Augenblicke der Wahrheit

20. WAS IST PHILOSOPHIE

 

Die Leute fragen mich manchmal, welcher Religion oder welcher Yoga-Schule ich angehöre. Wenn ich ihnen antworte, was nicht oft geschieht, sage ich ihnen: «Keiner und allen!» Wenn ein solches Paradoxon sie ärgert, versuche ich, ihren Unmut durch den Zusatz zu besänftigen, ich sei ein Anhänger der Philosophie. Auf meinen Reisen in die himmlische Sphäre unendlichen, ewigen und absoluten Seins habe ich kein einziges Mal Markenzeichen entdeckt, die auf Christ, Hindu, Katholik, Protestant, Zen, Shin, Platoniker, Hegelianer usw. gelautet hätten, so wenig, wie ich Markenzeichen für Engländer, Amerikaner oder Hottentotten entdeckt habe. Alle derartigen Kennzeichnungen würden der wahren Natur des kennzeichenlosen Seins widersprechen. Alle Sektenunterschiede sind nur intellektuelle. Sie kommen auf jener Ebene nicht vor, die tiefer ist als die intellektuelle Funktion. Sie trennen die Menschen nur deshalb in feindliche Lager, weil sie pseudospirituell sind.

Wer von der Freiheit des reinen Geistes gekostet hat, wird nicht bereit sein, sich den Beschränkungen von Kult und Credo zu unterwerfen. Deshalb konnte ich es vor meinem Gewissen nicht verantworten, meine eigene Auffassung oder die Lehre über dieses Sein, die ich angenommen habe, mit einem Markenzeichen zu versehen. In meinem innersten Herzen sondere ich mich von niemandem ab, genau wie diese Lehre selbst in ihrem völligen Allumfangen keine andere ausschließt. Weil ich ihr irgendeinen Namen geben mußte, als ich von ihr zu schreiben begann, nannte ich sie Philosophie, denn dieser Name ist zu weit und zu allgemein, um zum Besitz einer einzigen Sekte zu werden. Damit kam ich lediglich auf ihre alte und edle Bedeutung bei den Griechen zurück, die in den Eleusinischen Mysterien die bei der Einweihung erfahrene spirituelle Wahrheit als «Philosophie» bezeichneten und den Eingeweihten selbst als «Philosophen», einen, der die Weisheit liebt.

Der Advaita-Anhänger, der erklärt, er habe als ein solcher keinen Standpunkt, hat bereits dadurch einen angenommen, daß er sich einen Advaita-Anhänger nennt und jeden anderen Standpunkt als dualistisch von sich weist. Eine menschliche Philosophie ist weder ausschließlich dualistisch noch ausschließlich nichtdualistisch. Sie erkennt den Zusammenhang zwischen dem Traum und dem Träumer, dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Bewußtsein und dem Denken. Sie läßt den Vedanta gelten, aber weigert sich, bei ihm aufzuhören; sie läßt die Dualität gelten, aber weigert sich, sich auf sie zu beschränken; daher ist sie allein frei von einer dogmatischen Anschauung. Indem sie versucht, das, was immerdar ist, und das, was durch Zeit und Raum gebunden ist, in Einklang zu bringen, wird sie zu einer wahrhaft menschlichen Philosophie der Wahrheit.

Die Wahrheit wird die Intelligenz nicht beleidigen, wenn sie sich auch über den Verstand emporschwingt. Mögen religiöse Eiferer Unfug schwatzen, wie sie es bisweilen tun; Heiligkeit ist nicht unvereinbar mit dem Gebrauch des Gehirns, dem Erwerb von Wissen und den rationalen Fähigkeiten.

