Der Stromeintritt

Zweiter Teil: Die Reinheiten zum Stromeintritt

IV. Reine Zweifelsentrinnung

(KEN: Reine Gewißheit)

Nachdem die Heilswahrheiten einen Platz im Geist erobert haben, sozusagen einen ersten Brückenkopf im massiven „Festland" des Wahns, können, nein müssen sie von dort aus nun weiter vordringen. Damit beginnt die wahnlose rechte Anschauung, den Pfad zum Stromeintritt (sotâpattimaggo) zu betreten. Es ist vergleichbar der Hefe, die nun beginnt, den ganzen Brotteig zu durchdringen und gleichzeitig nach oben zu treiben - ebenso treibt die rechte Anschauung alles Gute immer nach oben, wobei einem mehr oder weniger „das Herz aufgeht". Durch die wahnlose rechte Anschauung wird der Zuhörer zum Übenden (sekho). Er ist nun HeilsJünger, HeilsSchüler, Heils-Gänger, oder wie immer man ariyasâvaka übersetzen mag. Und dieser erste Grad von sieben Übenden wird exakt bezeichnet als „einer, der unterwegs ist, die Frucht des Stromeintritts zu verwirklichen" (sotâpattiphala s'acchikiriyâya patipanno). Kurz gefaßt wird er schlicht als „Nachfolgender" (anusârî) bezeichnet, auch als „Mitläufer" oder „EntlangGehender" übersetzbar. Er beginnt nun, auf dem entdeckten Pfad zu gehen, ist nun unterwegs in der richtigen Richtung.

Mit vier kurzen, aber inhaltsreichen Stichworten beschreibt der Buddha dieses Fußfassen und Anwachsen der wahnlosen rechten Anschauung:

Erstens: Er hat die Wahrheit der Lehre gesehen, eingesehen, angeblickt (ditthadhamma). Er sieht sozusagen jetzt erstmals das „Lehrgebäude", aber noch von ferne.

Zweitens: Dann kommt er an das Tor des Gebäudes, „steht anklopfend vor der Tür des Nirvâna", wie es oft heißt (S 12, 27 und 33 und 49). „Klopfet an, so wird euch aufgetan", heißt es bei Jesus (Matth. 7, 7). Er öffnet die Tür und tritt über die Schwelle (pattadhamma).

Drittens: Im Hause sieht er sich jetzt um, erkundet es, erwandert es, merkt die Weite, erfährt leibhaftig, was es heißt, die Wahrheit hautnah zu merken (vidita-dhamma).

Viertens: Er bleibt aber nicht nur ein Besucher, ein Gast, sondern er wird zum Bewohner, faßt dort als Einwohner festen Fuß (pariyo-galhadhamma).

Das alles bezieht sich auf die Lehre, die Wahrheit, das Gesetz (dhamma) und geschieht im Geiste. Aber aus dem Wissen im Geiste wird sofort auch schon ein erster Ansatz von Mögen im Gemüt, von Zustimmung eines ersten Teils des Herzens in seiner geistigen Abteilung. Nun beginnt ein ständiges Zwiegespräch zwischen Geist und Herz, zwischen Anschauung und Seelenkräften. Das ist von den in M 70 oben genannten Stufen des Herankommens jetzt bereits die neunte: Er wägt ab (tuleti), vergleicht und prüft nun alles mit den neuen Wertmaßstäben.

