Augenblicke der Wahrheit

21. DER MENTALISMUS

 

Was ist der Geist? Er ist dasjenige in uns, was denkt, was bewußt ist und was erkennt.

Der Geist ist die Kraft, bewußt zu sein, zu denken und sich etwas vorzustellen. Er ist nicht das fleischliche Gehirn.

Wenn wir uns die Form und die Dimensionen des Geistes richtig vorstellen wollen, müssen wir uns ihn als grenzenlosen Raum vorstellen Das heißt, er ist überall.

Der Geist muß jedem Denken, jedem Erkennen vorausgehen. Er muß Dasein, damit ein Denken überhaupt irgendwie möglich ist.

Man wird durch Erfahrung einsehen lernen, wie die Wissenschaft durch das Experiment einsehen lernt, daß dieses ungeheure Universum in seiner vorliegenden Form nur den körperlichen Sinnen wirklich ist. Sobald sich der Geist von ihnen freigemacht hat, nimmt es eine ganz andere Form an und die alte Form hört überhaupt zu existieren auf. Man ist dann gezwungen, seinen falschen Glauben an die Wirklichkeit der Welt zu korrigieren. Wenn es nichts weiter gäbe als die fünf Sinne, würde diese Korrektur das Universum zu einer Illusion abstempeln. Aber die Gegenwart des Geistes in ihm macht es zu einer Idee.

Der unermeßliche Reichtum des Universums erreicht in seiner Gesamtheit niemals die menschlichen Sinne. Das ist nicht deren Schuld. Sie können nichts daran ändern, daß sie nur eine begrenzte Auswahl empfangen. Es gibt oberhalb wie auch unterhalb ihres Empfangsbereichs noch zahlreiche Schwingungen. Und doch besitzen wir die Kühnheit zu behaupten, die Welt unserer Erfahrung, die einzige, die wir kennen, sei die wirkliche Welt und alle anderen seien illusorisch.

Es sind nicht die fünf Sinne, die die Außenwelt erkennen, denn sie sind nur die Instrumente, die der Geist gebraucht. Es ist nicht einmal der Verstand, denn er gibt bloß das aus der Gesamtheit der Sinnesmeldungen geformte Bild wieder. Sie sind nicht fähig, für sich allein zur Geltung zu gelangen. Das Prinzip des Bewußtseins, das hinter beiden steht und dessen ausführende Organe sie einfach sind, ist es, was eine Kenntnis der Welt überhaupt erst möglich macht. Es ist wie die Sonne, die die Existenz aller Dinge erhellt.

Die (vor allem von der Vermögenspsychologie) oft getroffene Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmung und Idee oder zwischen Sinneseindrücken und Gedanken galt einst als tatsächliche Gegebenheit, gilt aber jetzt nur mehr als ein Behelf, der die intellektuelle Analyse erleichtert. Ein Kompromißstandpunkt betrachtet jetzt unsere Erfahrung der Welt als eine Verbindung der zwei, jedoch als eine Verbindung, die sich niemals in getrennte Elemente aufspaltet. Diese Auffassung stellt auf dem Weg zur mentalistischen Position einen großen Schritt vorwärts dar, ist aber dennoch nur ein Schritt. Und nach dieser Position gibt es nur eine einzige Aktivität, eine einzige Erfahrung - Denken. Die Idee ist die Sinneswahrnehmung, die Sinneswahrnehmung ist die Idee. Der Sinneseindruck, von dem unsere heutigen Psychologen befinden, er sei ein Element der Erfahrung, ist in Wirklichkeit ihre Auslegung der Erfahrung. Er ist daher nichts anderes als ein Gedanke. Und was dieser unbewußt auszulegen vorgibt, ist ebenfalls ein Gedanke!

Der Mentalismus lehrt, daß es unsere Denktätigkeit ist, die uns die ganze Welt zu Bewußtsein bringt, und daß, wenn diese Denktätigkeit zu Ende geht, die Welt ebenfalls zu Ende geht - für uns. Er lehrt, daß es kein anderes Objekt gibt als den Gedanken selbst.

Der Geist befaßt sich direkt mit seinen Objekten und nicht durch das vermittelnde Wirken der Ideen, denn die Ideen sind seine einzigen Objekte.

