Augenblicke der Wahrheit

12. REFLEXIONEN

 

Das Schreiben, für manche eine Übung des Verstandes, ist für mich ein Akt der Andacht. Ich erhebe mich von meinem Schreibtisch in derselben Stimmung, in der ich einen alten Dom nach einer Stunde des Gebets oder einen Hain nach der Meditation verlasse.

P.B. als Privatperson zählt nicht. Es gibt Millionen und Abermillionen solcher Personen. Was ist schon ein Mann und seine Suche? P.B.'s persönliche Erfahrungen und Ansichten sind nicht wichtig, haben keine besondere Bedeutung. Was mit dem Einzelmenschen namens P.B. wird, geht niemanden etwas an als ihn selbst. Aber was mit den Hunderttausenden spirituell Suchenden wird, die heute denselben Pfad verfolgen, auf dem er vorausgegangen ist, ist eine ernste Frage, die gründlich erwogen werden will. Die Hunderttausende westlicher Suchender, die hinter ihm stehen und die er in der Tat in gewissem Sinne repräsentiert, zählen ganz gewiß. Als ein Symbol der verstreuten Gruppe westlicher Wahrheitssucher, die dadurch, daß sie seinen Schriften in so zunehmender Zahl und so eifrig folgen, im Grunde auch ihm folgen, zählt P.B. durchaus. Er verkörpert ihr Trachten, ihr Abgestoßenwerden vom Materialismus und Hingezogensein zur Mystik, ihr Interesse an orientalischer Weisheit und ihren hüterlosen Zustand. Als ein Symbol dieser westlichen Bewegung des Denkens ist er unvergleichlich viel größer als für sich allein. In seinem Geist und seiner Person hat das geschichtliche Bedürfnis nach einer neuen Auffassung der gegenwärtigen spirituellen Problematik eine Stimme gefunden, die eine klare und offene Sprache führt.

Die Tatsache, daß ich die praktische Erfahrung gemacht habe, meinen Lebensunterhalt als Redakteur zu verdienen, hat mir so manche Kritik eingetragen. Wären meine Kritiker nicht so engstirnig, hätten sie wohl eingesehen, daß genau darin einer meiner Vorzüge liegt. Denn diese Erfahrung hat mich von den üblichen Fehlern der Mystiker gereinigt, ganze Seiten mit nichtssagendem Zeug voll zuschreiben, den Lesern die Inangriffnahme unmöglicher Aufgaben anzuraten, mit Denken und Feder in die Wolken abzuheben und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie hat mich einen wackeren Realismus und ein gesundes Selbstvertrauen gelehrt - zwei Eigenschaften, mit denen die gewöhnlichen Mystiker bekanntlich nicht gerade glänzen und deren Mangel sie auch viele Fehler begehen läßt.

Meine Kritiker versuchen den Eindruck zu erwecken, als wäre die Sorge für den Lebensunterhalt eine niedrige Beschäftigung und die Tätigkeit als Journalist eine Art Verbrechen. Diese zwei Tatsachen werden in der Tat gegen mich ins Feld geführt, als ob sie bewiesen, daß ich eine Krämerseele und ein Materialist bin, als ob niemand mit mystischen Ambitionen etwas Derartiges sein oder tun würde. Solche Tatsachen sind in Wirklichkeit schmeichelhaft für mich und gereichen mir nicht zur Unehre. Aber von den blinden, gedankenlosen Anhängern einer sterbenden Tradition kann man nicht erwarten, daß sie das erkennen. Man kann von ihnen nicht erwarten zu begreifen, daß ich danach trachte, die Mystik ins weltliche Leben zu bringen, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, der beide so oft voneinander trennte. Und es erscheint mir als der beste Weg, daß ich dies zuerst in meinem eigenen persönlichen Leben getan habe, bevor ich anderen zu sagen versuchte, wie es zu tun sei.

