Der Stromeintritt

Zweiter Teil: Die Reinheiten zum Stromeintritt

III. Reine Anschauung 

(KEN: Reine Erkenntnis)

Auf dieser Grundlage eines momentan von den fünf Heils-Hemmungen (Sinnengier, Aversion, matte Müde, Unruhe und Ungeduld, Zweifel) freien und dadurch zur Aufnahme der Wahrheit befähigten Herzens kann nun ein Vollendeter, ein Vollkommen Erwachter in denjenigen Geist, der somit nicht vom Herzen falsch beeinflußt wird, die Vier Heilswahrheiten, die edelsten aller edlen Lehren, eindringen lassen.

In unzähligen Formulierungen hat der Buddha die Vier Wahrheiten: Vom Leiden, von dessen Entwicklung, dessen Auflösung und dem dazu führenden Vorgehen dargelegt - so oft und so unermüdlich, daß die Gefahr besteht, sie zu bloßen Leerformeln werden zu lassen, die einfach nachgesprochen und nachgelesen werden. Dabei wirkt die vierfache Formel, auch wenn sie noch so sehr detailliert erklärt wird, auch dann nicht, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Ob kurz oder lang dargelegt, die fünfte Lehre wirkt nur, wenn sie vom jeweiligen Geist mit dem jeweiligen Herzen derart in den eigenen Haushalt aufgenommen wird, daß sie eben eine radikale Wandlung bewirkt. So abstrakt die Stichworte der vier Vorschaltlehren meist überliefert werden, so abstrakt wird in den obigen Texten dann auch die fünfte Lehre in kürzester Kürze angesprochen: „...das Leiden, Entwicklung, Auflösung, Weg." Schluß.

Dieser Geist, der dies hier schreibt, kann nun nur subjektiv versuchen, die Kurzformel maßgeschneidert auf die Windungen und Wirrungen der angewöhnten Psyche zu repetieren:

Anfangslos erscheint im Bewußtsein eine Kette von Wiedergeburten, die immer wieder nur zu Altern und Sterben führen, führten und führen werden, die also in der Unbeständigkeit und Bestandlosigkeit des Leidenskreislaufs festhalten, ein „perpetuum mobile passionis", wie Paul Debes so richtig sagt. Und immer wieder sind auf diesem Weg zum Tode Triebe unerfüllt, ist Mangel und Wehgefühl.

Alle Versuche und Anstrengungen, aus dem inneren und äußeren Mangel herauszukommen, sind vergeblich, solange die Triebe nicht restlos entreizt und aufgelöst sind. Und sie sind unauflösbar, unzerstörbar, solange man sich mit den vergänglichen Erscheinungen identifiziert.

Vom Bewußtsein in den sechs Sinnen sind abhängig seine Inhalte, die mit ihm stehen und fallen, wie zwei sich stützende Schilfbündel (S 12, 67), so wie den inneren Gewöhnungen die äußeren Bezugspunkte entsprechen. Da meint das Ichbewußtsein, dort seien die Objekte der Trieberfüllung, aber beides ist in ständigem Wandel haltlos: Da ist ein Wunsch, aber kein Objekt zur Erfüllung; oder da sind viele Objekte, aber sie sind mir gleichgültig. Und das selbstgeschaffene Außen berührt die in den sechs Sinnen inkarnierten Neigungen des Bewußtseins. Dadurch erscheinen als Resonanz Gefühle, die vom Objekt zu kommen scheinen und in den Geist als wahr (Wahrnehmung) eingetragen werden. Und es wird unermüdlich darüber nachgedacht, wie die Gefühle zu verbessern, die wohligen zu erhalten, die wehen zu beseitigen sind. Das Ganze aber, das Bewußtsein mit seinen Inhalten sinnlicher Objekte und geistiger Benennungen („Bild und Begriff" bei Neumann), ist der selbstgeschaffene, selbstgeträumte Leidenstraum des Samsâra, der Raum und Zeit erscheinen läßt, eine Kette von Vorher und Nachher, von Hier und Dort - im Bewußtsein, das ein Ich ins Bild setzt und benennt.

Es gibt aber ein Zurruhekommen aller Leidenserscheinungen, einen ewigen Frieden, eine Befreiung von aller Getrie-benheit, von allem Lechzen und allem Mangel. Und es gibt einen schrittweisen Stufenweg dahin, eine optimale Vorgehensweise: Den Achtpfad.