Der Geist wird von seinen eigenen Gesetzen regiert und treibt seine eigenen Schöpfungen hervor. Das Universum wird in jedem einzelnen Augenblick seiner Geschichte von der Aktion und Reaktion dieser Schöpfungen gebildet.

Nicht weil etwas existiert, denkt man es sich, sondern weil man es sich denkt, und sei es auch unwillkürlich, existiert es. Und dieser Gedanke daran ist ein Teil deines eigenen Bewußtseins, nicht außerhalb von dir.

Geistige Tätigkeit braucht nicht bewußt zu sein.

Es ist absurd, auch nur zu unterstellen, es gäbe eine Außenwelt gänzlich außerhalb des eigenen Bewußtseins und gänzlich unabhängig davon. Man erkennt nur gewisse Veränderungen der geistigen Bewußtheit, niemals Äußeres. Der Geist kann nur seine Veränderungen des individuellen Bewußtseins erkennen. Alle seine Beobachtungen, jede seiner Folgerungen, alles, was er weiß - es liegt in diesem Bewußtsein beschlossen und steht niemals darüber.

Jedes Wissen um etwas ist ganz einfach der Gedanke darüber. Dies darf nicht mit dem richtigen Gedanken darüber verwechselt werden. Es ist ein bewußter geistiger Zustand, und selbst andere Personen sind nur Erscheinungen in diesem Zustand, Geschöpfe im kosmischen Traum. Um diese Überlegung bis zu ihrem notwendigen Ende zu verfolgen, braucht man im höchsten Maße Mut und Aufrichtigkeit, denn sie verlangt als letzte Schlußfolgerung daraus, daß Erkenntnis nur aus Ideen im Geist besteht, den Grundsatz, daß das ganze Universum nichts als eine gewaltige Idee im eigenen Geist ist. So nämlich ist die Erkenntnis ihrer wahren Natur nach innerlich, und daher kann der individuelle Geist keine ihm äußerliche Wirklichkeit erkennen. Er meint, eine Welt außen zu betrachten, wenn er doch nur seine eigenen geistigen Bilder dieser Welt betrachtet.

Gibt es einen exakten universellen Maßstab der Wahrheit, der zu jeder Zeit und unter allen Umständen anwendbar ist, kurz, etwas Unwandelbares und damit Allerhabenes? Die Wissenschaftler wissen, daß die großen Prinzipien, die in der Geschichte der Wissenschaft Marksteine bildeten, in Wirklichkeit Stufen auf dem Weg zur exakten Wahrheit waren. Die Wissenschaft wandelt sich, ihre Lehren wandeln sich, und ihre früheren Näherungen werden von Zeit zu Zeit durch genauere Standortbestimmungen ersetzt. Wir können heutzutage, da die Wissenschaft selbst eine so rasche Gangart einschlägt, nicht hoffen, eine letztgültige Wahrheit zu finden. Es bleibt jedoch eine unerschütterliche, allumfassende Tatsache bestehen, die immer wahr bleiben wird und sich unmöglich je ändern kann. Ja, jeder experimentelle und theoretische Fortschritt durch forschende Wissenschaftler wird nur dazu beitragen, diese große Entdeckung zu bewahrheiten. Worin besteht sie? Darin, daß die ganze Welt, mit deren Untersuchung jeder Zweig der Wissenschaft emsig beschäftigt ist, nichts als eine Idee im menschlichen Geist ist. Physik, Chemie, Geologie, Astronomie, Biologie und all die anderen Wissenschaften ohne jede Ausnahme haben es letzten Endes ausschließlich mit einem das menschliche Bewußtsein durchziehenden Gedanken bzw. einer Reihe von Gedanken zu tun. Hier also besitzen wir ein Universalgesetz, das das gesamte Feld, auf dem die Wissenschaft tätig ist, umfaßt. Dies ist eine letztgültige Wahrheit, die unsterblich ist und noch dann bestehen wird, wenn jede andere von der Wissenschaft aufgestellte Hypothese durch den Fortschritt der Erkenntnis zu Grabe getragen wurde.