Einst fühlte ich mich berufen, dem Westen die orientalische Mystik auszulegen. Nach langer Erfahrung und noch längerem Nachdenken halte ich es jetzt für notwendig, mich abseits zu stellen von allen toten und lebendigen Wissensträgern, mit denen ich Fühlung aufgenommen hatte, wenn ich nicht in Gefahr laufen will, die orientalische Mystik zu mißdeuten. Ich bin gezwungen, meinen Weg in einsamer Abgeschiedenheit zu gehen, obwohl ich doch nicht wenige dieser Träger achte und ehre. Was ich von ihnen lernte und aufnahm, stieß schließlich an eine von mir selbst geschaffene Schranke. Denn ich dachte, fühlte, wandelte, arbeitete und lebte im Rahmen einer Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, die all meinem Suchen zum Trotz in ihrer Gänze nicht unter ihnen zu finden war Ihr Blickwinkel, der andere zufrieden stellen mochte, war mir zu eingeschränkt. Entweder konnten sie sich nicht zu den geistigen Horizonten der Menschen herablassen, die mich umgaben, oder sie ließen sich nur theoretisch herab - mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen. Das heißt nicht, daß ich ihre Brauchbarkeit in letzter Hinsicht bezweifle.

Es wäre genauso absurd zu folgern, daß ich nunmehr aus Wankelmut die Mystik ablehne, wie es absurd wäre zu erklären, ich lehnte die ersten drei Buchstaben des Alphabets ab, nur weil ich mich weigere, mich im Schreiben auf reine ABC-Kombinationen einzuengen. Damit will ich folgendes sagen: Der Gesamtgehalt der Mystik darf nicht mit dem gleichgesetzt werden, was gemeinhin darunter verstanden wird; er übersteigt ihren Geltungsbereich in solchem Maße, daß ich es vorgezogen habe, zum alten Brauch zurückzukehren und ihn Philosophie zu nennen.

Nicht ohne viel Widerstreben habe ich es gewagt, die in verschwiegener und einsamer Einkehr in die Natur empfangenen innersten Erfahrungen öffentlich preiszugeben. Ich hätte sie gern bis zum Hingang dieses Körpers für mich behalten, wenn ihr Schicksal mich nicht mehr betrifft. Jedoch das Geheiß meiner spirituellen Führer wollte es, daß diese Worte zur Veröffentlichung gelangten.

Paul Brunton versucht etwas Neues. Er ging nach Indien, um von den hellsichtigsten Indern zu lernen, und nicht, um ihre Jünger zu kopieren. Diesen fehlt mitunter die weitherzige Toleranz ihrer Lehrer. Wer ihnen bloß höflich widerspricht, wird ungeheuerlicher Überheblichkeit bezichtigt. «Wer bist du», schreien diese Jünger, «daß du es wagst, eine dem göttlichen Wort des Heiligen zuwiderlaufende Meinung zu vertreten?» Brunton empfindet die höchste Achtung, Liebe und Verehrung für diese indischen Lehrer und besonders für diejenigen, welche ihn offen in ihr Wissen und ihren inneren Kreis einweihten. Aber diese Achtung bedeutet nicht unbedingt, daß er verpflichtet ist, immer mit ihnen überein zustimmen und sich immer ihrer Meinung anzuschließen. Ja, sie stimmen nicht einmal untereinander überein. Diejenigen, welche es für schäbig halten, wenn er ihre Lehren in gewissen Punkten kritisiert, sollten wissen, daß er nicht nur aus eigenem persönlichen Ermessen spricht, sondern auch mit gewissen Vollmachten im Rücken, die den ältesten esoterischen Einweihungstraditionen des Orients entstammen. Paul Brunton hat auch etwas Eigenes zu geben. Er kann nicht bloß diese anderen im Leben kopieren oder im Schreiben nachbeten. Auch er muß genauso er selbst sein, wie sie sie selbst waren. Er kann ihr Freund sein, aber nicht ihr Jünger.