Die Philosophie muß die Kategorien der Metaphysik. der Mystik und des praktischen Lebens kritisch in sich aufnehmen, da sie begreift, daß auf der Suche nach Wahrheit das Zusammenwirken aller drei nicht nur diesen untereinander hilfreich und fruchtbar sein wird, sondern auch notwendig für sie selbst. Denn erst nach einer solchen Aufnahme, erst nachdem sie sie alle durchlaufen hat, kann sie zu dem gelangen, was jenseits von ihnen allen liegt. Der entscheidende Punkt dieser Suche ist erreicht, wenn das Zusammenwirken zwischen allen drei Aktivitäten einen solchen Grad erreicht hat, daß sie zu einem einzigen allumfassenden Einen verschmelzen, das sich seinerseits in Art und Eigenschaft von ihnen unterscheidet. Denn die ganze Wahrheit, die dann enthüllt wird, ist nicht bloß eine zusammengesetzte. Sie nimmt sie nicht nur alle in sich auf, sondern transzendiert sie.

Wenn aus der Vereinigung von Sauerstoff und Wasserstoff Wasser entsteht, können wir weder sagen, es sei dasselbe wie die einfache Gesamtsumme beider, noch, es sei gänzlich von beiden verschieden. Es ist eine Flüssigkeit und besitzt daher Eigenschaften, die jene als Gase keineswegs besitzen. Wir können nur sagen, daß es sie einschließt und doch transzendiert. Wenn aus der Vereinigung von intellektueller Überlegung, mystischem Fühlen und altruistischem Tun die philosophische Einsicht entsteht, können wir weder sagen, diese sei nur die Totalisierung jener drei, noch, sie liege ihnen gänzlich fern. Sie umfaßt sie alle und erstreckt sich doch weit über sie hinaus in eine höhere Seinsordnung. Es ist nicht damit getan, daß der Philosoph diese drei Funktionen synthetisiert, daß in ein und demselben Augenblick sein Verstand die Welt begreift, sein Herz ihr gegenüber ein warmes Mitgefühl empfindet und sein Wille zum Handeln für den Triumph des Guten drängt, sondern er muß sich auch jener unendlichen Wirklichkeit ständig bewußt sein, an die in ihrer Reinheit kein Denken, keine Emotion und kein Handeln jemals rühren können.

Die Suche hat drei Aspekte den metaphysischen, den meditativen und den moralisch-praktischen. Die Sache des Metaphysikers ist es, dieses Ding, genannt Leben, bis zum letzten zu durchdenken. Die Sache des Mystikers ist es, den friedvollen, wunschlosen Zustand der Gedankenlosigkeit intuitiv zu erfassen. Aber diese Suche kann nicht schubfachweise vorgehen; sie muß vielmehr so erfolgen, wie wir zu leben haben, das heißt ganzheitlich. Deshalb ist es die Sache des Philosophen, die blutlosen Schlußfolgerungen des Metaphysikers und die gelöste Intuition des Mystikers in enge Verbindung mit praktischen Verpflichtungen und Tätigkeiten von Menschen aus Fleisch und Blut zu bringen.

Die alte mystisch-metaphysische Weisheit und der moderne praktisch-wissenschaftliche Verstand bilden die zwei Hälften einer vollständigen und umfassenden menschlichen Kultur. Beide erwartet man bei einem Menschen, der gänzlich gebildet sein will; wer nur das eine ohne das andere hat, der lahmt. Vielleicht war dies der Grund, weshalb der weise Emerson bekannte: «Ich habe bis jetzt noch keinen Menschen gesehen!» Folglich ist einer, der all die verschiedenen Disziplinen durchlaufen hat, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Denn die Meditation wird sein Temperament beruhigt und seinen Charakter diszipliniert haben; die Metaphysik der Wahrheit wird seine Intelligenz geschärft, ihn gegen Irrtum gefeit und seine Ansichten ins Lot gebracht haben; das philosophische Ethos wird seine Motive geläutert und seinen Altruismus gefordert haben, dieweil ihm die philosophische Einsicht für immer die Tatsache bewußt gemacht haben wird, daß er im Land des Überselbst heimisch ist. Er wird das Leben an seinen wesentlichen Punkten berührt haben, ohne sich doch von irgendeinem beengen oder einschränken zu lassen.

