Vorwort zum Majjhima Nikaya

VORWORT DES HERAUSGEBERS ZUR NEUEN GESAMTAUSGABE (1956)

Die Begegnung mit den Reden Gotamo Buddhos ist ein geistiges Ereignis von unvergleichlicher Bedeutung. Manche traf sie, nach ihrem Bekenntnis, mit der Macht des Blitzstrahls, so plötzlich, so gründlich, daß alles vorher Gedachte, Getane als Irrtum erkannt und verworfen wurde; andern wieder, allmählich Verstehenden, ist sie dann lebenslang Anhalt gewesen, hat viele bereichert, unsagbar beglückt, im Herzen gestärkt, aus Leiden erhoben, zu Duldung erzogen, im Geiste erhellt und von Fesseln befreit. Daß es aber zu einer solchen Begegnung und, je nach Bereit- und Gefolgschaft, zu so viel Gutem kommen konnte, hatten die der Ursprache Unkundigen der wunderbaren, sinn- und wortgetreuen Übertragung jener Reden durch Karl Eugen Neumann zu danken. Denn mit ihr, der überhaupt ersten, waren die herrlichen Pāli-Texte, die Behälter der noch unverfälschten Lehren des Erwachten, war Gotamo selbst zu Leben und Wirkung im Deutschen gelangt. Wie im melodisch kraftvollen Pāli wird auch in Karl Eugen Neumanns Transplantation wieder alles wie dort zu derselben bezaubernden Mischung von Anmut und Kraft, unübertrefflich für alle Zeiten im Deutschen mit magischen Worten geprägt: von den einfach berichtenden Sätzen an, der Beschreibung von Ort und Geschehnis, dem Gehaben der Personen, dem Gespräch der Jünger, der liebevollen Unterweisung einzelner oder vieler im Erkennen und Üben des Notwendigen, des Weiterkämpfens nach jedem Erreichten, unermüdlich, Schritt um Schritt, bis zu den machtvollen Ansprachen des Erhabenen, dem Löwenruf, wie es heißt, des Vollendeten: der Darstellung der Pfeiler, der Enthüllung der Gipfel der Lehre in den gewaltigsten Reden des Meisters. Darum war es tief zu beklagen, daß ungünstige Umstände das Wiedererscheinen der lange vergriffenen Übertragungen Karl Eugen Neumanns verhinderten. Darum ist es laut und hoch zu preisen, daß - und gerade im buddhistischen Festjahre 1956/57 - alle zehn Bände des bedeutendsten deutschen Schriftwerks unserer Epoche wieder zugänglich geworden sind.

Alle zehn Bände: das heißt, deren unverkürzter Inhalt. Dieser ist in der vorliegenden Gesamtausgabe der Übertragungen Karl Eugen Neumanns aus dem Pāli-Kanon auf drei Bände verteilt worden.

Durch diese Einteilung in nur drei Bände gewinnt das umfangreiche Werk an Übersichtlichkeit. Der Leser hat nun alle 152 Reden der Mittleren Sammlung, die früher in drei Bänden erschienen waren, in einem beisammen. ihrer Bedeutung entsprechend bildet die Mittlere Sammlung den ersten Band dieser Gesamtausgabe. Der zweite enthält die früher vier Bände umfassende Längere Sammlung der Reden mit allen, hier so zahlreichen Anmerkungen. Der dritte Band vereinigt die drei in Versen gehaltenen Sammlungen zu einem Buch von erlesener Art: er bringt die sublimen Bruchstücke der Reden Gotamo Buddhos, dann die ergreifenden Lieder der Mönche und Nonnen, seiner persönlichen Jünger und Jüngerinnen, und die Spruchsammlung Dhammapadam, den diamantenen Wahrheitpfad. Diesem dritten Band ist ein Anhang beigegeben, der Teile eines Jugendwerkes und bisher unveröffentlichte Briefe Karl Eugen Neumanns über seinen Werdegang, seine Wissenschaft, sein Werk, seine Arbeitsweise, und über manches, das ihn begeisterte oder ihm mitteilenswert erschien, enthält.

Der Wortlaut der vorliegenden Ausgabe ist, bis auf wenige Nachträge aus den Handexemplaren Karl Eugen Neumanns, identisch mit dem der Ausgabe aus den Jahren 1921-1927. Der Herausgeber hat an seinem Prinzip der Herstellung eines Textes letzter Hand, worüber im Vorwort zur 2. Auflage der Mittleren Sammlung berichtet ist, festgehalten, und es gibt auch in dieser Ausgabe kein Wort des Textes, das nicht von Karl Eugen Neumann selbst herrührte. Somit ist es bisher nicht zur Verwirklichung der Vorstellung gekommen, die sich Karl Eugen Neumann, eingedenk der konstanten Verdrehungen und Veränderungen, wann und wo immer er seine Übersetzungen zitiert fand, von der Beschaffenheit und dem Geiste eines künftigen Herausgebers seiner Werke machte (siehe Band III, Anhang, den Brief vom 13. Januar 1903). Wie aber etwa die Integrität seines Werkes, die kostbare Textura dessen Wortlauts, auch nach dem Erlöschen der Schutzfrist (1965) vor plumpen Eingriffen zu bewahren wäre, ist ein der Lösung harrendes Problem. Bis dahin und darüber hinaus wird die vorliegende authentische Ausgabe ein Bollwerk gegen versuchte Verballhornungen bilden.

Ist also der Text dieser Ausgabe noch der authentische, so hat die alte Orthographie, der sich Neumann in Beherzigung der Schopenhauerischen' Mahnung bediente, einmal doch der nun ausschließlich gebrauchten neuen weichen müssen.

Es bliebe noch zu erwähnen, wie es zum Wechsel des Verlages kam. Die schwierigen Nachkriegsverhältnisse hatten das geplante Wiedererscheinen der Werke Karl Eugen Neumanns von Jahr zu Jahr aufgeschoben, bis schließlich der Piper-Verlag sich mit tiefstem Bedauern zur Aufgabe des Copyrights gezwungen sah.

[Mit Ausnahme des «Wahrheitpfad», der durch Neuauflage 1949 im Piper-Verlag verblieben ist. Für die freundliche Erlaubnis des Abdrucks des «Wahrheitpfad» zum Zwecke der Vollständigkeit dieser Gesamtausgabe sei dem Piper-Verlag hier der beste Dank gesagt.]

Es bleibt das Verdienst des Piper-Verlages, die ursprünglich bei vier verschiedenen Firmen erschienenen Werke Neumanns mit der von Piper selbst verlegten Längeren Sammlung zu einer Gesamtausgabe vereinigt zu haben, welche die Reden Gotamo Buddhos einem weit größeren Leserkreis bekannt machen konnte, als es den da und dort verstreuten, in kleineren Auflagen hergestellten Erstausgaben möglich gewesen war. Es ist nun mit der neuen, vervollständigten Gesamtausgabe der Übertragungen Karl Eugen Neumanns das Verdienst des Artemis- und des Paul-Zsolnay-Verlags, das von vielen erwartete berühmte Werk neuen Lesern zugänglich gemacht zu haben. Ein Verdienst, das um so größer erscheint angesichts des Aufwands, welchen die Herstellung eines Werkes von über 3000 Seiten Umfang in großem Formate gegenwärtig erfordert. Der Herausgeber weiß sich mit vielen, denen nun wieder Gelegenheit zur eingangs erwähnten entscheidenden geistigen Begegnung gegeben ist, eins, wenn er auch in ihrem Namen den beiden Verlagen und ihren Leitern, Dr. Friedrich Witz und Paul von Zsolnay, den ihnen gebührenden Dank ausspricht.

London, Juni 1956.

E. R.


VORWORT DES HERAUSGEBERS ZUR ZWEITEN AUFLAGE (1921)

A Karl Eugen Neumann am 18. Oktober 1915, an seinem 50. Geburtstag, starb, war sein Lebenswerk so gut wie unbekannt, die Mehrzahl der Gebildeten hatte noch kaum vom Vorhandensein authentischer Reden des Buddho gehört und noch gar nicht den Namen ihres ersten europäischen Übermittlers. Seither ist es anders geworden, heute wissen die Besten, was der Pāli-Kanon bedeutet und daß sie ihn in einer Übertragung besitzen, um die das deutsche Volk von den andern Nationen beneidet wird. Und heute ist es möglich geworden, die Mittlere Sammlung der Reden Gotamo Buddhos, die Karl Eugen Neumnann bereits 1895 bis 1901 übersetzte, zum zweitenmal erscheinen zu lassen.

Die vorliegende Ausgabe bringt den unverkürzten Wortlaut der ersten, weist aber manche Veränderungen auf, die ausnahmslos von Karl Eugen Neumann selbst herrühren. Der Pāli-Kanon enthält in allen seinen Teilen gleichlautend wiederkehrende Stellen, Wortfolgen und Begriffe; im Laufe der Jahre hatte nun Karl Eugen Neumann, unablässig nach höchster Treue strebend, einige dieser identischen Stellen noch näher zu verdeutschen vermocht, ohne daß ihm jedoch eine zweite Ausgabe der Mittleren Sammlung Gelegenheit gegeben hätte, für derartige Wortfolgen die spätere Fassung einzusetzen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einen Text letzter Hand herzustellen.