Wenn anderen dies gegeben ist, freut er sich; aber wenn er dem Licht treu sein will, das ihm verliehen wurde, muß er es selbst ausstrahlen, mag es dem ihren gegenüber auch noch so klein sein. Im Vergleich zu den Sonnen anderer Führer ist er vielleicht nur eine Kerze, aber sie zu verstecken, weil das Licht der anderen größer ist, hieße, seiner inneren Stimme nicht zu gehorchen. Einst hieß ihn diese selbe Stimme, die Botschaft einiger von denen zu verkünden, die er aufgesucht und bei denen er gelernt hatte. Er tat es mit Freuden. Jetzt aber lautet ihr Geheiß anders. Er muß das Wort sagen, das er allein sagen kann, denn jeder einzelne ist einzigartig. Jeder Mensch ist dazu geboren, er selbst zu sein, eine Reihe von Erfahrungen durchzumachen, die kein anderer in ihrer Gesamtheit durchgemacht hat. Von allen Menschen hat er allein die geistige und emotionale Psyche, die er eben hat.

Genau deshalb, weil wir in eine Epoche eintreten, in der die einfachen Leute endlich zu ihrem Recht kommen und der Welt langsam das Gewissen ihrer Verpflichtung gegenüber den Unterprivilegierten schlägt, habe ich das Gefühl, einem göttlichen Befehl zu gehorchen, wenn ich von heiligen Dingen auf direkte Art, von metaphysischen Themen auf einfache Art und von mystischen Erfahrungen auf ungezwungene Art schreibe. Spirituelle Schnösel mögen meine Behandlung dieser Fragen billig nennen und meine Arbeit feuilletonistisch, aber deren Ergebnis - dessen schwache Andeutung die lange Liste von Fällen dankbar anerkannter Hilfe ist - ist die beste Antwort darauf.

Das Leben bleibt, was es ist - tod-los und unbegrenzt. wir alle werden uns wiedersehen. Wisse, was du bist, und sei frei. Der beste Rat ist heute: bleibe gelassen, sei gewahr. Laß den geistigen Druck deiner Umgebung nicht in das einbrechen, was du weißt, was wirklich und letztlich wahr ist. Dies ist dein magischer Talisman, der dich beschützt; halte ihn fest! Das letzte Wort ist - Geduld! Die Nacht ist vor dem Morgengrauen am finstersten. Aber die Morgenröte kommt.


13. LEBENSERFAHRUNG

 

Die Erfahrungen, die man macht, und die Umstände, in denen man sich befindet, sind nicht ohne Sinn. Sie enthalten für gewöhnlich eine persönliche karmische Lehre und sollten viel mehr studiert werden als Bücher. Man muß versuchen, die innere Sinnhaftigkeit dieser Ereignisse auf unpersönliche Art zu verstehen. Ihr Sinn kann ermittelt werden, indem man sich bemüht, sie unvoreingenommen zu sehen, indem man die in ihnen wirkenden Kräfte einschätzt, indem man gründlich nachdenkt und indem man betet. Jeder Mensch erhält sein eigenes Bündel Erfahrungen, das kein anderer erhält. Jedes Leben ist einzig und erhält nach dem Gesetz der Vergeltung die Erfahrungen, die es wirklich braucht, und nicht solche, die jemand anders braucht. Die Art, wie man auf die mannigfachen angenehmen und unangenehmen Situationen reagiert, die im alltäglichen Leben entstehen, ist ein besseres Anzeichen für das Verständnis, das man sich erworben hat, als irgendwelche mystischen Visionen, die einem die Phantasie ausmalt.

In deinem Geist hat immer nur ein einziger Gedanke Platz. Sorge also dafür, daß es ein positiver ist.

Man lasse andere nicht in dem falschen Glauben, man habe eine gemeinschaftsfeindliche Haltung angenommen, sei vor der Wirklichkeit geflohen, habe im Austausch für ein illusorisches Dasein in einer Phantasiewelt einem menschlichen Lebenswandel entsagt oder habe die Pfade der Normalität und Vernunft verlassen. Will man mit ihnen in relativem äußeren Frieden leben, muß man gewisse äußere Zugeständnisse machen. Es ist besser, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, seine tieferen Gedanken hinter einer Maske zu verbergen und es zu vermeiden, als religiöser Fanatiker oder intellektueller Fatzke verschrien zu sein. Es ist besonders unklug, seine philosophischen Gedanken vor jedermann auszubreiten. Man muß bestrebt sein, sich seiner Umwelt anzupassen, ohne anzuecken. Das ist eine schwere Aufgabe, aber man darf sich nicht davor drücken und muß alles dazu tun, was man unter den gegebenen Umständen tun kann. Man muß seine zumutbaren Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft erfüllen, muß das große Rad menschlichen Treibens mitdrehen, muß sein Scherflein zum Allgemeinwohl beitragen; aber man sollte sich das Recht vorbehalten, dies auf seine eigene Art zu tun und nicht nach dem Diktat der Gesellschaft.