Die Philosophie schickt ihre Anhänger auf eine heilige Pilgerfahrt, die sie aus dem gewöhnlichen Leben in den physischen Sinnen durch das mystische Leben im sinnenbefreiten Geist wieder zurück zu einem vergöttlichten Leben in denselben Sinnen führt.

Für die Philosophie stellt sich das Problem, jeden einzelnen Sucher zu erziehen, der danach strebt, sie zu verstehen. So etwas wie eine Erziehung der Massen gibt es in der Philosophie nicht.

Die spirituellen Sucher, die René Guenon, und die Dichter, die T. S. Eliot folgten, gingen in die gleiche Falle wie ihre Führer. Denn indem sie - zu Recht - ihre Stimme gegen die Anarchie zuchtloser und unbegrenzter Freiheit erhoben, zogen sich sowohl Guenon als auch Eliot in die formale Tradition und den erstarrten Mythos zurück. Beide Dinge hatten ihren historischen Zweck erfüllt und waren auf der Strecke geblieben. Beide Männer waren brillante Intellektuelle und zogen natürlich einen entsprechenden Leserkreis an. Ihr Einfluß ist verständlich. Aber er liegt nicht auf der kommenden Welle des Wassermannzeitalters. Neue Formen werden benötigt, um den neuen Erkenntnissen, den neuen Ansichten, den neuen Gefühlen zu genügen. Man mag das Althergebrachte respektieren, ja sogar bewundern; doch dem Schöpferischen wird man folgen.

Das Ziel der Selbstauslöschung, das uns vorgehalten wird, bezieht sich nur auf das tierische und das niedere menschliche Selbst. Es bezieht sich gewiß nicht auf die Vernichtung alles menschlichen Selbstbewußtseins. Die höhere Individualität bleibt immer erhalten. Aber sie ist so verschieden von der niederen, daß es nicht viel Sinn hat, sich in menschlicher Sprache über sie zu verbreiten. Wer sie hinlänglich verstanden hat, schreibt oder redet daher wenig über ihre höheren Geheimnisse. Wenn das Ende allen Daseins bestenfalls nur ein Aufgehen in etwas anderem oder schlimmstenfalls die Vernichtung bedeutete, hätten wir es mit einer unsinnigen und traurigen Ordnung der Dinge zu tun. Sie wäre der göttlichen Intelligenz unwürdig und ein Hohn auf die göttliche Güte. Das allen Denkens ledige Bewußtsein, das einem weniger anziehend vorkommt als die Risiken des Lebens hier unten, ist in Wirklichkeit eine ungeheure Erweiterung dessen, was das Denken selbst zu leisten versucht. Spiritueller Fortschritt verläuft tatsächlich von einem Weniger zu einem Mehr. Es gibt dabei nichts zu befürchten und nichts zu verlieren - höchstens nach den Maßstäben und Werten der Unwissenden.

Es ist vielleicht die Spannweite und Symmetrie des philosophischen Ansatzes, die diesen so lohnend macht. Denn er ist der einzige Ansatz, der die Vernunft in Ehren hält und die Schönheit würdigt, die Intuition pflegt und die mystische Erfahrung achtet, die Ehrfurcht nährt und wahres Beten lehrt, Handeln zur Pflicht macht und Sittlichkeit fördert. Er ist das voll ausgereifte geistige Leben.

Nicht dem Leben zu entfliehen, sondern ihm Ausdruck zu verleihen ist das praktische Ziel der Philosophie. Nicht den Suchenden aus dem allgemeinen Treiben hinauszuführen, sondern ihm etwas Erstrebenswertes zu tun zu geben ist das vernünftige Ideal der Philosophie.

Anhaltendes und dauerndes Nachdenken über die hier dargelegten Ideen ist selbst ein Teil des Yogas philosophischer Unterscheidung. Eine solche Reflexion wird den Schüler ebenso natürlich zur Verwirklichung seines Ziels führen wie das dazu passende und gleichfalls notwendige völlige Abstellen aller Ideen in der geistigen Stille. Das liegt daran, daß diese Ideen keine bloßen Spekulationen sind, sondern selbst die Frucht einer Übersetzung aus innerer Erfahrung. Während sich solche Ideen wie die hier dargelegten durch das Wasser der Reflexion und den Sonnenschein der Liebe zu fruchtbaren Zweigen des Denkens auswachsen, beginnen sie allmählich, Intuition zu fördern.