Hierbei mußte mit großer Umsicht vorgegangen werden, nach sorgsamster Erwägung, denn die Pāli-Texte sind rhythmische Kunstwerke, worin jeder Silbe ein bestimmter Lautwert zufällt. Das spricht durchaus nicht gegen die Authentizität der Reden, ganz im Gegenteil: wenn ein Wesen moralisch und geistig die höchste Höhe erreicht, dann wird ihm auch sprachlich alles zu Rhythmus und Melodie; aus der inneren Ruhe und Reinheit, der tiefen Harmonie, die im Heiligen waltet, entsteht wie von selbst das Kunstwerk seiner Rede. So hat einmal ein Erwachter gesprochen, und wir finden vorher und nachher kein Beispiel dafür. Wohl aber ist der Rahmen mancher Reden später nachgeschaffenes Kunstwerk und noch in Gotamos Geiste stilisiert. Die Aufgabe bei der Textherstellung war darum, die späteren Fassungen einzusetzen, ohne den Rhythmus zu zerstören, also nur jene Stellen aus den später übertragenen Bänden herüberzunehmen, wo der Rhythmus der umgebenden Worte es ohne irgendwelche selbständige Zusätze oder Weglassungen erlaubte. Wo immer ein bloßes Einfügen der späteren Form ohne Gefährdung des Rhythmus möglich erschien, ist diese jetzt an die Stelle der früheren getreten, während in wenigen Fällen, wo das Gleichmaß der benachbarten Stellen durch ein solches Verfahren zerstört worden wäre, davon Abstand genommen wurde. 

Die rhythmischen Gesetze der Pāli-Texte sind ungemein fein und mannigfaltig, und Karl Eugen Neumann hat selbst gelegentlich auf eine frühere, darum oft nicht weniger richtige Version seiner Übertragung zurückgegriffen, weil sie gerade in diese Umgebung sich besser einfügen wollte. In solchen einzelnen Fällen würde nur helfen, auch die umgebenden Worte entsprechend anzupassen, zu verändern, wie es Karl Eugen Neumann, wenn es not war, tun mochte; das aber steht keinem Herausgeber zu, und nur aus diesem Grunde, nicht weil sie übersehen wurden, sind auch einige in späteren Werken Karl Eugen Neumanns anders wiedergegebene identische Stellen hier unverändert belassen worden. Als ein leichtes Beispiel für viele schwierige sei nur erwähnt, daß Karl Eugen Neumann im ersten Band der Mittleren Sammlung das Wort brāhmano mit «Brāhmane» übersetzt hatte, während es im zweiten und dritten Band auch durch «Priester» verdeutscht ist; in der Längeren Sammlung kommt dann nur mehr die Wiedergabe «Priester» vor. Es ist klar, daß es nicht immer möglich sein kann, ein zweisilbiges Wort an die Stelle eines dreisilbigen zu setzen ohne irgendwelche ausgleichende Veränderung, darum ist auch die erste Form «Brāhmane» hie und da geblieben. Weil die jüngere Fassung mancher solcher gleichlautend wiederkehrender Stellen in den jeweils später erschienenen Bänden gedruckt vorlag, brauchte sie nicht immer auch von Karl Eugen Neumann in seine Handexemplare der früheren Werke eingetragen zu werden; daher kommt es, daß diese nur wenige Korrekturen enthalten, nämlich nur die nirgends anderwärts schon gedruckten. Diese sind in den Nachweisen am Schlusse jedes Bandes, woselbst der Ursprungsort der geänderten Stellen verzeichnet ist, aufzufinden. Die meisten Änderungen waren naturgemäß im ersten Band durchzuführen, im zweiten sind es bereits weniger und nur mehr einige im dritten Band, als im zuletzt übertragenen. Hier waren nur mehr die Sammlung der Bruchstücke und die Längere Sammlung zum Vergleich heranzuziehn, während bei der Textredaktion des ersten Bandes auch der zweite und dritte berücksichtigt werden mußte. 

Die überwiegende Zahl der späteren Fassungen ist nicht durch die Nötigung, Irrtümer zu berichtigen, sondern aus dem Streben nach letzter Vervollkommnung zustande gekommen. Hat also Karl Eugen Neumann später manche Stelle des 1896 erschienenen ersten Bandes noch zutreffender übertragen, so war dessenungeachtet dieser erste Band schon ein erstaunliches Meisterwerk: was in der «Buddhistischen Anthologie»(1892) noch kaum wahrzunehmen war, die Identität seines Tones, seiner Sprache mit derjenigen Gotamos, das tritt hier zum erstenmal vollkommen zutage. Es ist ein Irrtum zu vermeinen, man könne, was ein Großer gesprochen habe, auch mit anders gesetzten Worten unbeeinträchtigt wiederholen; anders gesetzt ist die Wirkung eben eine andre oder wird überhaupt ausbleiben, weil im persönlichen Rhythmus des Redners letzter Wirkungsgrund liegt. Unrhythmische Worte sind jedoch machtlos, wenn auch ihr Inhalt bedeutend wäre, welcher Fall aber in der Erfahrung gar nicht angetroffen wird, während Rhythmus allein schon das Bändigende an sich ist, das Ordnende und Ermunternde. Und nun gar die Worte des höchsten der Menschen, von denen eine Heilkraft sondergleichen ausgeht, die ruhegeboren sind und schlackenrein: nicht nur ihr Inhalt, auch ihre Form, die Art ihrer Setzung wirkt in stärkster Weise ermunternd, umbildend, Wunder schaffend, unmöglich Scheinendes möglich machend. 

Und daß die Buddhoworte in der Verdeutschung Karl Eugen Neumanns dieses zauberhaft Belebende, Beschwichtigende, Stärkende und Beruhigende unvermindert behalten haben, hierin liegt das Wunder seiner Übertragung, die, aus verborgenen, fast geheimnisvollen Quellen fließend, noch weit über alles Sprachkunstwerk hinausgeht. Gleichzeitig aber war Karl Eugen Neumann ein philologisches Genie, mit dem allerseltensten Scharfsinn begabt, bei einem ungeheuren Wissen unermüdlich in seinem Forschungseifer, stets bis zur letzten Bedeutung und Beziehung der Worte vordringend. Nicht geringer als sein Verdienst um die buddhistische Lehre ist sein Verdienst um die deutsche Sprache, der er ein neues Element, eben das indische, genauer, das gotamidische, zugeführt hat; durch seine Verschmelzung des edelsten indischen Sprachgutes mit dem Deutschen hat er diesem neue, ungeahnte Schönheiten abgewonnen, wie auch Luther es sich zum Verdienst anrechnete, die lateinischen Klänge der Vulgata ins Deutsche herübergebracht zu haben. Dabei ist die Übertragung Karl Eugen Neumanns voll von «ebenso einfachen als genialen Kühnheiten, die nur dem Künstler gelingen», wie er selbst es von Richard Wagners Übersetzung des Wortes Vanaheim durch 'Wahnheim' rühmt.

Nur ein mit solchen Eigenschaften Ausgezeichneter durfte in hingebungsvoller Treue darangehen, die Reden des Buddho in einer andern Sprache zu wiederholen, und nur ein solcher konnte eine Übertragung schaffen, die den Geist und den Buchstaben der Lehre Gotamos gleich vollkommen wiedergibt. Ohne Vorbild, ohne eigentlichen Vorgänger hat er den ersten Schritt auf dem noch unbetretenen Weg getan und ist ihn bis ans Ende gegangen. Seinem großen Werk der Übertragung schließt sich sein Werk der Anmerkungen und Erläuterungen an, welches in dem noch ungedruckten Nachlaßband gipfelt, einem gewaltigen Werke, reich an Beziehungen gerade zur Mittleren Sammlung, deren öfters wiederkehrende Begriffe, wie phasso, āsavo, sankhāro, sakkāyo,suññatā usw., dort eingehend erörtert werden. Die Anmerkungen zur Mittleren Sammlung sind in der gegenwärtigen Ausgabe an den Schluß jedes Bandes versetzt, gemäß dem späteren Wunsche Karl Eugen Neumanns. Er hatte ursprünglich überhaupt keinerlei Anmerkungen beibringen wollen, um nur den Text für sich allein wirken zu lassen, darum findet man so wenige im ersten Band; im zweiten sind es, wenn auch noch überwiegend philologische, bereits mehr, und erst im dritten Band hebt sein eigentliches Anmerkungswerk an, das dann in ununterbrochener, immer gesteigerter Fülle bis zu dem erwähnten Nachlaßband führt. Auf diesem steilen Weg hat Karl Eugen Neumann noch die herrlichen Lieder der Mönche und Nonnen, die unsagbar schönen und tiefen, mit der Mittleren Sammlung unzertrennlich verbundenen Bruchstücke der Reden nacherschaffen, hat auch noch gemeinsam mit G. De Lorenzo den Italienern den ersten Band der Mittleren Sammlung geschenkt und, nachdem die drei Bände der Längeren Sammlung, während welcher Arbeit seine Meisterschaft ins Unbegreifliche wuchs, vollendet waren, die leuchtenden Augen für immer geschlossen.