Und weil man die einen umgebenden Menschen in mancherlei wichtiger Hinsicht überflügelt hat, weil man ihnen bereits um Jahrhunderte vorausdenkt, ist es unwahrscheinlich, daß es einem völlig gelingt, sich ihrer Kritik zu erwehren oder auch nur ihrer Feindseligkeit aus dem Weg zu gehen. Denn bei allen Bemühungen, sie zu besänftigen, und bei allen Opfern um der Eintracht willen ist die menschliche Natur doch, was sie ist - eine Mischung aus Gut und Böse, aus Materialistischem und Heiligem -, und deshalb wird es mitunter zu Krisen kommen, wenn die Gesellschaft einem zusetzt. Wenn die innere Stimme des Gewissens einen dies tun heißt, wird man notgedrungen prinzipienfest auftreten müssen. In solcher Lage muß man den Mut aufbringen, das zu tun, was unüblich ist, und das zu sagen, was unpopulär ist, und muß genug Unabhängigkeit beweisen, um sich über die Tradition hinwegzusetzen oder die öffentliche Meinung zu ignorieren.

Bis zu einem gewissen Punkt kann man mit der Mehrheit gehen, aber darüber hinaus darf man keinen Schritt mehr tun. Hier muß man das Vorrecht der Selbstbestimmung für sich beanspruchen, bei dem es keinen Kompromiß geben kann; denn hier, beim heiligen Geheiß des Überselbst, muß man anfangen, sein eigenes Leben zu leben. Obwohl man also immer ein guter Mitbürger sein wird, wird man nicht immer ein populärer sein.

Sollte man faul, passiv, geduckt und feige die Dinge hinnehmen, wie sie sind? Oder sollte man sie in Frage stellen, dagegen aufbegehren und sie respektlos, ja verächtlich kritisieren? Haben sie recht, jene Heiligen, die alles Leiden und Ungemach nicht nur als Gottes Willen für uns, sondern auch als unseren eigenen Willen ausgeben, oder gar jene stoischen Denker wie etwa Seneca, die es einfach hinnehmen? Seneca sagt: «Nimm alles, als hattest du es so gewünscht und erbeten. » (Er spricht von Drangsalen ) Die Philosophie jedoch lehrt, daß man das Leben wohl hinnehmen soll, aber nicht blind. Suche nach der Lektion, der Lehre, der Moral, dem Grund, der karmischen Ursache dahinter. Gib deinem Glauben Erkenntnis hinzu.

Es kommt nicht nur auf die Qualität des Bewußtseins eines Menschen an, sondern auch auf die Qualität seines Alltagslebens, nicht nur auf die seltenen mystischen Ekstasen, zu denen sich sein Erleben aufschwingt, sondern auch auf sein Verhältnis zur Welt der Gegenwart und seine Einstellung zu ihr. Es reicht nicht aus, ein Mystiker zu sein: Man kann die breite Straße nicht umgehen, auf der alle Menschen dahinziehen müssen. Kurz gesagt, kann man in der Welt sein, aber nicht von ihr? Kann man das Gewöhnliche, das Gebräuchliche heiligen; jene Tätigkeiten, dieses Geschäft, gar jene Arbeit für den Lebensunterhalt; die Kontakte mit Familie, Freunden, Kritikern und Feinden? Schließlich ist man doch ein Mensch mit persönlichen Problemen; man kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag ausschließlich in abstrakten Ideen leben oder in religiöser Zurückgezogenheit: Man hat einen Körper aus Fleisch und Blut, eine wichtige Pflicht oder Verantwortung, der man in der Welt draußen nachkommen muß.