Was dabei im Herzen vorgeht, darüber sagt uns der Erwachte aus seiner vollkommenen Psychenkenntnis folgendes: Das Allermindeste der bisher schon vorhandenen Herzensqualitäten war ein gewisses religiöses Ahnen und Vertrauen in Höheres und Wahres. Diese Qualitäten werden im relativ reinen Herzen dessen, der dem Buddha zuhört, ihm selber völlig unbewußt, total umfunktioniert, nämlich von bloßen - wenn auch noch so guten und mystischen Eigenschaften - zu Heilsfähigkeiten (indriya): heilsfähiges Vertrauen, heilsfähige Tatkraft, heilsfähige Achtsamkeit, heilsfähige Einigung, heilsfähige Weisheit (saddh'indriya, viriy'indriya, sat'indriya, samâdh'-indriya, paññ'indriya). Die bisherigen besten Eigenschaften bekommen eine neue Richtung, oder solche guten Eigenschaften werden überhaupt erst begründet. Bisher führten diese Eigenschaften nur innerhalb der vergänglichen Erscheinungen zu besserem und edlerem Dasein, aber nicht aus dem ganzen Leidensmeer heraus. Der Zug nach oben bleibt bestehen, je stärker desto besser, aber er führt noch über das bisher oberste Ziel hinaus, nämlich in die Freiheit von allen Trieben. Wo dagegen eine falsche, nach unten führende Richtung der Eigenschaften bestand (z.B. micchasati, duppañña), da ist es, je kräftiger diese Eigenschaften waren, um so schwerer, sie überhaupt erst einmal von der falschen Richtung umzulenken. Und das geschieht durch die vier Vorschaltlehren, über die solche Zuhörer des Buddha oft zunächst gar nicht hinauskamen. Wer in falsch gerichteten Eigenschaften in der Welt der erste war, der wird nun auf dem Rückweg der letzte.[35]

Der Erwachte sagt nun nichts weiter über die Heilsfähigkeiten beim Anusârî, als daß sie in ihm „sind" (api c'assa ime dhammâ honti: M 70). Oder er sagt, wo sie noch schwächer als beim vollendeten Stromeingetretenen sind: Da heißt einer „unterwegs zur Verwirklichung der Frucht des Stromeintritts" (S 48, 12 - 14, 18 und 24).

Diese Tatsache, daß jetzt gute Eigenschaften zu Heilsfähigkeiten werden, daß sie insofern überhaupt geboren werden, bewirkt den unaufhaltsamen, irreversiblen Prozeß der Nachfolge bis zur vollendeten Triebversiegung. Es ist sozusagen der abgeschossene Pfeil oder, modern ausgedrückt, die gezündete Rakete zum Ziel. Und der Beginn dieser Bewegung auf das Heilsziel zu zeigt sich daran, daß die vierte Kutsche bestiegen ist. Und so wie die dritte Kutsche positiv die reine Anschauung im positiven Aspekt bedeutete, so stellt die vierte Kutsche sich als die Abwesenheit der bisherigen negativen Ansichtsfesseln dar. Bei der dritten Kutsche schaut der Fahrgast sozusagen konzentriert nach vorn, in der vierten Kutsche schaut er zurück und läßt immer mehr der Strecke hinter sich.

Was er hinter sich läßt, das sind alle die geistigen Wirrnisse, Sorgen, Zweifel, Bedenken, Unsicherheiten, Widersprüche, Vorbehalte seines bisherigen geistigen Haushalts oder das Mißtrauen gegen die rechte Anschauung, die seinen Scheinsicher-heiten widerspricht. Das aber ist der existentielle Zweifel. Dafür gibt es im Pâli verschiedene Bezeichnungen, die jeweils einen Aspekt, eine Nuance nennen:

Der Hauptbegriff ist „Auseinandergehenmüssen im Denken" (vicikicchâ); Synonyme sind: geistige Zwiespältigkeit von unvereinbaren Widersprüchen (vimati) oder umgekehrt Verschwommenheit und schillernde Zweideutigkeit (samsaya) oder zögernde Vorbehalte, die bestenfalls als Vermutungen eingestuft werden (samka). Die relativ am leichtesten auflösbare Form von Zweifel ist der ungestillte Hunger nach Sicherheit, der bisher nie befriedigt wurde (kankhâ). Und dessen Stillung durch Entrinnung von aller Unsicherheit gibt der vierten Kutsche ihren Namen (kankhâvitaranavisuddhi). Bevor auf diesen Begriff näher einzugehen ist, soll hier zunächst der Hauptbegriff, vicikicchâ, behandelt werden. Die zweite der drei ersten, geistig betonten Fesseln ist nämlich die Fesselverstrickung in diesen existentiellen Grundzweifel (vici-kicchâ-samyojana) am Heil, was sich negativ als Ungeborgenheit und Unsicherheit über den Sinn des Lebens und das Ziel der Existenz darstellt. Es ist der Wirrwarr des Denkens, der keine Ruhe gibt, weil man überall in den schönsten Theorien und Spekulationen und Hypothesen den Wurm sieht, die unvereinbaren Widersprüche und Ungereimtheiten, die letztlich nur Steine statt Brot geben und keine Sicherheit. Da geht alles, was an Meinungen zusammengezimmert wurde, wieder auseinander, erweist seine Brüche, Lücken und Unhaltbarkeiten, die immer wieder zum Zusammenbruch einer Anschauung führen. Es sind Lehren, deren „Kuppel geborsten ist",36 wie der Buddha sagt. Es regnet oben herein, und die Feuchtigkeit läßt den ganzen Bau, das ganze Gedankengebäude, verkommen und verschimmeln und kaputtgehen. Inbegriff dieser Zweifelsfessel ist der Zweifel am Erwachten (an seiner Weisheit und Erlösung), an der Lehre (den Vier Heilswahrheiten), an der Jüngerschaft (an der generellen Möglichkeit der Nachfolge) und an den eigenen Möglichkeiten, Kräften und also am Übungsweg. Daß darüber hinaus noch zahllose Lehrfragen offen bleiben, ist hier nicht von Bedeutung. Sie werden sich auf dem Wege lösen, oder sie verlieren überhaupt an Interesse. Auch die existentielle Angst vor Verlusten, vor den Leiden durch Alter und Tod gehört nicht hierher, sie löst sich auch erst auf dem späteren Wege auf. Hier geht es „nur" um den existentiellen Zweifel an der rechten Anschauung.

Die reine Zweifelsentrinnung bedeutet, daß man dem existentiellen Zweifel über Welt und Ich entrinnt, z.B. Fragen wie: Gibt es vielleicht doch eine Welt unabhängig von mir? Müßte da nicht ein Welt-Schöpfer sein? Und was wird aus ihr, wenn ein Geheilter erlischt? Wird im Nirvâna das Ich vernichtet, oder bleibt dort ein Ichkern? Wenn im Nirvâna Gefühl aufgelöst ist, wieso ist es dann ein Wohl?

Mit zwei Begriffen wird in der oben beschriebenen Darlegung nach dem vierfachen Eindringen in die Lehre (dittha, patta, vidita pariyogalhadhamma) 37 gesagt, daß der Zuhörer nun zweifelsentronnen (tinnavicikiccha), dem Grübeln entgangen (vigatakathamkatha) ist. Er ist über die existentiellen Zweifel hinausgelangt, hat sie transzendiert (tinna, PP zu tarati = hinausgelangen über) 38 und ist hinausgelangt (vigata) über das Wie-Fragen (katham-katha), über das Infragestellen der Wahrheit, das endlose Gegrübele, das zu keinem Ergebnis kommen kann. Er ist hinausgelangt über all die Fragen nach Ich und Welt, die in den zehn Antinomien [ 39] beschlossen sind, welche in der Lehre immer wieder vorkommen. Wo ihm noch im Geiste solche Fragen auftauchen, kann er sie im Lichte der Lehre beantworten, kann die ihnen zugrundeliegenden Irrmeinungen bei sich widerlegen, hat sich endgültig für die Wahrheit entschieden. So wird die zweite der zehn Fesseln aufgelöst, wenn die vierte Kutsche bestiegen wird, und so schreitet der Nachfolger auf dem Weg zur Frucht des Stromeintritts weiter voran. Darin eben besteht sein Voranschreiten, sein Fortschritt, daß er diese Zweifel, die Rückseite der Persönlichkeitsansicht, auflösen kann.

Zum Abschluß dieser Stufe sei noch eine Erklärung gegeben: Der Ausdruck „reine Zweifelsentrinnung" (kankhavitarana-visuddhi) kommt außer in M 24 und einer Liste in D 34 IX nur noch ein einziges Mal in den Lehrreden vor, nämlich in Ud V/7. Die dortige Erzählung kann ein Licht auf diese Reinheit werfen:

Da war ein Mönch namens Revato, der zum Unterschied von gleichnamigen Trägern dieses Namens KankhaRevato genannt wurde, d. h. Revato der Zweifler. Er hatte nämlich anfangs mit erheblichen Zweifeln über das zu kämpfen, was urasketentümlich ist. Nicht die Lehre, sondern die Disziplin (vinaya), [ 40] die Lehrnachfolge, war sein Problem. Wie mit einem Vergrößerungsglas starrte er auf die Ordensregeln und fürchtete immer wieder, nicht vollkommen zu sein und nicht vollkommen werden zu können. Kurz: er war voller Skrupel, wie ein Perfektionist. Unter Verwendung der Formulierung in M 6 könnte man sagen:

„Wünscht sich ein Mönch: `Ach, möchte ich doch Zweifel überwinden', dann soll er nur vollkommene Tugend üben, innere Gemütsruhe erkämpfen, die Schauung (Entrückung) nicht geringschätzen, durchdringenden Blick gewinnen, ein Freund leerer Klausen sein."

Würde man dies zu Revato gesagt haben, dann hätte er mit Recht erwidern können, er habe ja gerade vollkommene Tugend üben wollen, sich dabei aber immer wieder verheddert. Als er dann schließlich ein Geheilter geworden war, da fragte einmal Sâriputto die großen Jünger, wodurch jeder von ihnen dem Gosingawalde Glanz verleihe (M 32). Auf diese Frage antwortete Revato mit obigem Text aus M 6, wich aber von der Standardformulierung insoweit ab, als er anstelle von „vollkommene Tugend üben" sagte: „Da wird der Mönch durch Zurückgezogenheit erquickt und beglückt", d. h. durch Freude und Neigung zu innerer Meditation. Und das hatte er. Durch die Abwendung des Umkreisens der Außendinge, die er perfekt behandeln wollte, kam er auf sein eigenes Herz, besonders auf die weltlosen Entrückungen, die alle Zweifel über Welt und Ich auflösen, weil dort diese Spaltung nicht mehr vorkommt. Und er pflegte die Entrückungen so erfolgreich, empfand die Entlastung von allen Zweifeln dabei so wohltuend, daß der Buddha ihn später als die Spitze der Mönche bezeichnete, die Entrückungen pflegen (A I/19, neu 24). In dem einzigen Vers, der von ihm überliefert ist, sagt er:

„Die Weisheit der Vollendeten magst du erkennen,
gleichwie man Fackeln mitternächtig wahrnimmt:
sie geben Licht, sie geben weises Auge,
vertreiben Zweifel jedem, der hat Zugang." (Thag 3)

 

Das mit „vertreiben" (vinayanti) übersetzte Verb gehört zum Substantiv Vinaya, d.h. wörtlich Wegführung (Vertreibung), nämlich des Unheilsamen. Revato wurde nun durch die Entrückungen zum Licht jener Weisheit geführt, die ihm alle Zweifel am Äußeren vertrieb. Nun könnte man denken, daß die Entrückungen notwendig seien, um den Zweifel zu verscheuchen und den Stromeintritt zu erlangen. Aber das ist nicht so zu verstehen. Zwar schaffte die momentane Abwesenheit der fünf Hemmungen einen Herzenszustand, wie er auch für die Vertiefungen charakteristisch ist, aber eben nur momentan und nicht in aller Fülle. Aber bei so extremen Zweifeln wie bei Revato war auch ein entsprechend starkes Erfahren der Weltüberwindung notwendig. Er ist also hier ein Sonderfall.

Vor diesem Hintergrund ist die einzige Textstelle, an der von seiner Zweifelsentrinnung noch die Rede ist, zu verstehen: Als Heiliger saß er eines Tages im Meditationssitz im Kloster nahe beim Buddha, und zwar in der rückblickenden Betrachtung der eigenen Zweifelsentrinnungsreinheit. Das dürfte bedeuten, daß er auf seine anfängliche Leidenszeit, als Zweifel, Skrupel, Schuldgefühle ihn plagten, zurückblickte und dann auf den Segen der Entrückung, die ihm zum Tor der Erlösung wurde. Der Buddha erfaßte seine Gedanken und sagte:

„Was es an Zweifeln hier und drüben gibt,
die selbst man spürt und andere verspüren:
sie alle schwinden dem Entrückungsreifen,
der sich dem Brahmawandel innig hingibt."

(Ud V/7)


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