Wir träumen die Wachheit nicht so, wie wir im Schlaf träumen. Denn in diesem ist allein der individuelle Geist der ausspinnende Teil, während jene vom kosmischen Geist ausgesponnen und dem individuellen Geist dargeboten wird. Wenn man jedoch zur Erkenntnis gelangt, sind letztlich beide ein und derselbe Geist, genau wie sich ein Sonnenstrahl letztlich als eins mit der Sonne herausstellt. Der bestehende Unterschied ist vergänglich und in Wirklichkeit illusorisch, aber solange die körperliche Erfahrung fortwirkt, kann man ihn bemerken. Es ist richtig, daß die gegenwärtige Illusion der Geburt ihre Ursache in vergangenen Neigungen hat; wir werden von der Vergangenheit hypnotisiert, und es ist unsere Aufgabe, uns zu de-hypnotisieren, das heißt, neue Denkgewohnheiten zu schaffen, bis der Geistesblitz von selbst kommt. Doch der Geistesblitz kommt in einer Art von Trancezustand, der einen Augenblick lang oder länger dauern kann. Er kommt während der höheren Meditation der Supramystik.

Der individuelle Geist malt sich das Welt-Bild durch sein eigenes Bewußtsein und in diesem aus. Wenn das die ganze Wahrheit wäre, könnte man die Erfahrung durchaus zu Recht eine private nennen. Weil aber der individuelle Geist im universellen Geist verwurzelt und von ihm untrennbar ist, ist es nur ein Teil der Wahrheit. Der Weltgedanke des Menschen ist im Gedanken Gottes enthalten und davon umschlossen.

Telepathie ist nicht deshalb möglich, weil das Denken den Raum durcheilen kann, sondern weil der Raum in Wirklichkeit Denken ist.

Die geistigen Bilder, die das Universum unserer Erfahrung ausmachen, wiederholen sich in einer einzigen Minute unzählige Male. Nur deshalb erwecken sie den Eindruck der Kontinuität und Dauerhaftigkeit und Stabilität, genau wie ein Film. Wenn wir sie auslöschen und dabei doch unser Bewußtsein unabgeschwächt bewahren könnten, würden wir zum ersten Mal ihren Ursprung erkennen, die Wirklichkeit hinter ihren Erscheinungen. Das heißt, wir würden den Geist an sich erkennen. Eine solche Auslöschung wird durch Yoga erreicht. Hierin also liegt die Wichtigkeit der Verbindung zwischen Mentalismus und Mystik.

Wer begreift, daß jedes Objekt und jede Person, die er in seiner Umgebung wahrnimmt, nur dem Anschein nach von ihm getrennt ist und nur so erscheint, weil er das Funktionieren seines Bewußtseins nicht durchschaut, der ist reif für die Erleuchtung. Aber derer, die zu solch fortgeschrittenem Begreifen gekommen sind, sind nur wenige.

Wenn wir schließlich dazu kommen, dieses ganze grenzenlose Universum als eine bloße Gedankenform wahrzunehmen, und wenn wir empfinden können, daß unsere eigene Quelle das eine und höchste Prinzip ist, in dem und durch das das Universum entsteht, dann ist unser Wissen vollkommen geworden.


22. INSPIRATION UND DAS ÜBERSELBST

 

Der Punkt, wo der Mensch auf das Unendliche trifft, ist das Überselbst, wo er, der Endliche, auf das antwortet, was absolutes, unsagbares und unerschöpfliches Sein ist, wo er auf das reagiert, was sein eigenes Dasein übersteigt - dies ist der personhafte Gott, de er erlebt und zu dem er in eine Beziehung tritt. In diesem Sinne ist sein Glaube an einen solchen Gott berechtigt.

Während wir den Verstand nur durch Denken erreichen können, können wir den Geist nur durch Intuition erreichen. Die Meditationspraxis ist einfach die Vertiefung, Ausweitung und Verstärkung der Intuition. Eine mystische Erfahrung ist einfach eine anhaltende Intuition.

Es gibt nicht ein festgelegtes Muster, dem ein intuitiv gelenktes Leben folgen müßte. Manchmal sieht man in einer blitzartigen Einsicht Bahn und Ziel vor sich, aber ein andermal sieht man nur den allernächsten Schritt und muß sich sowohl für den zweiten Schritt als auch für das letztliche Ziel geistig offen halten.