Wenn ein Genius vom Range Karl Eugen Neumanns erscheint, neue Bahnen erschließt, ein unsterbliches Werk vollendet, so vollzieht sich immer wieder dasselbe beschämende Schauspiel: die von ihm wissen, hüten sich von ihm zu reden, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Oder sein Werk wird, als ob es wäre wie andere mehr, so nebenher erwähnt. In diesem Falle darf vielleicht manchem Beteiligten zugebilligt werden, daß er ehrlicherweise nicht begriffen hat, was am Werke Karl Eugen Neumanns das schlechthin Einmalige sei, da es scheint, daß sich wenig Dinge schwerer vereinen lassen als Kunst und indologische Forschung., Es sind auch die gleichen Männer, welche in den Wiederholungen der Reden nur lästige und langweilende Ausdehnungen erblicken, auch gelegentlich darüber spötteln, während diese Wiederholungen, außer ihrer Absicht, das Gesagte zutiefst zu befestigen, in Wahrheit ein hohes Kunstprinzip darstellen. Das haben große Geister wohl erkannt; so hat Napoleon von der Wiederholung ausgesagt, daß sie ihn die einzige ernsthafte Redefigur dünke, und in Rodins Testament steht der schöne Satz zu lesen: «Ich liebe das menschliche Bestreben, das sich durch regelmäßige Wiederholung unablässig steigert. Diese wiederholte Bewegung ist eine Schlachtordnung. Die Säulen der Kathedrale verzehnfachen ihre Grazie, indem sie einander folgen und sich vereinigen.»

Das gilt auch von den Reden Gotamo Buddhos, die wie Säulentempel gebaut oder wie Fugen gesetzt sind. Fugenartig sind ihre Wiederholungen und dürfen vom Leser nicht übergangen werden, wenn anders er zum Verständnis und zum Genusse des Ganzen kommen will. Werden sie aber Wort für Wort mitgelesen, so erschließt sich ihr Sinn, sie können sich festsetzen, Wurzel schlagen und das Handeln beeinflussen. Und einzig darauf kommt es an. Nur haben Worte meist noch geringere Macht, als ihnen zugestanden wird, da sie nur Hirnwissen, nicht Herzwissen erzeugen; um bewegen, lenken zu können, müssen ihnen absonderliche Kräfte innewohnen, und da gibt es in der Welt keinen so unmittelbar ergreifenden und beschwichtigenden Klang als den der Worte Gotamos: auch das kennzeichnet ihn und erhebt ihn neben vielem anderen noch über die höchsten Weisen, daß seine Worte bleibendere Spuren hinterlassen, weil schon ihr Rhythmus bezwingender ist. Und nun gar in ihren unaufhörlichen, großartig rauschenden, ein Meer von Güte ausströmenden Wiederholungen, die den ganzen Menschen durchdringen und ihn in den Zustand versetzen, aus dem heraus er das früher Unmögliche vollbringt. Wer diese Wirkung der Worte Gotamos kennengelernt hat, deren Inhalt so erhellend, deren Form so bezwingend ist, der wird verstehen, warum einst Robert L'Orange, der am stärksten Ergriffene, zu Karl Eugen Neumann sagen mochte: Na hi kañci sotabbam maññāmi aññatra Tathāgatena: « Nicht irgendwen halte ich für hörenswert außer dem Vollendeten.»

Denn nicht nur ein Weiser, ein Prophet oder Religionsstifter spricht in den Reden zu den Menschen: ein wahnloses Wesen, das sich als den besten Künstler, besten Arzt zu erkennen gibt, hat einen Heilplan entworfen, um das in die Schiefe geratene Geschlecht auf den rechten Weg zu bringen, ihm die Augen zu öffnen, «der Welt», wie es heißt, «den Schleier hinwegzunehmen». Nicht als ein fanatischer Bußprediger, nein, ohne zuzureden, ohne abzureden legt er die Lehre, deren Anfang, Mitte und Ende begütigt, dar, und nicht nur Mönchen, allen Menschen verkündet er sie. Weisen und Toren, Guten und Schlechten, und es ist wundersam, wahrzunehmen, wie noch im Gespräch mit dem Verworfensten der Göttliche lächelt und mit Freuden ein menschliches Herz erblickt. Dieses kaum noch merkbare Lächeln, das die indischen Bildner später so herrlich nachgeformt haben, tritt deutlicher in der 81. Rede und 83. Rede hervor und erstreckt sich für den Tiefersehenden über alle, als sichere Gewähr der Erwachung; so wahr Zorn, Haß und Leidenschaft der Traumwelt angehören, der tiefen Verstrickung; Humor aber, im höchsten Sinn verstanden, das nicht mehr Einbegriffensein verbürgt. 

Auch damit zeigt sich, wie falsch es war, den Buddhismus als eine pessimistische Weltansicht zu bezeichnen; nicht nur die 74. Rede, die beides: «Alles gefällt mir», also den Optimismus, und «Nichts gefällt mir», also den Pessimismus, umgeht, beweist das, sondern vor allem dieses unendlich feine, heitere Begreifen, das eben unvereinbar ist mit Pessimismus und hoch über seinen Niederungen schwebt. Es ist das Wissen um die vier heiligen Wahrheiten, das zur Durchschauung und Erwachung führt. Zur Erwachung aber verkündet der Buddho die Lehre, und als die erstaunlichste, außerordentlichste Eigenschaft des Vollendeten bezeichnet er es, wieder in überweltlicher Heiterkeit, in der 123. Rede, daß ihm Gefühle bewußt aufsteigen, daß sie bewußt anhalten, bewußt untergehn, und ebenso Wahrnehmungen, und ebenso Gedanken. Das klingt einfach, wie so manches, was der Meister zu sagen hat; darum heißt es ja auch von seiner Lehre, daß sie klar sichtbar ist, zeitlos, anregend, einladend, jedem Verständigen von selbst verständlich. Wer aber meint, sie ohne weiters, ohne den rechten Ernst und die rechte Mühe, in ihrer Tiefe begriffen zu haben, dem wird oft und oft gesagt: «Schwer wirst du das verstehn ohne Deutung, ohne Geduld, ohne Hingabe, ohne Anstrengung, ohne Lenkung.» Nur diejenigen, welche «seit langer Zeit von gemeineren Dingen abgewandt» sind, haben die Kraft, geduldig in die Sätze Einsicht zu nehmen. Der Allesleser wird in den seltensten Fällen die Kraft besitzen, mit dem ruhigen Gange der Reden Schritt zu halten, ihr ungewohntes Zeitmaß zu ertragen: sie langsam und doch ohne Pathos zu lesen setzt einen Zustand innerer Bereitschaft voraus und will nur den Geduldigen gelingen. Doch ist die Lehre nach langer Verborgenheit jetzt glücklich dem Dunkel entrissen, und so sei denn vorerst die Mittlere Sammlung, in neuer Gestalt, in einer vielen zugänglichen Ausgabe, mit den Gefühlen tiefster Dankbarkeit für Karl Eugen Neumann, den Lesern übergeben.

Wien, im Frühling 1921.

E. R.


VORREDEN KARL EUGEN NEUMANNS ZUM ERSTEN HALBHUNDERT 1.-50. REDE

DER KANON

Die Mittlere Sammlung, Majjhimanikāyo, der uns überlieferten Lehrdarstellungen Gotamo Buddhos besteht aus 152 Reden. Diese Reden halten zwischen den 34 längeren Darlegungen des Dighanikāyo und den zahlreichen kürzeren Mitteilungen, oft nur einzelnen Aussprüchen des Khuddakanikāyo in Hinsicht auf die Dauer des Vortrags gleichsam die Mitte. Nur dieses äußere Merkmal hat die Namen bestimmt. Anguttaranikāyo- und Samyuttakanikāyo, mehr oder weniger vom selben Gesichtspunkte aus geordnet, schließen sich als vierte und fünfte Sammlung an. Das Ganze dieser fünf großen Tage- und Lehrbücher wird unter dem Begriffe Suttapitakam, Kanon der Reden, zusammengefaßt, als Gegenstück zum Kanon der Zucht, dem Vinayapitakam. Das sind die beiden Hauptstücke des Vermächtnisses. In der Folge hat man diesem Dvipitakam, dem Zweifachen Kanon, das Abbidhammapitakam angefügt, den Kanon der Scholastik, und also das Tipitakam geschaffen, den Dreifachen Kanon, die buddhistischen Biblia Sacra. Wahrscheinlich aber war bis zum Tode Gotamo Buddhos, um 480 v. Chr., nur eine Satzung bekannt, eben der Kanon der Reden, das Suttapitakam als Ekapitakam, woraus dann allmählich das Vinayapitakam, später das Abbidhammapitakam teils ausgeschieden, teils weitergebildet wurde.

