sich die Sittlichkeit; fehlen diese aber, so kann Sittlichkeit weder entstehen noch sich festigen.

 

In dieser Weise sind Merkmal, Wesen, Äußerung und Grundlage der Sittlichkeit zu verstehen. 


Vis. I. 5. Welches sind die Segnungen der Sittlichkeit?

 

Ihre Segnungen bestehen in der Erlangung der Reuelosigkeit (avippa-tisāra) und vieler andrer Vorzüge.

 Es wird nämlich gesagt (A.X.1): "Die guten Sitten, Ananda, haben die Reuelosigkeit zum Segen."

 Ferner wird gesagt (D.16; A.V.213): "Folgende 5 Segnungen, ihr Hausleute, werden dem Sittenreinen für seine Erfüllung der Sittlichkeit zuteil: welche fünf?

 

 

Weitere zahlreiche Segnungen der Sittlichkeit - beginnend mit dem Lieb- und Angenehmsein und endend mit der Triebversiegung (āsavakkhaya) - werden besprochen in der Rede (M.6): "Wünscht sich, ihr Mönche, der Mönch, dass er seinen Ordensbrüdern lieb und angenehm sei und von ihnen geachtet und geehrt werde, so soll er die Sittengebote erfüllen" usw.

Somit bestehen die Segnungen der Sittlichkeit in vielen Vorzügen, wie Reuelosigkeit und anderen. Und außerdem:

 

"Wer kann die Segensgrenze nennen
Des Sittenwandels, ohne den
Es keinen Halt gibt in der Lehre
Für all' die Söhne edler Art!

 

"Nicht Ganges und nicht Yamunā,
Nicht Sarabhū, Sarasvati,
Nicht Aciravatī, Mahī:
Nicht können diese Ströme all

 

"Die Lebewesen in der Welt
Von ihrem Schmutze je befrei'n;
Vom Schmutze kann sie nur befrei'n
Das Wasser edler Sittlichkeit.(*1)

 

"Die Winde nicht, die regenschwangern,
Auch nicht das gelbe Sandelholz,
Nicht Perlenketten, Edelsteine,
Auch nicht das milde Mondeslicht,

 

"Kann stillen hier der Wesen Qual.
Nein, nur die edle Sittlichkeit,
Die wohlbefolgte, kühlende,
Bringt allen Wesen Linderung.
"Wie gliche wohl ein andrer Duft
Jemals dem Duft der Sittlichkeit,
Dem Duft der mit dem Winde weht
Und der dem Wind entgegengeht!

 

"Wie gäb' es gleich der Sittlichkeit
Wohl eine andre Himmelsleiter!
Wie gäb' es wohl ein andres Tor,
Das zu des Nirwahns (nibbāna) Stätte führt!

 

"Wenn auch mit Perlenschmuck geschmückt:
Kein Fürst erstrahlt in solchem Glanz
Wie ein Asket, ein Einsiedler,
Im Schmucke seiner Sittlichkeit.

 

"Jedweder Furcht vor Selbstverachtung
Die Sittlichkeit ein Ende macht,
Und Glück und Ehre bringet sie
Dem Manne, der sie rein befolgt.

 

"So ist die Rede zu verstehn
Vom hohen Lohn der Sittlichkeit,
Die aller Tugend Wurzel ist
Und aller Übel Macht zerstört."

 (*1) Dies steht im Gegensatz zu der irrigen Meinung der Hindus, sich im Wasser des Ganges die Sünden abwaschen zu können.  


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