Intuitive Führung wird uns nicht unbedingt dann zuteil, wenn wir sie suchen, sondern wenn der Anlaß sie erfordert. Sie kommt für gewöhnlich nicht eher, als bis sie wirklich benötigt wird. Der Verstand als Teil des Ich wird oft vor der Zeit danach streben, weil er womöglich von Unruhe, Furcht, Verlangen oder Vorgefühl getrieben wird. Ein solches vorzeitiges Suchen ist fruchtlos.

Die Kunst dabei ist, unverzüglich mit dem aufzuhören, was man gerade macht, oder sogar mit dem, was man gerade sagt, und all seine Aufmerksamkeit auf die einsetzende Intuition umzustellen. Die Arbeit muß unvollkommen gelassen, der Satz abgebrochen werden, denn hier soll man von seiner Urteilskraft Gebrauch machen.

Eine falsche persönliche Absicht kann durch richtige intuitive Führung aufgehoben werden, aber es ist nicht leicht, diese als solche zu erkennen. Der Unterschied zwischen einem bloßen Impuls und einer echten Intuition läßt sich oft auf zweierlei Art ermitteln: Erstens, indem man ein paar Tage wartet, weil dann der unterbewußte Geist die Gelegenheit hat, bei der Entscheidung der Angelegenheit helfend einzugreifen; zweitens, indem man sich der Art von Emotion vergewissert, die mit der Botschaft einhergeht. Ist die Emotion von niederer Art wie etwa Ärger, Entrüstung, Gier oder Wollust, handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Impuls. Ist sie von höherer Art wie etwa Selbstlosigkeit oder Vergebung, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Intuition.

Wenn man ein Problem von allen Seiten betrachtet hat, und das nicht nur mit aller Schärfe des Geistes, sondern auch mit aller Reinheit des Herzens, dann sollte man es am Ende dem Überselbst übergeben und sein lassen. Die Technik ist einfach. Sie besteht darin, still zu sein. In dem Augenblick, da man das Problem fallen läßt, triumphiert man über das Ich. Dies ist eine Form der Meditation. Im Anfangsstadium ist sie ein Eingeständnis der Hilflosigkeit und Schwäche bei der Behandlung des Problems, der persönlichen Grenzen, gefolgt von einer Hingabe des Problems (und seiner selbst) an das Überselbst als letzter Ausweg. Mehr kann man nicht tun. Weiteres Nachdenken wäre müßig. An diesem Punkt kann die Gnade einsetzen und das bewirken, was das Ich nicht vermag. Entweder gleich oder zu einem späteren Zeitpunkt kann sie einem Führung in Form einer klar auf der Hand liegenden Idee zuteil werden lassen.

Die Eingebungen, die von diesem inneren Wesen kommen, werden, ungeachtet dessen, wie stark sie auf ihrer eigenen Ebene sind, zunächst einmal so schwach vernommen, daß wir sie leicht als trivial abtun. Dies ist die Tragödie des Menschen. Die Stimmen, die ihn so oft auf leidbringende Bahnen verleiten - seine Leidenschaft, sein Ich und blinder Verstand -, sind laut und lärmend. Das Flüstern, das ihn recht leitet, zu Gott, ist verhalten und Niemand möge sich einbilden, der Kontakt mit dem Überselbst sei eine Art träumerisches Schweben, ein genüßlicher, blumiger Zustand. Er ist ein lebensvoller Bezug zu einem Strom des Friedens, der Kraft und der Güte, der unablässig vom unsichtbaren Zentrum zum sichtbaren Selbst fließt.

In dem Maße, wie jemand sich der Gegenwart des Überselbst bewußt ist, wird er inspiriert. In dem Maße, wie er auch in einer der Künste begabt ist, wird auch sein Werk inspiriert .