Wo diese vier Heilswahrheiten wirklich einschlagen, da wird damit gleichzeitig der Traum von einem Ich, das im Leidenskreislauf herumirrt, herausgeschlagen - jedenfalls für einen Augenblick und auch nur im Geiste, in der Anschauung. Der Persönlichkeitswahn, die erste von zehn noch zu besprechenden Fesseln ans Leiden, wird in diesem Augenblick geistig durchschaut und damit erstmals durchgestrichen bzw. für einen Augenblick gelöscht. Das geschieht - bei Licht besehen und genau unterschieden, wie es im Grunde und zunächst nur der Buddha selber sehen kann -- in drei Takten, die auch bei allen übrigen neun Fesseln erscheinen: Am jeweiligen Gegenstand der zehn fesselnden Phänomene findet man nichts, aber auch gar nichts Positives mehr. Es ist wirklich „nichts daran", es ist nichts daran zu finden (nibbida, von nirvindati) - außer Leiden -- und Leiden ohne ein Ich, das daran leidet. Dadurch verliert der Trieb seinen Gegenpol, wird haltlos, reizlos, sackt in sich zusammen, welkt dahin, verschwindet. Und das ist hier bei der Persönlichkeitsansicht der erste irreversible Prozeß im Samsâra, die erste Endgültigkeit. Erstmals geschieht das nie zuvor Geschehene: Es wird ein Baustein, und zwar ein Eckstein, aus dem Leidensgebäude für immer herausgenommen und kann nie wieder hineinkommen. Aber es kann nicht oft genug gesagt werden: Das geschieht nur im Geiste, nur in der Anschauung, während im Herzen noch alle anderen neun Fesseln weiterbestehen und weiter Unheil bewirken. Aber die Auflösung der ersten Fessel ist das Todesurteil über alle anderen neun Fesseln, auf lange Sicht, aber zwingend. Doch weil es „nur" bei einer geistigen Herzensfessel geschieht, darum unterschätzt man es unheimlich und kann es kaum zureichend würdigen, was hier für ein „Weltwunder" geschehen ist. Es ist die Axt an den Samsâra gelegt, oder positiv ausgedrückt, die Friedensstätte des Nirvâna entdeckt.

Bei aller unvermeidlichen Kürze einer Darstellung des Einschlagens der Vier Heilswahrheiten ist es doch ratsam, wenigstens eines der zahllosen Mißverständnisse, der Fehldeutungen und Abwegigkeiten beispielhaft anzuführen. Es ist die häufige Irrlehre, die in dem Satz ausgedrückt wird: „Der Buddhismus ist die Lehre vom Leiden." Das ist so falsch wie nur möglich. In Wirklichkeit ist die Lehre der Erwachten die Lehre von der Überwindung des Leidens, von der restlosen Leidensüberwindung. Die Wahrheiten Nr. 1 und Nr. 2, vom Leiden und von der Leidensentwicklung, sind, überspitzt ausgedrückt, nur ein „notwendiges Übel", notwendig, weil ohne die Kenntnis darüber, was alles - auch verborgen - zu Leiden führt, keine Möglichkeit besteht, alles Leiden mit der Wurzel für immer auszurotten. Sie sind aber nicht nur notwendig, sondern insofern ein Übel, weil man sich leicht darin verstricken kann und die Ursache jedes einzelnen Leidensfädchens wissen möchte, was weder notwendig noch dem Nichterwachten möglich ist. Jedenfalls ist die entscheidende Wahrheit, die Wahrheit aller Wahrheiten, diejenige über den objektiven Weg (magga), auf dem man subjektiv voranschreitet (pati-pâda), die Wahrheit über den Achtpfad, den Heilsweg.

Aber das erste Aufdämmern eines Verständnisses dieses Weges ist naturgemäß noch sehr vage. Andererseits hat man durch das Aufhorchen auf die vier Vorschaltlehren, die als eine Art von Lockerungsübungen [33] wirken, die Wirrnis eingefahrener scheinbarer Selbstverständlichkeiten mehr und mehr aufgelöst oder ausgehöhlt und dabei eine Entwicklungslinie vom Groben zum immer Feineren entdeckt. Diese Entdeckung kommt einem nun beim ersten ahnenden Verständnis des Acht-pfades zugute. Man merkt, daß es immer um Loslassen geht, und zwar um Loslassen von Gröberem zugunsten von Feinerem und Edlerem und Größerem. Man kann nicht alles auf einmal loslassen, nicht einmal ein Wesen mit der gewaltigen Geisteskraft eines Buddha konnte das. Man braucht einen Weg, einen Stufenweg, eine Leiter, eine „Himmelsleiter" zum höchsten Ziel der Ledigung. Man kann nicht ohne Freude, Wohl und Glück leben, d.h. nicht ohne etwas zu ergreifen. Aber man kann das Ergreifen immer mehr sublimieren und veredeln. Und die Anweisung dazu ist der Achtpfad, besonders in seinen konkreten Übungsanleitungen, wie sie der Tathâgatagang34 für Mönche darstellt, dessen Prinzipien indes auch entsprechend für Hausner fruchtbar gemacht werden können. Rechte Anschauung und rechte Gesinnung sind der erste geistige Abschnitt des Achtpfades, rechte Rede, rechtes Handeln und rechte Lebensführung ist der Tugendabschnitt der Ethik in der Begegnung, und rechtes Mühen, rechte Achtsamkeit, rechte Einigung sind der dritte und letzte Abschnitt, der der meditativen Vertiefung, die für den Mönch bald den Schwerpunkt ausmacht. Was Struktur und System des Achtpfades in seiner Tiefe wirklich ausmacht, das kann man beim ersten Anhören noch gar nicht erfassen, es ist erst auf dem Wege zu finden. Aber der Weg beginnt hier.