Was einem Menschen widerfährt, ist wichtig, aber nicht so wichtig wie das, was er daraus macht.

Wenn der Geist auf den niederen Entwicklungsstufen schmerzliche Erfahrungen durchmacht, lernt er sehr wenig aus diesen Erfahrungen - und das Wenige langsam. Macht der Geist die gleichen Erfahrungen auf der höheren Stufe durch, lernt er viel daraus - und das schnell. Dies kommt im einen Fall daher, daß kein Verlangen besteht, die Ursachen jenes Leidens kennen zulernen, und keine Fähigkeit dazu, selbst wenn die Ursachen auf der Hand liegen; im anderen Fall dagegen besteht ein heftiges Verlangen, die Lektionen zu bewältigen, und eine aufnahmebereite Haltung ihnen gegenüber. Wenn daher der wirklich ernsthafte Schüler, der um ein beschleunigtes Vorankommen auf der Suche gebeten hat, feststellt, daß für eine gewisse Zeit Erfahrungen aller Art Schlag auf Schlag kommen, sollte er erkennen, daß dies ein Teil der Antwort auf sein Rufen ist. Er wird Verlust und Gewinn, Wonne und Qual, Erfolg und Scheitern, Versuchung und Bedrängnis zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Graden empfinden müssen. Er braucht beide Arten von Erfahrung, wenn seine Entwicklung eine ausgeglichene sein soll. Aber wenn er nach wie vor ein Mensch ist, wird er mehr aus seinen Leiden als aus seinen Freuden lernen. Und weil die Erinnerung an die Leiden länger anhält, wird er diese Zeit beschleunigter Erfahrungen und extremer Wechselfälle nicht ohne viel Klagen hinter sich bringen. Jede dieser Erfahrungen stellt für ihn eine Gelegenheit dar, nicht nur zu bewahren, was er sich bereits erworben hat, sondern auch zu einem ferneren Ort zu gelangen, wo er sich etwas Neues erwerben kann.

In gewissen Punkten stand ich den Sadhus in Indien kritisch gegenüber - in welchen, tut hier nichts zur Sache. Die Differenzen wurden damals von einigen indischen Zeitungen ziemlich sensationell und mit viel Begriffsstutzigkeit, ja Böswilligkeit aufgebauscht. Aber ich bewunderte sie auch in anderen Punkten, die ich heute zum Teil bei den jungen Aussteigern antreffe, die eine religiöse Einstellung haben. Sie rebellieren gegen eine materialistische Gesellschaft und verweigern sich ihr. Sie erinnern uns daran, daß Jesus auch ein Aussteiger war. Sie versuchen, durch Arbeit an sich selbst zu leben, gehen einander kooperativ und nicht konkurrenzhaft zur Hand, ohne Ehrgeiz, ohne Versicherungsschutz, mit wenigen Habseligkeiten - durch Ehrlichkeit und nicht durch äußeren Schein

Man hat die Wahl, ob man sich für die Bande des Familienlebens oder für die Freiheit des Zölibats entscheidet. Beide Zustände haben ihre Vor- und Nachteile, ihre Annehmlichkeiten und Härten. Jeder ist eine gültige Form der Erfahrung. Weil jedoch in den meisten Religionen die heiligen Schriften vorwiegend von Mönchen geschrieben wurden, ist deren Stand bevorzugt und höher bewertet worden. Aber es muß wiederholt werden: Kein Weg ist der einzige.