An der Schwelle zur Wirklichkeit muß die logische Bewegung des Verstandes zum Stillstand kommen. Aber wir dürfen dieses Innehalten nicht mutwillig oder auf Geheiß eines Menschen oder einer Lehre herbeiführen. Es muß von selbst kommen: als letzte Reifestufe eines langen und genauen Nachsinnens und als Gipfel der intellektuellen und persönlichen Entdeckung, daß es erst dann zum wesenhaften Erfassen des Geistes kommt, wenn wir die Ideenformen, die er annimmt, loslassen und unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten.

Das Paradoxon besteht darin, daß beide: die Fähigkeit, tief zu denken, und die Fähigkeit, das Denken seinzulassen, zur Erreichung dieses Zieles gebraucht werden.

Man darf den Kernpunkt unserer Kritik nicht übersehen. Unsere Worte sind gegen die Auffassung gerichtet, die den Maßstab der Wahrheit mit dem ungeprüften und ungeläuterten Gefühl dafür gleichsetzt - wie mystisch es auch sein mag. Wir verlangen nicht, man solle das Gefühl außer acht lassen oder seinen Beitrag zur Wahrheit, der überaus wichtig ist, geringschätzen. Unsere Kritik ist nicht gegen die Emotion gerichtet, sondern gegen jene unausgewogene Haltung, die die Emotion fast schon zu einer Religion an sich hochstilisiert. Wir fordern nur, daß man die Reaktion des persönlichen Gefühls nicht zum alleinigen und hinlänglichen Maßstab dafür erklärt, was Wirklichkeit und Wahrheit ist und was nicht. Wenn wir davon sprechen, das Gefühl allein sei als Beweis dafür, daß einer das Überselbst erfahren hat, unzureichend und daher nur beschränkt gültig, dann meinen wir damit natürlich in erster Linie das leidenschaftliche Gefühl, das den Mystiker in Freudentaumel stürzt, und in zweiter Linie jede starke Emotion, die ihn derart mitreißt, daß er sich weigert, seine Erfahrung kühl und wissenschaftlich zu analysieren.

Drei Punkte gilt es hier festzuhalten. Erstens kann das bloße Gefühl allein leicht egoistisch sein und die Wahrheit entstellen oder entflammt sein und sie übertreiben oder anstelle einer unerwünschten Tatsache eine erwünschte Phantasie blühen lassen. Zweitens besteht bei ihm keine Möglichkeit, sich Gewißheit zu verschaffen. Seine - rein persönliche - Geltung ist nur insoweit annehmbar, wie es die Darbietungen von Dichtern und Künstlern sind, die wohl von der psychischen, nicht aber von der metaphysischen Wirklichkeit zu künden vermögen. Zum Beispiel kann der Mystiker auf die Wirklichkeit schauen und sie so und so sehen, aber jemand anders mag sie ganz anders sehen. Drittens läßt sich der philosophische Einwand dagegen, das Gefühl allein zum Maßstab der Wahrheit zu erklären, und unser Beharren darauf, seine Einflüsterungen mit kritischer Überlegung nachzuprüfen, am prägnantesten durch eine Analogie ausdrücken. Wir fühlen, daß die Erde fest und bewegungslos ist, aber wir wissen, daß sie im Raum eine Kurve beschreibt. Wir fühlen, daß sie fest am Firmament steht, aber wir wissen, daß das ganze heliozentrische System seine eigene Bewegung im Raum vollführt. Der Leser sollte über die Implikationen dieser Tatsachen nachdenken. Sind die Annalen der Mystik nicht durch viele Beispiele von Größenwahnsinnigen besudelt, die sich als Messias aufspielten, bloß weil sie fühlten, Gott habe sie dazu beauftragt? Daher befaßt sich der Philosoph nicht nur mit den emotionalen Wirkungen der inneren Erfahrung, wie es der Mystiker tut, sondern auch mit der Wahrheit dieser Wirkungen.