Seinerzeit kamen die Menschen zum Erhabenen mit dem tief empfundenen Ahnen und Sehnen:

„Versunken bin ich in Geburt, in Altern und 
Sterben, in Kummer, Jammer, Schmerz, Gram 
und Verzweiflung, in Leiden versunken, in 
Leiden verloren! O daß es doch etwa möglich 
wäre, dieser ganzen Leidensfülle ein Ende zu machen!"

(M 29, 30, 47, 68; It 91 = S 22, 80)

Und jetzt, bei der Darlegung der Vier Heilswahrheiten mit der Möglichkeit, auf dem Achtpfad dem Leiden zu entrinnen, da wurde diese Sehnsucht erfüllt und der erste Schritt auf dem Wege getan, nämlich die erste Stufe des Achtpfades, die rechte Anschauung, zu entfalten begonnen.

Der Buddha gibt dafür eines der vielen unscheinbar anmutenden Gleichnisse:

„Gleichwie etwa ein reines Kleid, von Flecken gesäubert, vollkommen die Färbung annehmen mag, ebenso auch ging da dem Hausvater, während er noch dasaß, das abgeklärte, abgespülte Auge der Wahrheit auf:

`Was irgend auch entstanden ist, muß alles wieder untergehn.'"

Wie ein Kleid (der Geist, eingekleidet in seine „Stofflichkeit") nur dann eine neue Farbe annehmen kann, wenn die Schmutzflecken der alten Farbe herausgewaschen sind (durch die Vorschaltlehren wurden die fünf Hemmungen bereinigt), so kann der Geist des Zuhörers nur dann die reine Farbe der Vier Heilswahrheiten annehmen, wenn alle seine triebhaften Hindernisse aus dem Herzen herausgetrieben sind. Nur dann kann dem vom Staub der Weltlichkeit befreiten Geistesauge das Auge der Lehre, der Wahrheit, aufgehen, das ohne Flecken und gereinigt ist (vimala, visuddhi). Und dieses unbeeinflußte Auge der rechten Anschauung sieht: Alles, was entstehen kann und entstanden ist, unterliegt der Zeit, muß wieder vergehen. Was in die Zeit gesetzt ist, wird nach einiger Zeit wieder von der Zeit verschlungen. Und das ist alles außerhalb der zeitlosen, todlosen Stätte, dem Nirvâna, der Wunschlosigkeit, der Triebversiegung.

So wird die wahnlose rechte Anschauung unverfärbt aufgenommen. Es ist dabei so, als ob der Zuhörer momentan im Geiste den ganzen Achtpfad bis zur Einigung, zur Vertiefung, durchlaufen hätte (vom Buddha unmerklich an die Hand genommen) und nun auf Stufe IX eine erste Ahnung vom dritten und letzten Weisheitsdurchbruch bekommt, von der „Kenntnis der Triebversiegung" (âsavânam khaya) als dem letzten Heilsziel. So kurz auch dieser erste Durchblick sein mag, er kann nun nur noch zunehmen, immer deutlicher werden in der Quantität, immer klarer im Umriß, aber bei immer gleicher Qualität und Inhaltlichkeit; es mag auch noch manche Leben dauern, bis der Anblick völlig von den letzten Staubkörnchen von Unwissen frei ist.

Dies aber ist die dritte und wichtigste Art von Weisheit, die durch momentane meditative Entfaltung (bhâvana-maya-paññâ) gewonnen wurde, aber nur auf der Grundlage der beiden anderen Arten, der durch Zuhören und durch Denkstruktur bestehenden Weisheit. Das also war die dritte Kutsche.


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