Der Name Ekapitakam und Dvipitakam kommt nicht vor, Tipitakam erst in scholastischer Zeit. Wohl wird das Simplex pitakam von alters her gelegentlich gebraucht, doch nur in seiner eigentlichen Bedeutung, als Korb: so z. B. in unserer 21. Rede, wo gesagt wird, den Weisen erschüttern wollen sei gerade so wie wenn man, «mit Spaten und Korb versehn», daranginge den Erdball abzugraben. Zweifelhaft freilich scheint mir, im Gegensatz zu Trenckner, ob nicht in Äußerungen wie pitakasampadānena (AN vol. I. p. 189, vol. II. p. 191, vgl. Trenckner, Pāli Miscellany, London 1879, P. 67ff) schon eine deutliche Anspielung auf den übertragenen Begriff, auf schriftlich gepflegte brāhmanische Überlieferung vorliegt; wie vielleicht auch in der bitteren Klage des brāhmanischen Büßers Māgandiyo, MN vol. I. p. 502f.: Bhūnahu samano Gotamo ti me bhāsitam: tam kissa hetu? Evam hi no sutte ocarati: «Ein Kernbeißer ist der Asket Gotamo, sag' ich: und warum sag' ich das? Weil er als solcher gegen unsere Satzungen vorgeht.» Die erste Erwähnung von pitakam als Gesamtbegriff der Lehre geschieht, meines Wissens, im 3. Jahrhundert nach Gotamo Buddho, ungefähr 200 Jahre nach Fixierung seiner Reden, auf einer asokischen Topenstele zu Barāhat (s. Bühler, Indian Studies Nr. III, Wien 1895, p. 17 und 87). Da finden wir nämlich auf einem der gestifteten steinernen Gitterbalken als Geber den ehrwürdigen Jāto, der sich petaki nennt, «Kenner des Pitakam». Gleichzeitige Inschriften auf dem Sāñci-Hügel führen aber, wie Barāhat sutantiko, sutātiko, «Kenner der Reden» (cf. vinayapit. vol. I. p. 169 usw.), und, mit Barāhat, pacanekāyiko, «Kenner der fünf Sammlungen», an. Pacanekāyiko, sutātiko - sutantiko und petaki sind jedoch homologe Bezeichnungen desselben Begriffes, der in Sāñci noch einmal, alle drei zusammenfassend, als echt kanonischer dhamakathiko, «Sprecher der Lehre» (MN I. 218,. SN II. 18, 114, 156, AN I. 23, passim), auftritt. 

Was also damals, wenn wir diesen steinernen Zeugen trauen dürfen, noch immer eigentlich als Wort der Lehre gegolten hat, liegt vor Augen: es war der Kanon der Reden, das Suttapitakam, und da man ein anderes Pitakam nicht kannte, reichte das Synonym petaki vollkommen aus für sutantiko, sutātiko und pacanekāyiko, während der Brāhmane sich nach wie vor des Titels traividyas, cāturvaidyakas bedienen mußte, um den Kenner der drei, den Kenner der vier Veden zu bezeichnen, ja, dementsprechend, auch bei uns der pacanekāyiko keineswegs zu einem pentakryphen nekāyiko wurde. Literarisch beglaubigt zeigte sich Pitakattayam erst im Milindapañho, p. 348 (cf. p. I u. 18), welcher Stelle vor der quasi historischen Autorität des Dipavamso, p. 103, und Mahāvamso, p. 19, 207, 251/2, 256, der Vorrang gebührt. Kaccāyanos, des Grammatikers, «Einführung in das Studium des Pitakam» Petakopadesagantho (s. Minayeffs Ausgabe des Ganthavamso in den Recherches sur le Bouddhisme, Paris 1894, P. 239 u. 244) beschäftigt sich offenbar nur mit dem Suttapitakam, was selbstverständlich nicht ausschließt, daß der Verfasser alle drei Pitakas genügend gekannt habe. So spricht z. B. Asoko auf einer jüngst entdeckten nepalischen Felseninschrift von seiner Verehrung des Buddho Konāgamano: aber schwerlich dürfte es jemandem einfallen, den gangbaren volkstümlichen Buddhismus jener Zeit, der sich zumal in Barāhat schon völlig entwickelt darstellt, mit der aristokratisch gesicherten Lehre eines petaki deshalb gleich identifizieren zu wollen. Daß man das Suttapitakam wirklich bis spät in das vierte Jahrhundert n. Chr. als den Kanon schlechthin angesehn hat, sagt uns sogar der Mahāvamso, p. 247, deutlich genug. Unter der Regierung Buddhadāsos, heißt es da, habe ein hochgelehrter dhammakathī (vgl. oben Sāñci) die Texte in die Landessprache übertragen: was für Texte? Eben die Suttas.

Tass' eva rañño rajjamhi
Mahādharnmakathīyati
Suttāni parivattesi
Sīhalāya niruttiyā.

Eine nachdrücklichere Bekräftigung des Tenors der Inschriften, wenn eine solche überhaupt vonnöten wäre, könnte man sich kaum wünschen. Wie so oft in Indien zeigt sich auch hier eine vorerst bedenkliche Tradition durch unbezweifelbare Urkunden in ihrem ererbten Rechte bestätigt. Das Wort des Mönchs und der Meißel des Königs ergänzen einander.

Der innere Wert des Vinayapitakam wird durch unser Ergebnis nicht geschmälert, vielmehr läßt sich jetzt deutlich absehn, warum der Kanon der Zucht neben unverkennbar Echtem allerhand sagenhaftes Beiwerk aufweist: das Echte, zwar oft fragmentarisch und interpoliert wiedergegeben, ist aus dem Urkanon geschöpft, aus dem Suttapitakam, die hundert Geschichten und Legenden haben sich, nebst einer erdrückenden abgeschmackten Kasuistik, nach und nach mit eingestellt. Dies geschah, wie oben gesagt, verhältnismäßig früh und mochte so lange geschehn, bis auch diese Sammlung, in nachasokischer Zeit, zum selbständigen Kanon erhoben wurde. Noch unter Asoko war das Ordensrecht nur eine Art Auszug* aus dem einen anerkannten Pitakam.

* Cf. den Schluß des Vinayapitakam, vol. IV. p. 207 und 351: Ettakam tassa bhagavato suttāgatam suttapariyāpannam anvaddhamāsam uddesam āgacchati - womit also dieser Kanon sich selbst schlank und schlicht als Auszug aus dem Suttapitakam vorstellt.

Auf dem vielgenannten zweiten Bairāter Felsenedikt spricht der König den Wunsch aus, man möge vor allem die vinayasamukase der dhammapaliyāyāni beobachten, «die Zuchtverordnungen der Lehrreden», womit eben diejenigen Teile der Satzung gemeint sind, die auf die Disziplin Bezug haben. Hiermit stimmt es völlig überein, daß sich unter den Hunderten von Inschriften bisher noch kein einziger « Kenner des Vinayapitakam» gefunden hat, weil ein solcher im Begriffe eines «Kenners des Suttapitakam» implicite lag. Schon Oldenberg hat (Vinayapitakam, vol. I., London 1879, P. XIV) im Bairāter Wunsche die Unterordnung des vinayo unter den dhammo scharfsinnig erkannt, eine Unterordnung, deren Allgemeinheit seit Bühlers umfassenden Forschungen mehr und mehr durchblickt.

Allerdings sind uns bisher erst wenige Urkunden indischer Geschichte zugänglich geworden und gar manches ruht noch unter der Erde. Für die Kenntnis des authentischen Buddhismus trifft es sich recht glücklich, daß wir auf Grund der Denkmäler Asokos und seiner Nachfolger schon heute die Entwicklung des Kanons mit annähernder Genauigkeit verfolgen können. Künftige Ausgrabungen lassen vielleicht vorasokische Bestätigungen unserer Urteile und Schlüsse erwarten.

Die Stellung der Mittleren Sammlung im Kanon der Reden ist eingangs angegeben worden. Engere Beziehungen zu ihren vier Stammverwandten zeigen sich in bestimmter Weise. Zunächst sei hervorgehoben, daß die fünf Sammlungen im allgemeinen wie im besonderen durchaus harmonieren und Widersprüche ernster Natur schlechterdings unauffindbar scheinen. Inhalt und Form sind überall gleichgeartet, wenn auch nicht überall gleichwertig. So tritt das Element des Wunderbaren in unserer Sammlung fast ganz zurück; aber in diesem oder in jenem Abschnitte des Khuddakanikāyo (auch in den anapokryphen) und Samyuttakanikāyo macht es sich, obzwar spärlich, bemerkbar. So wird in vielen Reden unserer Sammlung der Hauptgedanke ebenso unnachsichtlich entwickelt und zu Ende gedacht, wie es häufig im Dighanikāyo der Fall ist: aber bei den zahlreichen, unterschiedlichen Paragraphen, welche diese Sammlung einschaltet, kommen die scharfen logischen Umrisse der Darstellung nicht immer ebenso leicht zur Geltung. So begegnen wir derselben Anordnung des Stoffes, wie sie der Anguttaranikāyo liebt, aber keine auserlesene Reihenfolge, wechselnde Schilderung wird geboten.