Der Philosoph hat an einem edlen Frieden genug und läuft nicht mystischen Ekstasen hinterher.

Die Grundlage des Universums ist sein Gleichgewicht. Nur so können die Planeten einträchtig und ohne zusammenzustoßen kreisen. Wer sich gleichfalls mit Natur und Gott in Einklang bringen will, muß als Grundlage seiner eigenen Natur Gleichgewicht herstellen.

Doch es ist von höchster Wichtigkeit zu betonen, daß das Prinzip der Ausgeglichenheit erst dann in einem Menschen voll durchgesetzt werden kann, wenn jedes der Elemente in ihm vollständig ausgebildet worden ist. Wird dies unterlassen, so entsteht jener Menschenschlag, der die Wahrheit intellektuell kennt, gewandt darüber redet und trotzdem das Falsche tut. Ein Gleichgewicht unreifer und halbausgebildeter Fähigkeiten ist seiner Natur nach flüchtig und niemals gänzlich zufriedenstellend, ein Gleichgewicht ausgereifter Fähigkeiten dagegen ist unbedingt dauerhaft und stets voll befriedigend.

Sogar der Begriff, den wir uns vom Ausgleich machen, muß korrigiert werden. Er ist, philosophisch gesehen, nicht der Mittelwert zwischen zwei Extremen, sondern die kompensatorische Vereinigung zweier Qualitäten oder Elemente, die einander brauchen.

Glaube wird ausgeglichen durch Verständnis, Energie durch Friedlichkeit, Vernunft durch Intuition, Verstand durch Gefühl, Demut durch Streben und Besonnenheit durch Eifer.

Nicht unbedingt der Mensch ist ausgeglichen, der zur rechnerischen Mitte zwischen zwei Extremen greift, sondern einer, der sich von der inneren Ruhe ergreifen läßt. Die nötige Berichtigung geschieht dann von selbst. Obwohl man dadurch vermeidet, sich zu einseitigen Handlungen oder übertriebenen Wertvorstellungen hinreißen zu lassen, ist ein maßvoller Charakter noch nicht das beste Ergebnis, das man so erzielt. Wichtiger ist die Hingabe an die höhere Macht, die dem ganzen Prozeß, wahrhaft ausgeglichen zu werden, inbegriffen ist. Angestrebt werden soll nicht nur ein Ausgleich innerhalb des Ich, nicht nur zwischen Vernunft und Emotion, Denken und Handeln, sondern auch, was viel wichtiger ist, außerhalb des Ich: zwischen ihm und dem Überselbst.

Im Beobachten ein Wissenschaftler, im Herzen ein Frommer, im Denken ein Metaphysiker, im Geheimen ein Mystiker und in der Öffentlichkeit ein tüchtiger, ehrbarer, nützlicher Mitbürger - Menschen dieser Art bringt die Philosophie hervor.

Wer seinen Charakter hinreichend geläutert, seine Sinne unter Kontrolle gebracht, seine Vernunft ausgebildet und seine Intuition entfaltet hat, ist stets bereit, das zu nehmen, was kommt, und es recht zu nehmen. Er braucht die Zukunft nicht zu fürchten. Die Zeit arbeitet für ihn. Denn er lädt sich kein schlechtes Karma mehr auf, und jedes neue Jahr bringt ihm statt dessen nur noch mehr gutes Karma. Und selbst dort, wo er das Wirken des alten widrigen Karmas noch ertragen muß, bleibt er dennoch gelassen, weil er mit Epiktet begreift: «Nur um einetwillen hat mich der Gott in die Welt gesandt, nämlich um meine Natur in jederlei Tugend oder Stärke zu vervollkommnen; und es gibt nichts, was ich mir zu diesem Zweck nicht nutzbar machen könnte.» Er weiß, daß jede Erfahrung, die er macht, genau das ist, was er in dem Moment am meisten braucht, selbst, wenn sie ihm am wenigsten behagen sollte. Er braucht sie, weil sie zum Teil nichts anderes ist als sein auf ihn zurückfallendes eigenes früheres Denken, Fühlen und Tun, das ihm vor Augen tritt, damit er dessen Ergebnisse in einer klaren, konkreten und unmißverständlichen Form erkennen und studieren kann. Er schafft es, daß jede Situation ihm bei seinen letzten Zielen hilft, selbst wenn sie ihn bei seinen unmittelbaren hemmt.