In "Das Überselbst" wurde gesagt, ein Ehepaar solle zusammen in gemeinschaftlicher Verehrung des Lichtes wachsen. Wenn beide dies tun, haben sie die Grundlage für eine echte Ehe, eine erfolgreiche Ehe gefunden. In Indien wird ein jungvermähltes Paar von einem Brahmanenpriester auf einen Stern namens «Vasishtarundhati» am Nachthimmel hingewiesen. Es ist eine nette kleine Zeremonie, die Glück bringen soll. Denn Vasishta war ein großer Weiser, der vor Jahrtausenden lebte, Arundhati war seine Frau, und ihre Ehe war in ihrer Art ein Vorbild vollkommenen ehelichen Glücks, weiblicher Hingabe und gegenseitigen spirituellen Beistands. In den alten Überlieferungen der Sage wird dieser Stern mit diesem Paar in Verbindung gebracht. Durch die Erfindung des Teleskops können wir nun sehen, daß dieser Stern, der mittlere im Schweif von Ursa major, dem Großen Bären, in Wirklichkeit ein Zwiestern ist; das heißt, er besteht aus zwei getrennten Sternen, die so dicht beieinander liegen, daß sie uns mit bloßem Auge als eine Einheit erscheinen. Außerdem ist er auch ein Doppelstern; das heißt das Paar umkreist ein gemeinsames Schwerkraftzentrum. Erblicken wir nicht einen wunderbaren inneren Sinn in dem altindischen Brauch? Denn Vasishta und Arundhati hatten ihr Eheglück dem Umstand zu verdanken, daß sie ein gemeinsames spirituelles Schwerkraftzentrum gefunden hatten.

Wir leben in einer Zeit, in der falsche Aussagen als wahre durchgehen, in der täuschende Werte als echte Werte angesehen werden. Es ist eine Zeit, in der die Verbreitung des Wissens mehr und mehr in die Hände von Menschen gelangt, die selbst zu jung sind, um die Jungen weise unterweisen zu können, die zu unausgeglichen sind, um zur Charakterbildung der Jungen beitragen zu können, die zu theoretisch ausgerichtet sind, um ihren Schülern wirklich praktisch hilfreiche Hinweise geben zu können.


14. DER ORT DER KUNST

 

Die Schönheit ist ebenso eine Seite der Wirklichkeit wie die Wahrheit. Wer für die eine unempfänglich ist, hat die andere nicht gefunden.

Wenn sie ihre höchste Sendung erfüllen, bemühen sich Malerei und Bildhauerei um das Sichtbar-Machen, bemüht sich Musik um das Hörbar-Machen, Prosaliteratur um das Denkbar-Machen, poetische Literatur um das Ahnbar-Machen des unsichtbaren, unhörbaren, undenkbaren und unahnbaren Mysteriums des reinen Geistes. Obwohl es stimmt, daß sie dem, was seinem Wesen nach das Gestaltlose ist, niemals Gestalt leihen können, stimmt es doch auch, daß sie es andeuten und symbolisieren, darauf anspielen und hinweisen können.

Was Buddha über den vergänglichen, wandelbaren, flüchtigen Charakter aller menschlichen Freude lehrte, stimmt ganz offenbar; er ging weiter und erklärte sie aus eben diesen Gründen für unbefriedigend. Dieselbe Begründung noch weitertreibend, wies er auch die Reize der schönen Form von sich: Wir dürften uns von dieser Formvollendung, diesem Ebenmaß der Gestalt, dieser Stattlichkeit der Bauten und diesen Symmetrien der Komposition, wie sie etwa den altgriechischen Künstler fesselten, nicht bestricken lassen. Aber der Philosoph, der diesen weitergehenden Standpunkt nicht billigen kann, hat das Recht zu fragen: «Solange wir uns nicht dazu verleiten lassen, sie als das höchste Glück zu betrachten, solange wir ihre Relativität und Kurzlebigkeit erkennen, was macht es dann schon, wenn sie dahinschwinden, wenn ihre Zeit abläuft? Warum sie nicht bis zum Äußersten genießen, solange sie da sind? Warum einen erfreulichen Anblick oder einen bezaubernden Klang ablehnen, wenn sie doch, abgesehen von der Freude, die sie schenken, sogar als ein Sprungbrett zu geistigen Höhen dienen können?»