Diese gröberen Züge mögen zur Kennzeichnung genügen. Aufmerksame, wiederholte Durchnahme des Textes diene als beste Ausführung.

DIE KOMMENTARE

Wie bei den Schriften der Alten ist bei denen der Inder das Verständnis der ursprünglichen, naiven Gedanken der Meister früh verlorengegangen, und die große Masse der Gelehrten hat das Bedürfnis gefühlt, Erklärungen zu geben. Wenn wir der einheimischen Tradition in irgendeinem Punkte Glauben schenken dürfen, so gewiß in diesem, daß die Interpretation des Suttapitakam, das ist die halb gelehrte, halb volkstümliche Zergliederung der Längeren, Mittleren, Kürzeren, Angereihten und Zusammengestellten Sammlung, bald nach dem Tode Gotamo Buddhos begonnen und seither stetig die Rezitation des Kanons begleitet hat. Diese Schulweisheit hat nun ohne Zweifel ihr Gutes, ja in einem Betracht ist sie nicht hoch genug zu preisen: ihr allein verdanken wir die reine Erhaltung der Texte. Mit unermüdlicher Akribie hat sie dritthalb Jahrtausende eifersüchtig darüber gewacht, daß womöglich auch nicht ein Jota, auch nicht ein akkharam der echten Überlieferung verlorengehe, eingedenk des schönen Spruches:

Attho akkharasaññāto,
Durch Silben wird der Sinn erkannt.

Solche, in ihrer Art einzige Gewissenhaftigkeit, die eben nur in Indien möglich war und ist, verdient innige Anerkennung und Bewunderung. Ihr ist es ferner zu danken, daß die alten Lehren bis auf den heutigen Tag im Volke lebendig geblieben sind und, mutatis mutandis, ebenso wirken wie einst. Mit ihr im Bunde endlich ist es den standhaften buddhistischen Missionaren gelungen, die eine Hälfte der Erde, wie Sir William Hunter sagt, zu erobern und den Glauben der anderen zu modifizieren. Ihr wird man es vielleicht einmal nachzurühmen haben, wenn eine, soweit es eben möglich ist, menschenwürdige Religion auf dem Erdball allgemeine Verbreitung gewinnt. Viel, sehr viel Achtung verdient also die indische Schwester Schulweisheit.

Auf mächtigen Glanz folgt naturgemäß Nacht. Sobald die buddhistischen Patres ecclesiae und Doctores profundi darangehn dunkle, tiefe Stellen des Kanons aufhellen zu wollen, reden sie wie Blinde von der Farbe. Sie meinen's ja grundehrlich, die Wackeren, versteht sich; doch was hilft guter Wille in der Kunst? Kunst kommt von Können, auch im Indischen, ihr Können aber beschränkte sich auf schwaches philologisches und reiches volkstümliches Wissen. Damit konnten sie freilich zur Erklärung der Reden Gotamo Buddhos nicht auslangen.

Es sei hier gestattet ein paar Beispiele anzuführen. Ich entnehme dieselben den allgemein zugänglichen Kommentaren oder gebe sie genau nach den mündlichen Belehrungen, welche mir die höchst achtbaren, vortrefflichen Mönche Zeilons während eines dortigen Aufenthalts in reicher Fülle zuteil werden ließen. Unterschiede zwischen den Erklärungen der Mönche von Colombo und Kalutara, vom Daladamaligawa- und Asgiriyavihāre, am Alufelsen und in Anurādhapura und an anderen orten haben sich, bei wiederholter Besprechung derselben Punkte, nicht ergeben, da nur eine Autorität für alle gilt: die Mahābuddhaghosos. – DN.1., Nr. 11, Schlußverse des Kevattasuttantam: Zweierlei viññānam gibt's, das erste, viññānam anidassanam, ist gleich nibbānam, ja; das zweite, viññānassa nirodhena etth' etam uparujjhati, ist das gewöhnliche. M I., Nr. 8 wird sallekho von likhati - chindati abgeleitet. KhN, Dhp. V. 227 ist Atula statt atulam zu lesen, als Eigenname im Voc. - KhN, Itiv. i seqq.: Ayam vo pātibhogo anāgāmitāya wird ersetzt durch Aham vo pāti, ganz wie beim Herausgeber der editio princeps. AN, Thig. v. 267 (cf. MNI., 134,21).

Wenn nun auch derartige Originalerklärungen, die man zu Hunderten häufen könnte, kaum mehr als einen Einblick in den scholastischen Volksbuddhismus gewähren, so dürfen wir uns anderseits der vielen sekundären Bemerkungen des Scholiasten gelegentlich herzlich freuen.

Diese bringen uns das Verständnis zuweilen wirklich näher und erleichtern die Denkarbeit, dienen gewissermaßen als Eselsbrücke. Seien wir also billig und gestehn zu, daß Buddhaghoso, Dhammapālo, Ñānasāgaro und wie die Aggācariyos alle heißen, bis herab auf den ebenso gelehrten als edlen Subhūti Mahānāyaka von Kalutara, in ihrer Art Vorzügliches geleistet haben, daß wir aber diese Braven nicht nach modernem Wissen und Können schätzen und nützen dürfen. Uns ziemt es nun unser altes Erbe zurückzuerobern und den ursprünglichen Gehalt rein darzustellen.

Die Geistesspuren jenes großen Mannes, der wohl überall gepriesen doch nicht genug gekannt ist, liegen in den auf uns gekommenen Reden treu erhalten vor: wir sind allmählich mündig geworden, die echte Elefantenfährte, wie es in der 27. Rede heißt, von der falschen unterscheiden zu lernen.

Die Brüder in Zeilon sollen uns jedoch nicht undankbar schelten. Wir werden sie noch oft um ihren Rat angehn, wenn es wichtige Bestätigungen gilt. Wie erfreulich war mir z. B. Subhūtis Denkweise, als er auf meine Bitte, Māro zu erklären, mit dem schönen Zitate aus dem SN antwortete: Rūpam māro, vedanā māro, saññā māro, sankhārā māro, viññānam māro, pañc‘ upādānakkhandhā māro ti, und mir so gleichsam die offizielle Berechtigung gab, in jenem Begriffe die Natur, oder richtiger, im Einklang mit Schopenhauer, die Mortur wiederzuerkennen. Solche und manche ähnliche, recht unphantastische Offenbarung darf man heute gewiß nur mehr auf Zeilon oder allenfalls noch in Burma und Siam erwarten; in China und Tibet kann man mitunter etwas andere Dinge zu hören bekommen. Hat mir doch ein sehr intelligenter Lama, wenige Tagereisen von der Heimat des Buddhismus entfernt, im Kloster Bhutia Basti bei Dārjiling, am Schlusse einer langen gelehrten Unterredung die Versicherung gegeben, ein vollkommener Weiser mag sich ausgesucht nette und geprüfte Jungfrauen, varalaksano petās, ad libitum zulegen, zur Erfrischung seiner Lebensgeister. Ein derartiges Ideal hat nun freilich der südliche Buddhist niemals aufgestellt, und die laksanas, die ihm, auch als vollkommenem Weisen, einzig nahegehn, sind immer dieselben geblieben, nämlich aniccam, dukkham, anattam. Darum wollen wir die gute buddhistische Volksmetaphysik und ihre Meister hochhalten. Bei der Lehre Gotamo Buddhos, die erst in den letzten fünfzig Jahren durch Gogerlys, Spence Hardys und Childers' vertrauten Umgang mit den Mönchen Zeilons neu entdeckt wurde, ist das Wort des Richard Wagnerschen Hans Sachs wundersam am Platze:

Daß uns're Meister sie gepflegt,
Grad' recht nach ihrer Art,
Nach ihrem Sinne treu gehegt,
Das hat sie echt bewahrt.