Solche Gelassenheit angesichts von Widrigkeiten darf nicht mit trägem Fatalismus oder lethargischer Hinnahme jedes ungünstigen Ereignisses als gottgewollt verwechselt werden. Denn obwohl er versuchen wird, zu verstehen, warum es ihm widerfahren ist, und der dahinter verborgenen Lektion Herr zu werden, wird er auch versuchen, des Ereignisses selbst Herr zu werden, und sich nicht damit zufrieden geben, es hilflos über sich ergehen zu lassen. Wenn ihm also alle Geschehnisse recht kommen und er weiß, daß seine Reaktion auf sie von Weisheit und Tugend bestimmt sein wird, dann kann ihn die Zukunft so wenig schrecken, wie ihn die Gegenwart bange macht Er kann nicht fehlgehen, was auch geschieht. Denn er weiß auch, daß ihn die Erfahrung, mag sie in den Augen der Welt eine Niederlage oder ein Leid, mag sie ein Triumph oder eine Freude sein, besser, klüger und stärker zurücklassen wird, als sie ihn antraf, besser gerüstet für die nächste, die ihm bevorsteht.

Der Schüler der Philosophie weiß, daß er hier ist, um diese Ereignisse, Bedingungen und Situationen, die andere fliehen und vermeiden möchten, ins Auge zu fassen, zu verstehen und zu meistern, daß es sich am Ende nicht lohnt, den Hindernissen des Lebens aus dem Weg zu gehen und vor dem Anpacken seiner Probleme die Flucht zu ergreifen. Er weiß, daß seine Weisheit aus der Fülle des Erlebens und nicht aus seiner Armut erwachsen muß und daß es nichts nützt, sich eigenbrötlerisch vor dem Lebenskampf zu drücken, denn es ist zum großen Teil dieser Kampf, durch den er seine schlummernden Talente zum Vorschein bringen kann. Die Philosophie weigert sich nicht, sich dem Leben zu stellen, wie tragisch oder wie schrecklich es auch sein mag, und nutzt solche Erfahrungen für das Gedeihen ihrer eigenen höheren Absichten.

Das Wort «Intuition» hatte seinen ursprünglichen Wert für mich verloren. Ich sah mich nach einem besseren um und fand es in «Einsicht». Mit diesem Ausdruck bezeichnete ich das höchste Erkenntnisvermögen der Weisen und konnte daher den Ausdruck «Intuition» als etwas Untergeordnetes behandeln, das manchmal erstaunlich korrekt ist, aber nicht selten hoffnungslos falsch, wenn es zu etwas anleitet, etwas darstellt oder eine Vorahnung gibt. Des weiteren wagte ich zu behaupten, was schon die alten asiatischen Weisen vor langer Zeit behauptet hatten, daß es nämlich möglich ist, die Fähigkeit zu direkter Einsicht in die Natur des Überselbst, in die höchste Wirklichkeit des Universums zu entfalten, daß dies die höchste dem Menschen mögliche Form von Intuition ist und daß sie sich nicht mit Enthüllungen von geringerem Wert abgibt wie etwa der, den Namen des Pferdes zu nennen, das wahrscheinlich das morgige Rennen gewinnt, eine Enthüllung, wie sie die Art von Intuition, von der wir heute so viel hören, manchmal zu machen vermag.

Wer große Sicherheit gewinnt, gewinnt große Stärke. Die Wahrheit macht nicht nur den Kopf klar, sondern schärft auch den Willen. Sie ist nicht nur unseren Füßen ein Licht, sondern selbst eine im Blute wirkende Kraft.