Selbst die Arbeit im Büro, in der Fabrik oder auf dem Feld hält einen Menschen nicht davon ab, seine Suche nach dem inneren Geist fortzusetzen. Die Vorstellung, diese Suche verlange Entrücktheit von der gemeinen Alltagswelt, wird von der Philosophie nicht geteilt. Zerstreutheit und Arbeit sind nicht so unlösbar verknüpft, wie wir vielleicht meinen. Der Schüler kann sich dazu erziehen, selbst bei angestrengter Tätigkeit eine ruhige und gelassene Haltung zu bewahren, wie er sich denn auch die neuesten Erfindungen wissenschaftlicher Technik zunutze macht und doch die geistige Fähigkeit behält, in den ältesten Büchern der asiatischen Weisen zu schmökern. Er kann sich dazu schulen, von der Meditation ins Getriebe zurückzukehren, überall hinzugehen, alles zu tun, wenn er Wahrheit im Geiste und Gelassenheit im Herzen trägt. Er kann lernen, zu allen Zeiten in der Wirklichkeit zu leben. Das Gefühl ihrer Gegenwart bedarf keiner ständigen Erneuerung, keines häufigen Hinübergleitens in die Trance, keiner zwischenzeitigen Flucht aus der Welt, wenn er dem dreifältigen Pfad der Philosophie folgt.

Obwohl es stimmt, daß das Überselbst der wahre Schutzengel jedes Menschen ist, sollten wir nicht so töricht sein, an sein sofortiges Eingreifen bei jeder trivialen Angelegenheit zu glauben. Im Gegenteil, seine Sorge zielt aufs Allgemeine statt aufs Besondere, auf die Bestimmung langfristiger Zeitabschnitte und nicht etwa alltäglicher Ereignisse. Wenn es zu einem Eingreifen seinerseits kommt, wird es von einer Krise ausgelöst sein oder eine solche heraufbeschwören.

Recht bedacht, können wir nicht bei dem Gedanken innehalten, das Überselbst sei nur in uns. Wenn diese Idee erst einmal fest Fuß gefaßt hat und ihr Wert für Metaphysik und Andacht eingesehen wurde, müssen wir die Vorstellung vervollständigen, indem wir uns das Überselbst als außerhalb von uns seiend denken. Nimmt es nach der ersten Vorstellung einen Punkt im Raum ein, dann ist es nach der zweiten über alle räumlichen Erwägungen erhaben.

Ja, es ist wunderbar, dieses Gefühl, das mit einem Aufleuchten des höheren Selbst einhergeht; aber wenn es zudem mit einem Erkennen verbunden ist, einem eindeutigen Erfassen, das keiner Diskussion, Auslegung, Ausgestaltung oder Beurteilung mehr bedarf, verleiht es dem philosophischen Sucher eine Gewißheit, die wie eine Segnung ist.

Das Aufleuchten muß nicht unbedingt während der Meditation kommen, wenn auch die in der Meditation geleistete Arbeit sein Eintreten herbeiführen hilft. Es kann jederzeit kommen.

Der plötzliche, aber sanfte Zug weg von der äußeren Aktivität und hin zur inneren, das tatsächlich in der Mitte des Brustbereichs empfundene «Dahinschmelzen des Herzens», wie orientalische Mystiker es nennen, kann sich gelegentlich spürbar machen bzw. bei einem fortgeschrittenen oder auf Regelmäßigkeit bedachten Meditierenden auch jeden Tag. Im letzten Fall wird es für gewöhnlich jedesmal ungefähr zur gleichen Zeit auftreten. Dies ist ein Ruf, dem man mit aller gebührenden Ehrfurcht begegnen sollte. Aber bevor er geehrt werden kann, muß er erkannt werden. Seine Erkennungszeichen können Büchern entnommen, aus der Erfahrung gelernt, aus den Berichten anderer Menschen geschlossen oder von einem persönlichen Lehrer empfangen werden. Wenn der Ruf ergeht, sollte man das Signal beachten, alles stehen- und liegenlassen und dem unausgesprochenen Befehl gehorchen, sich nach innen zu kehren, Andacht zu üben oder sich in Meditation zu begeben.

Die durch das Aufleuchten erzeugten Gefühle von Heiligkeit sollten vor der zersetzenden Macht der Welt geschützt und vor der eigenen Neigung beschirmt werden, sie durch hastige, heftige Bewegungen oder unnützes, belangloses Geschwätz zu verscheuchen.