Eine wenig bekannte Einzelheit mag hier noch, als Exkurs, behandelt werden. Man hat bis vor kurzem allgemein angenommen, das letzte Mahl Gotamo Buddhos, von einem jungen Schmiede namens Cundo gespendet, sei Wildbraten gewesen, und zwar verdorbener, dessen Genuß Erkrankung und Tod des Buddho zur Folge hatte. Die betreffende Stelle findet sich in der, 16. Rede DN, Mahāparinibbānasuttam. Dort wird erzählt, der junge Schmied Cundo habe die Mönche in sein Haus geladen und feste und flüssige Speise und ein reichliches Gericht von sūkaramaddavam für sie bestellt; letzteres habe sich der Buddho vorsetzen lassen, den Schmied aber ermahnt, die Jünger mit der anderen Speise zu bewirten und den Rest seines Gerichtes in die Gosse zu schütten, da es von keinem verdaut werden könne, den Vollendeten ausgenommen. Nach dem Genusse dieser Speise sei dann der Buddho krank geworden, schwer krank, und heftige Schmerzen hätten sich eingestellt.

Bhuttassa ca sūkaramaddavena
Vyādhippabālhā udapādi satthuno.

Was ist nun sūkaramaddavam? Ist es Wildbratensülze, wie es auf den ersten Blick scheint? Die einheimische Tradition hat es meist dafür gehalten, und die europäische Forschung hat es unbesehens übernommen. Zu vertrauensvoll: denn wir haben zu sūkaramaddavam Parallelen, die einen anderen Begriff vermuten lassen. Unter den Arzeneipflanzen, die der Rājanighantus aufzählt, finden wir u. a. das fem. simpl. sūkarī, von sūkaras Eber, Schwein, als Batate, dann sūkarakandas Eberbirne (Erdbirne), sūkarapādikā Eberklaue = kolasimbi Eberschote, dann aber, und dies ist wichtiger, den sūkarestas, eine Erdmandel, welche die Wildschweine mit Leidenschaft auswühlen, wörtlich Ebergier; daher z. B. der Ort Sūkarakhatā Eberswühl, MN 1-, 497. Susrutas gibt vārāhi, von varāhas Eber, für die Yamwurzel an, dann varāhakandas Ebertrüffel, varāhamūlam Eberwurz usw. Vgl. noch Bezeichnungen wie gostanī Weintraube, wörtlich Kuheuter, hastikarnas Rizinus, w. Elefantenohr, urānaksas eine Zimtpflanze, w. Schafauge, kukkutamastakas ein Pfeffer, w. Hahnenkamm, vānarapriyas ein gemeinsamer Name der indischen Feigenbäume, w. Affenlieb, ajamodā für Kümmel, Sellerie, Liguster, w. Ziegenlab, mrgabhojanī Koloquintenfrüchte, w. Wildspeise, nämlich der Rehe, Hirsche etc. u. v. m.

Sūkaramaddavam, von der Wurzel ‚mrl‘gaudere, wird daher Eberlust bedeuten und der Name irgendeiner eßbaren Pilzart sein. Auch wir haben ja derlei Gewächse mit ähnlichen Namen bedacht, und sagen Saubrot (eine Erdnuß), Hirschtrüffel, Hirschschwamm, Bärwurz, Bärenklee, Hasenampfer; vgl. auch Benennungen wie Eberesche, Kuhbaum, Wolfsmilch, Schlangenkraut, Schafgarbe, Geißblatt.

Cundo der Schmied gehörte nun offenbar nicht der Jägerkaste an und war als wohlhabender indischer Handwerker gewiß nicht gewohnt Saubraten zu essen oder darzureichen. Am Markt gekaufte Wurzeln, Kräuter und Schwämme dürfte er zubereiten lassen und zum täglichen Reis mit angeboten haben. Unter die letzteren werden unglücklicherweise auch giftige geraten sein und der Buddho hat es alsbald gemerkt. - Das Verdienst, die Sache ans Licht gezogen zu haben, gebührt dem Verfasser des trefflich ausgearbeiteten « Buddhistischen Katechismus », Friedrich Zimmermann (Subhadra Bhikschu), s. 4. Aufl., Braunschweig 1894, p. 26f. Dieser wieder verdankt, nach persönlicher Mitteilung, die erste Anregung einem Artikel im Journal of the Mahā-Bodhi-Society, vol. I., Nr. VIII, P. 2-3, Kalkutta 1892, wo der Hauspandit der Zeitschrift unsere Stelle nach dem Kommentare Dhammapālācariyos zu KhN, Udānam VIII., 5. (p. 81) erörtert und Äußerungen Rhys Davids', Bigandets, Rockhills und Colonel Olcotts, der nachdrücklich auf die richtige Bedeutung hinweist, wiedergibt.

Aus dem Kommentare geht hervor, daß der Irrtum schon in den Scholien der Mahā Atthakathā aufgetischt, aber von 'anderen', d. h. besseren Beobachtern, erkannt worden ist. Die heutigen Mönche Zeilons lassen sich über diese Frage mit der ihnen bei solchen eigenen Indifferenz aus und stellen die einander widersprechenden Erklärungen der Kommentatoren als gleich möglich hin; doch neigen sie seit einigen Jahren, wie sie sagen, mehr zu der eben dargelegten Ansicht. Einer der berühmtesten Nāyakas, der ehrwürdige Terunnānse des Maligakandaparivena in Colombo Hikkaduwe Sumangala, meinte mit verächtlichem Lächeln: Ob der Buddho vor seinem Ende Pilze oder Fleisch, eine Brühe oder was sonst zu sich genommen habe, sei dem Buddhisten sehr gleichgültig; er wisse, alle Nahrung ist Elend. Na hi āhārena suddhī ti. Daß diese Worte keine hohle Phrase waren konnte ich täglich beobachten. Wie einst so schreitet auch heute noch der Mönch am Vormittag durch das Dorf hin, alter wie junger, niemals ein Wanst, fast immer eine schlanke, asketische Gestalt, gemessenen Ganges, barhäuptig, kahlgeschoren wie Scipio, gesenkten Blickes, unter der langen gelben Toga die Almosenschale halb verborgen im Arme, und tritt von Hütte zu Hütte, eine kleine Weile unbeweglich wartend, ob ihm eine milde Hand einen Bissen Speise in die Schale senken werde; und stumm zieht er weiter, ohne ein Wort des Grußes, ohne ein Wort des Dankes, ohne aufzublicken, ohne eine Miene zu verziehen. Ist seine Schale, ein halbkugelförmiger glatter Napf von 2o bis 25 cm Durchmesser, nach Gutdünken voll geworden, dann kehrt er in seine blühende Einsiedelei oder, an größeren Orten, in sein luftiges Kloster zurück und nimmt langsam und reinlich das Mahl ein, ohne auszuwählen, Flüssiges und Festes vermischt, wie's eben im Napfe sich vorfindet. Um 12 muß er gespeist und sich Mund und Hände gewaschen haben und braucht nun bis zum nächsten Vormittag nicht mehr ans Essen zu denken. Und strenge wird Zucht gehalten, eine Observanz, die in günstigem Lichte erscheint, in entschieden günstigerem als Berichterstatter mit gemächlichen Ohren und eiligen Augen es gelegentlich schildern.

DIE ÜBERSETZUNG

Wer Pāli kann braucht kein geborgtes Licht; wenn die Sonne scheint vermissen wir nicht den Mond. Um Pāli wirklich zu verstehn sind aber, meines Erachtens, vorerst zwei Dinge unerläßlich: i. eine möglichst gründliche Kenntnis der besten Samskrt-Texte und wiederholte Beschäftigung mit ihnen, und 2. jahrelang geübtes Studium der Pāli-Urkunden. Den Kampf mit dem spröden Stoffe ohne dieses notwendigste Rüstzeug aufnehmen verspricht geringen Erfolg, wie viele, oft redlich beflissene Übersetzungen intra et extra muros deutlich dartun. Man ist nur allzu geneigt die verhältnismäßig leichte Zugänglichkeit der Pāli-Texte sogleich auch für leichte Schmelzbarkeit zu halten. Man zerlegt ein Dutzend Perioden, gibt den ungefähren Inhalt an und glaubt schon, dies wäre, im großen und ganzen, alles. Ein ehrenwerter Rechtsanwalt in Kandy, Sinhalo-Holländer, der mich einmal mit einem Mönche reden gehört hatte, meinte nachher: 'Wenn ich nur die Zeit hätte! In drei Monaten würd' ich das ganze Pāli bemeistert haben.' Er ließ sich von gelegentlichen Anklängen ans Sinhalesische bestechen. Wie mancher Biedermann bei uns gleicht mit seinem bißchen Samskrt diesem würdigen Holländer: nur mit dem Unterschied, daß er sich keine drei Monate Zeit nimmt, zur «Meisterung». Er betreibt sie sein ganzes Leben lang, so nebenher.

Schön und gut sind nun wohl die zwei genannten unerläßlichen Eigenschaften, doch reichen sie zu einer Übersetzung keineswegs hin. Am Schlusse der Anmerkungen zum West-östlichen Diwan stellt Goethe drei Arten von Übersetzungen auf, die prosaische, die parodistische und die identische. Die beiden ersten seien in ihrem Sinne recht brauchbar und verdienstlich, wahre Befriedigung könne nur die letzte gewähren. «Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Interlinearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals; hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.» Sollte in den folgenden Blättern jene Identität auch nur hier und da zum kleinsten Teile sichtbar werden, dann wäre das Verständnis des Grundtextes allerdings wesentlich leichter, obgleich nicht mühelos geworden. Die Reden stammen zwar aus dem 6. Jahrhundert vor Christus: aber sie machen zuweilen den Eindruck als gehörten sie ins 6. Jahrhundert nach Schopenhauer.