Man kann sagen, daß das Höchste, dessen die Welt bedarf, genau das ist, was der Erleuchtete gefunden hat, daher seine Pflicht, es an die Welt weiterzugeben. Das ist richtig, aber es ist ebenso richtig, daß die Welt dafür so wenig bereit ist, wie er dafür bereit war, bevor er sich einer langen Lehrzeit der Läuterung, Selbstzucht und Übung unterzog. Da er diese Gegebenheiten der Situation annimmt, verspürt er keinen Drang, seine Ideen zu verbreiten, keinen Impuls, eine Anhängerschaft zu organisieren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er überhaupt nichts tut; es bedeutet nur, daß er auf die Weise hilft, die ihm am wirksamsten dünkt, selbst wenn sie die am wenigsten offenkundige und am wenigsten sichtbare ist. Er ist nicht taub für den Ruf der Pflicht, aber er faßt sie weiter als jene, die seinen Stand und die Kräfte, über die er gebietet, nicht kennen.

Nach dem Verlangen, im vollsten Sinne vom Überselbst überschattet zu werden, welches immer zuerst kommen muß, ist es das zweite Verlangen, den Frieden, das Verständnis und das Mitgefühl zu verbreiten, die nunmehr wie eine Flamme in einem brennen, einen inneren Zustand weiterzugeben und kein intellektuelles Dogma, diejenigen zu segnen und zu erhellen, welche ihren göttlichen Vater, ihre göttliche Mutter suchen.

Der Philosoph akzeptiert seine ihm vorherbestimmte Isolation nicht nur deshalb, weil er nun einmal in dieser Position leben muß, sondern auch, weil seine leibhaftige Gegenwart negative Gefühle in den Herzen der normalen Menschen weckt, wie sie positive in den Herzen gewisser Sucher weckt. Die negativen können sich von Verwirrung, Bestürzung und Argwohn bis hin zu Furcht, Widerspruch und erklärter Feindschaft erstrecken. Die positiven können sich erstrecken von instinktiver Anziehung bis hin zur Bereitschaft, das Leben zu seiner Verteidigung oder in seinem Dienst zu lassen. Alle diese Gefühle entstehen schlagartig, irrational und instinktiv. Und sie haben nichts damit zu tun, ob er seine wahre persönliche Identität offenbart oder nicht. Dies kommt daher, daß sie die Folge eines psychischen Übergreifens seiner Aura auf die ihre ist. Der Kontakt ist in der physischen Welt nicht wahrnehmbar, aber in der geistig-emotionalen Welt ist er überaus wirklich.

Es ist wahrhaft für beide eine psychische Erfahrung: klar und präzise und richtig verstanden vom Philosophen, vage und beunruhigend für das normale Volk und von diesem wie auch von den Pseudosuchenden gänzlich mißverstanden. Für diejenigen echten Sucher, zu denen von ihm aus eine innere Verwandtschaft besteht, ist es sowohl eine psychische als auch mystische Erfahrung, ein freudiges Erkennen eines vor langer Zeit verlorenen, hochverehrten älteren Bruders.

Aber trotz des großmütigen Mitgefühls und des reichlichen Wohlwollens, die er in seinem Herzen für alle Menschen gleichermaßen hegt, sind es leider die unangenehmen Kontakte, die zahlenmäßig jedesmal überwiegen, wenn der Philosoph sich in die Welt hinab begibt. Man mache es nicht ihm zum Vorwurf, wenn er die Einsamkeit der Geselligkeit vorzieht. Denn er kann nichts daran ändern. Die Menschen sind, wie sie sind. Wenn er sich ihnen angenehm zu machen versucht, als ob sie auf derselben spirituellen Stufe stünden, scheitert er meistens. Etwas schwerfällig lernt er, seine Isolation und die Beschränktheit der anderen als unvermeidlich und auf der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Evolution unveränderbar hinzunehmen. Er lernt auch, daß es müßig ist, sich zu wünschen, es wäre anders um diese Dinge bestellt.


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