Die Konzentration auf das Aufleuchten muß voll und ganz und anhaltend sein. Wenn man es zuläßt, daß die Aufmerksamkeit auch nur für einen einzigen Moment von einer äußeren Sache oder Person abgelenkt oder mit irgendeiner inneren Idee geteilt wird, kann das Aufleuchten auf der Stelle verschwinden.

Das Aufleuchten wird am stärksten sein, wenn kein Ich mehr da ist, das es beeinträchtigen kann. Eine solche Beeinträchtigung kann nicht nur von den Fehldeutungen und Entstellungen kommen, vor denen die Philosophie ihre Schüler so beharrlich warnt, sondern auch von dem Selbstbewußtsein, das den Wunsch in einem weckt festzustellen, wie die Erfahrung vonstatten geht, zu analysieren, welche Auswirkung sie hat, und die Reaktionen anderer Leute darauf zu beobachten. Dies alles kann man machen, aber nicht in dem Moment, nicht gleichzeitig mit dem Aufleuchten selbst. Man kann dem statt dessen später nachgehen, wenn das Bewußtsein wieder in seinem Normalzustand ist. Während des Aufleuchtens muß man sich ihm völlig hingeben.

In solchen unvergeßlichen Augenblicken spricht die Seele klar, wenn auch leise zu einem. Vielleicht erzählt sie einem von seiner wahren Beziehung zum Universum und zu seinen Mitgeschöpfen. Ganz gewiß erzählt sie einem etwas über sich selbst. Sie kann einen von seinem Körper trennen und aus der Höhe darauf herab schauen lassen, bis man begreift, daß das Fleisch durchaus der armseligste und unbedeutendste Teil von einem ist. Und, was vielleicht das Beste ist, sie wird einen mit der Zuversicht erfüllen, daß sie nach seiner Rückkehr in die Welt einsamen Ringens und raschen Vergessens neben und in einem bleiben wird.

Es ist ein Zustand der äußersten Zärtlichkeit, der aus einem inneren Zentrum aufwallenden und in alle Richtungen ausstrahlenden Liebe. Wenn andere Menschen oder auch Tiere in dieser Zeit mit einem in Berührung kommen, werden sie zu Empfängern dieser ausnahmslosen Liebe. Denn dann kennt man keine Feinde, lehnt niemanden ab und bringt es nicht fertig, irgend jemanden abstoßend zu finden.

Es ist wichtig, daran zu denken, daß man in den meisten Fällen nur selten mit solchen Erfahrungen rechnen kann, vielleicht im Leben ein- oder zweimal, wenn der Betreffende nicht bewußt auf der Suche ist. Die Hoffnung, sie möchte sich wiederholen, ist natürlich. Das erste Aufleuchten findet statt, um den Weg zu weisen, um Licht auf den vor einem liegenden Pfad zu werfen, um dem Betreffenden die Richtung und das Ziel zu zeigen. Doch ist auch das Aufleuchten nur vorübergehend und selten, das daraus zu schöpfende metaphysische Verständnis ist der bleibende Gewinn. Trachte also danach, Verständnis zu erlangen und es zu klären.

Wenn die Erleuchtung nicht bleibt, wenn es sie nicht bei ihrem Gastgeber hält, so deshalb, weil sie in ihm keinen rechten Ort zu einem solchen ständigen Aufenthalt findet. Sein Herz ist noch zu unrein, sein Charakter noch zu unvollkommen, als daß das Bewußtsein des Überselbst sich ihm auf Dauer zugesellen könnte.

Während die griechisch-orthodoxe Kirche die Lichterfahrung für das Höchste hält, was dem Menschen erreichbar ist, hält die indische philosophische Lehre sie für die vorletzte Stufe. Denn alles «Gesehene» impliziert das Vorhandensein eines davon getrennten «Sehenden». Im Falle des heiligen Lichtes gilt dies nicht minder. Nicht Sehen, sondern Sein ist dieser Lehre zufolge die letzte Erfahrung. «Du mußt über das Sehen hinausgehen und herausfinden, wer das Ich ist, das dieses Licht erfährt», sagte Ramana Maharshi zu einem Schüler.


  Oben zeilen.gif (1054 bytes)


f" alt="zeilen.gif (1054 bytes)" width="40" height="40">