Wien, im Herbst 1895.

K. E. N.


ZUM MITTLEREN HALBHUNDERT

51.-100. REDE

Wie schon in der Einführung zum ersten Bande, aus Inschriften des dritten vorchristlichen Jahrhunderts nachgewiesen, ist die älteste Gestalt des Kanons nicht in einem Tipitakam oder Dvipitakam, sondern im Pitakam schlechthin, nämlich im Suttapitakam, erhalten. Hieraus darf man schließen, wie dort begründet, auch das Vinayapitakam, wie später das Abhidhammapitakam, sei aus dem einen Kanon teils ausgeschieden, teils weiterentwickelt worden. Das vorliegende Mittlere Halbhundert bestätigt diese Folgerungen noch genauer. 

Wir finden hier eine ganze Reihe von Reden die reinen vinayo darlegen, sich bis zu den letzten Verzweigungen mit der Ordenszucht befassen, und zwar in echter, ursprünglicher Weise, die dem wirklichen Leben entspricht, nicht mit jenen kasuistischen Erfindungen, die dem Vinayapitakam eignen und dessen überwiegend fingierten Charakter ausmachen. Gleich die Eröffnungsrede liefert ein klassisches Muster: klassisch, weil sie wiederum zunächst die Tugendsatzung mit aller Ausführlichkeit vorträgt, was auch im ersten Bande bei passender Gelegenheit immer geschieht. In diesem Betracht sind ja die zahlreichen Wiederholungen der Reden erklärlich, da fast jede, wie sie eben gesprochen wurde, dhammo und vinayo, Lehre und Zucht, als untrennbares Ganzes gibt. Hier läßt sich nichts kürzen oder beschränken oder zusammenziehn, ohne den gehörigen Zusammenhang zu verlieren: die Rede ist an eine oder an mehrere bestimmte Personen gerichtet gewesen, auf einen besonderen Anlaß hin, doch im höheren Sinne allgemein gültig, hat weder zuviel noch zuwenig gesagt, sondern ihren Gang gerade eingehalten. Der Orden hatte daher bei Lebzeiten des Meisters wohl keinerlei andere Regel als die in den Reden verkündete, und diese Regel, gar verschieden von den später lawinenartig angewachsenen Korollarien, war eine ungemein einfache; so einfach, daß der Meister nicht selten einem Aufnahmesuchenden, im Gegensatze zu den nachmaligen umständlichen Vorbereitungen, sogleich und bloß mit den Worten «Komm', o Mönch! » die Ordensweihe verlieh: sogar einem berüchtigten Mörder, nach dessen plötzlicher Umkehr, in der sechsundachtzigsten Rede. 

Gotamo selbst hat diese ursprüngliche Einfachheit vollkommen klar zugestanden, gegen Ende der fünfundsechzigsten Rede. Da fragt ein Mönch, woher es nur komme, daß es früher weniger Ordensregeln gegeben als jetzt, worauf ihm der greise Meister antwortet, Ordensregeln seien eben erst dann vonnöten, wann die wahre Lehre untergehe, wann der Orden Größe und Ansehn und späte Jahre erreicht habe. Vernehmen wir also in den Reden oft und oft des Meisters eigene Worte, rein erhalten wie sie gesprochen, so ist auch Fremdes zu merken und gibt sich meist unverhohlen kund; so schon die Umrahmung, die allerdings nur die Namen der Orte, der Personen und sonstige sachgemäße Mitteilungen bietet. Es hat aber doch hie und da Sagenhaftes Eingang gefunden, spätere Zutat, z. B. in die dreiundachtzigste Rede. Dann sind es zuweilen upanischad-artige und yogaverwandte Darlegungen, die uns begegnen, wie etwa in der siebenundsiebzigsten, bzw. dreiundsiebzigsten. Gewisse Gleichnisse aus den alten Upanischaden, e.g. das in der achtundsechzigsten Rede, gewisse Übungen des alten Yogas, besonders in der zweiundsechzigsten und zehnten behandelt, hat freilich schon Gotamo, wohlbewußt, übernommen, ausgebildet, vertieft. 

Der Meister behauptet ja niemals, seine Lehre widerspreche allem bisher Dagewesenen, sondern: «Wovon die Weisen erklären 'Es ist nicht in der Welt', davon sage auch ich 'Es ist nicht'; wovon die Weisen erklären 'Es ist in der Welt', davon sage auch ich 'Es ist'.» 

Wie großartig der Meister zumal vedische Lehren vollendet hat, zeigt u. a. die fünfundfünfzigste Rede. Weil es aber bei mündlicher Überlieferung kaum anders möglich, wird auch der oder jener Jünger, nach des Meisters Tode, diesen oder jenen fremden Satz wissentlich oder unwissentlich mit überliefert haben, aus vedischen oder yogischen Kreisen, je nach dem gewohnten Schwergewichte. Sehr lehrreich sind hierfür die Lieder der Mönche, deren Gedanken durchaus nach dem Meister weisen, im einzelnen aber noch subjektive Züge bewahren. Wenn sich nun, trotz der wachsenden Größe des Ordens, bis etwa in die Zeit Asokos des Großen kein tiefergehender Verfall entwickelt hat, was bei den anderen indischen Geistesdenkmalen in der Regel eher geschah, so ist das erstaunlich und kein geringer Beweis für die ungewöhnliche, andauernde Wirkung einer Persönlichkeit wie es die Gotamos war**.

** Eine nicht unwillkommene Beglaubigung der einheimischen Urkunden haben jene vortrefflichen Griechen geliefert, die nach dem ALEXANDER-Zuge sich längere Zeit in Indien aufhielten und indische Dinge eifrig und liebevoll studierten: so namentlich MEGASTHENES, der zu Beginn des dritten Jahrhunderts wiederholt in der Residenz des Großvaters Asokos, im Mittelpunkte des damaligen buddhistischen Lebens, zu Pātaliputtam weilte. Mit scharfem Blicke hat dieser Forscher beobachtet und geschildert was er gesehn und erfahren, und die wenigen uns erhaltenen Bruchstücke seiner Aufzeichnungen hören sich manchmal wie wörtliche Quellenberichte an. Ich habe mich ihrer gelegentlich bedient.

Diese Wirkung hat übrigens nicht bloß die Jüngerschaft gewaltig ergriffen, sie hat sich, wie bekannt, auf ganz Indien und weiter erstreckt; und insbesondere ist sie den Verfassern der späteren Upanischaden, des Yoga- und des Sāmkhyasāstram, und Barden und Dichtern, bis auf des Tul'sidās noch heute in Palast und Hütte, von Fürst und Bettler gesungenes Rāmcaritmānas herab, ausgiebig zustatten gekommen, ob sie es selber zwar nicht recht wissen, gleichwohl durch, oft wörtliche, Paraphrase der Meisterworte unschwer erraten lassen. Hat also Gotamo, und dann mancher der Jünger, vom Geiste der Zeit einiges benutzt, so haben die Späteren erheblich mehr von Gotamo und den Seinen gelernt, sich zu eigen gemacht und weitergegeben, bis es allmählich indisches Gemeingut geworden.

Nur indisches? Es hat den Anschein als ob jene Gedanken auch bei uns langsam, langsam merkbar würden, zu wirken begännen, kraft ihres unzerstörbaren Gehaltes. Eine gesamte Umwandlung altererbter Überzeugungen und Ansichten wird nun sicherlich kein Teleolog von ihnen erwarten, so wenig wie etwa unsere Missionare dergleichen beim braven Chinesen gewärtigen dürfen. Tausendjährigen Kulturen, und wären sie noch so morsch und Überlebt, kann man nicht so leicht mit geistigen Mitteln beikommen, nicht von einem Jahrhundert zum anderen, wie dem Papste, schon den Untergang voraussagen: sie altern gern und wohlgemut weiter. Aber die Gedanken haben keine Eile, langsam, langsam wirken sie durch unermeßliche Zeiten und Räume, in ewiger Jugend. - 

Einst fragte mich der Gesandte von Siam am Berliner Hofe, Seine Exzellenz Phya Nond Buri, ob sich denn wirklich, wie man ihm erzählt habe, bereits buddhistische Einflüsse in Europa wahrnehmen ließen: ich entgegnete, ich hätte nicht eben viel davon gemerkt; da lächelte er in seiner feinen Weise und sagte, auf ein buddhistisches Volkswort anspielend: «Nun, wir haben ja Zeit, noch fünftausend Jahre.» - 

Wir haben mehr Zeit, und weniger. Mehr, weil uns die Erde geduldig trägt; weniger, weil wir heute den Worten eines Meisters lauschen können, die aus der Welt des Unschönen und Schönen hinübergeleiten, wo es keinen Schein gibt. «Willkommen sei mir ein verständiger Mann», sagt Gotamo, gegen Ende der achtzigsten Rede, «kein Heuchler, kein Gleisner, ein gerader Mensch; ich führ' ihn ein, ich lege die Satzung dar. Der Führung folgend wird er in gar kurzer Zeit eben selber merken, selber sehn, daß man also ganz von der Fessel befreit wird, nämlich von der Fessel des Nichtwissens.»

Ohne einen Strich hinzu- oder hinwegzutun, mit wohlgeprüften, -verglichenen, -gesicherten Lesarten, ist auch dieses Mittlere Halbhundert, das Majjhimapannāsam schlicht und, unangetastet übersetzt worden, bis auf den Titel und Punkt: so mag der Text in genauester Form, wenn es etwa noch weiter gelungen, in identischem Ausdrucke Zeuge sein. Die Zahlen am Rande geben die Seiten der Trencknerschen Lesung an, so weit diese reicht: nach der sechsundsiebzigsten Rede die Seiten der siamesischen Ausgabe.

Wien, Ende 1899.

K. E. N.


ZUM OBEREN HALBHUNDERT

101.-152. REDE

Der dritte Band der Mittleren Sammlung ergänzt in mehrfacher Hinsicht die ersten beiden, und diese ihn. Er bestätigt zunächst noch genauer was in den früheren Vorreden über die Ordenszucht gesagt worden - daß nämlich eine solche ursprünglich nicht als eigener Kanon zusammengefaßt sondern in den Reden inbegriffen war; Ansprachen wie z. B. die hundertdritte und hundertvierte lösen wohl jeden billigen Zweifel. Freilich wird man eine Aufzählung der einzelnen Punkte vermissen: aber die war, etwa nach dem Muster der siebenundzwanzigsten oder einundfünfzigsten Rede u. a. in., als ekantaparipunnam ekantaparisuddham sankhalikhitam brahmacariyam längst gegeben und allbekannte Basis, bedurfte keiner weiteren Entwickelung.

Ferner mag bemerkt sein, wie gerade in das Obere Halbhundert manche feinere geistige Beobachtungen und Erläuterungen aufgenommen wurden, namentlich in die letzten beiden Dekaden: als ob die alten Ordner der Texte das Zartere und zugleich gern Schwierigere erst gegen Ende hätten darbieten wollen, nachdem man eine gute Vorschule bereits durchgemacht hatte. In diesem Sinne könnte man vielleicht mit einiger Berechtigung sagen, die drei Bände der Mittleren Sammlung stellten der Reihe nach vinayo, suttam und abbidhammo dar: indem das Untere Halbhundert Mūlapannāsam gleichsam den Grund legt, das Mittlere Halbhundert Majjhimapannāsam, meist in Zwiegesprächen, die Säulen emporführt, das obere Halbhundert Uparipannāsam endlich die Kuppel aufsetzt. Doch darf man so eine mehr bildlich und schematisch geplante Einteilung nicht zu ernst nehmen: weil, wie oft betont, jede der Reden als für sich bestehendes Ganze sich gibt; was die Ordner sehr wohl erkannt und daher einen systematischen Aufbau nicht beabsichtigt haben.

Es wäre lohnend nun auf wichtigere Einzelheiten von Form und Gehalt auch dieser letzten fünf Bücher näher einzugehn: etwa auf die vedischen Grundlagen, wie sie z. B. in der hundertzwanzigsten und hundertvierzigsten Rede offen zutage treten; oder auf die unverkennbare geistige Verwandtschaft mit dem ewigen Griechentum; oder auf die zahlreichen Urbilder zu unseren eigenen Kunstwerken aus tüchtiger Zeit, dann zur transzendentalen Philosophie, also recht eigentlich zu Schopenhauer, dessen Gedanken in den Hauptzügen wirklich erst die letzte Vollendung erfahren, e. g. in der Lehre vom vollkommenen Wohlbefinden bei Lebzeiten, und wieder über den klassischen Selbstmord, hundertvierzigste Rede, passim, bzw. hundertvierundvierzigste in fine; oder auf die so tiefe Einmütigkeit mit unseren besten Illuministen, die keine Mystiker sind, insbesondere mit San Francesco und Meister Eckhart, wie etwa im hundertfünfundvierzigsten Gespräch; oder auf den donquijoteschen Humor gar mancher Gleichnisse, wie zumal im hundertsechsundzwanzigsten Bericht; oder auch auf nebensächliche Ergebnisse, wie zum Teil die geschichtliche Ableitung der Christologie aus dem hundertdreiundzwanzigsten, der Thebais aus dem hundertvierundzwanzigsten Stücke, ferner auf beiläufig entdeckbare Sruti-Spuren im Lao: alles Dinge von ziemlichem Gewichte zwar, deren Fechsung aber dem bloßen Übersetzer kaum zukommen, vielmehr den Berufenen als reiche Mahd hinterlassen bleiben kann. Sind doch über die Blüte und Frucht einiger Jahrzehnte nahezu dritthalb Jahrtausende des Verfalls, der Zerstörung und üppig aufschießender Verwilderung dahingegangen bis aus dem Schutte die verborgen fortkeimenden ungewöhnlichen Gedanken unserer Texte nach und nach wieder dem entgegenreifenden Verständnisse erschlossen werden. Dieses Verständnis leise fördern und anbauen und nur gelegentlich obenhin, wie von den Trümmern der Zinne, auch auf historische Kuriositäten, Paritäten, Quidditäten etc. herabdeuten wird noch lange Zeiten hindurch der bescheidene Zweck philologischer Arbeit sein.

[Wird die Menschheit aussterben wenn alle Buddhisten werden?]

Nicht als ob es gälte späterhin Sendboten heranzubilden, den Erdball rings zu bekehren und, wenn es hoch kommt, noch ein paar Planeten dazu. Es müßte ja für die meisten empfindsamen Gemüter eine arge Aussicht sein, wenn this goodly frame, the earth, wie Hamlet bewundernd sagt, veröden und - o Graus - aussterben, etwa in ein far niente der Ewigkeit, um einen Ausdruck Jean Pauls zu gebrauchen, einmünden sollte, so da alle Menschen veritable Buddhisten, d. h. leibhaftige Heilige, würden: ein schnackischer Angstschrei, den man hin und wieder, nicht in Indien, vernimmt; oder wie unser Poeta poetarum mit lächelndem Auge spricht:

If all were minded so, the times should cease,
And threescore years would make the world away.

Davor brauchen wir, verehrte Anwesende, keine Furcht zu haben. Die buddhistische Lehre wird ihrer außerordentlichen Dichte wegen in Wirklichkeit immer doch nur einer kleinen Schar, immer nur einem oder dem anderen abseit gegründeten, ungeselligen, beharrlichen Erzgrübler nicht undurchdringlich erscheinen, nicht lästig und beschwerlich fallen. Die Hunderte und die Tausende werden sich nach wie vor zu eigener und fremder Aufklärung mit den astralen Weltproblemen weiter beschäftigen, die himmlischen Progressionen zu berechnen suchen, das Ewige und das Zeitliche trennen und versöhnen, Freiheit und Notwendigkeit scheiden und verbinden, Geheimwissenschaft und Gemeinnützigkeit enträtseln und verhäkeln, ganze Realität und halbe Evolution oder umgekehrte Ethik und Ästhetik sowie Kulturpragmatik und Religionsphilosophie sub specie professoritatis und verwandte allerangelegentlichste Fragen, sabbasāmukkamsikā pañhā, behandeln und festzustellen hoffen «Dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes», wie eben die gewöhnlichen Meister und Altmeister, Büßer und Pilger, Asketen und Priester schon zu Gotamos Zeiten je nach ihrer Art behauptet, gelehrt, bewiesen, erläutert und ausgelegt haben; von den Hunderttausenden nicht zu reden, denen die heiligen Fußspuren, Knochen, Zähne, Nägel, Hostien, Fetische, Inkarnationen, Folklorisierungen usw. ungekränkt überlassen seien: und auch nicht von den Dutzenden, denen Abrakadabrahuitzilopochtligelehrsamkeit und Beckmesserpoesie, oder blaublumige Düfte und faselnde Flöten schon genügen. An einzelne wenige aber, die mit den mehr oder minder spröden oder mürben Allotria nicht recht umzugehn wissen, denen unsere eigenartige Dichte allmählich ohne Beschwer vertrauter wird, sogar anziehend, einladend, wie beim gediegenen Golde von selbst verständlich erscheint, oder wie dem Grafen Russell seine dreißig Jahre inniger Lauterkeit an den höchsten Gipfeln der Pyrenäen, ist heute wie einst ein oft wiederholter Nachhall im vorletzten Buche, der Spruch vom «Stillen Denker» gerichtet.

Wien, Anfang April 1901.

K. E. N.


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