Eine schlichte Umgebung, selbst eine karge, ist verständlich und annehmbar für Menschen, die äußerlich der Welt entsagt haben, wie auch für solche, die in der Welt zu leben und doch von ihr los zu sein versuchen. Aber eine häßliche Umgebung, selbst eine eintönige, ist für Menschen, die den Geist zu verehren vorgeben, weder verständlich noch annehmbar. Denn dessen Attribute sind, neben anderen, nicht nur Güte und Wahrheit, sondern auch Schönheit. Eine gleichgültige Einstellung materiellen Besitztümern gegenüber zu pflegen, ist eine Sache für sich, aber schönen Werken gegenüber unempfänglich zu sein und gegenüber häßlichen keine Abscheu zu empfinden, hat nichts mit einer spirituellen Einstellung zu tun; es ist antispirituell.

Eine künstlerische Leistung, die wirklich inspiriert ist, muß ihrem Schöpfer zum Zeitpunkt der Schöpfung gleichermaßen Freude machen wie ihrem Besitzer, Hörer oder Betrachter. Tut sie es nicht, ist sie nicht inspiriert.

Der schöpferische Künstler wird vorübergehend aus sich herausversetzt und hehr erhoben, genau wie der meditative Mystiker. Aber die zwei Zustände, wiewohl psychisch ähnlich, sind sich doch spirituell nicht ähnlich. Denn der Mystiker geht bewußt in seinen gehobenen Zustand ein und begibt sich mit Bedacht auf die Suche nach seinem inneren Wesen, seiner Seele. Er benutzt ihn als Sprungbrett, um aus der Welt von Raum, Zeit und Wandel zu fliehen. Der Künstler jedoch benutzt ihn als ein Mittel, um etwas in der Welt von Raum, Zeit und Wandel zu erschaffen Obwohl also die Kunst der Mystik recht nahe kommt, besitzt sie nicht die gleichen göttlichen Möglichkeiten, denn es fehlen ihr die höheren Werte, die moralischen Exerzitien und die übersinnlichen Ziele der Mystik.

Die Vorstellung, daß aus der Inspiration heraus Geschaffenes keiner Überarbeitung mehr unterzogen werden sollte, ist falsch, und zwar erstens, weil nur wenige Künstler es jemals zu einer vollkommenen Reinheit der Inspiration bringen - wie ekstatisch ihre schöpferische Erfahrung auch sein mag -, und zweitens, weil diese selbst dann, wenn sie erreicht wird, noch von der persönlichen Natur des Kanals begrenzt ist, durch den sie fließt. Der Schriftsteller, der sich weigert, Manuskripte noch einmal in die Hand zu nehmen oder Korrektur zu lesen. beweist entweder Eitelkeit oder Beschränktheit oder beides.

Von allen Künsten, die der Freude der Menschen dienen, ist die Musik die erhabenste. Sie verschafft die Befriedigung, die einen der Wahrheit näher bringt als jede andere Kunst. Ihre geheimnisvolle Macht erweist sich darin, daß sie eine Sprache spricht, die auf der ganzen Welt und in jeder Bevölkerungsschicht allgemein anerkannt wird; sie rührt den primitiven Wilden nicht weniger als den kultivierten Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn wir diese eigentümliche Macht, die in der Musik liegt, zu verstehen suchen, entdecken wir, daß sie von allen Künsten die flüchtigste ist. Die Klänge, die unsere Ohren entzücken, sind plötzlich aus der absoluten Stille, die die Welt umfangen hält, aufgetaucht, und sie verschwinden fast augenblicklich wieder in dieser selben Stille. Die Musik scheint etwas von der göttlichen Kraft zu überbringen, die jener großen Stille innewohnt, so daß sie wirklich eine Botschafterin ist, den wandernden Sterblichen von der höchsten Wirklichkeit gesandt zum Gedenken an ihre wahre Heimat. Der nach Wahrheit Strebende wird daher die Musik lieben und genießen, aber er muß darauf achten, daß es die rechte Art von Musik ist - solche, die sein Herz erhebt und entzückt und nicht herabzieht und beleidigt.

Der spirituelle Autor, der sich an seine eigenen Lehren hält, der so sehr auf seine Moral, seine Motive, Handlungen und Gedanken sieht wie auf seinen Stil, ist ein seltenes Geschöpf. Man setzt sich in der Welt der Religion und Mystik vor seinem Publikum nicht weniger in Szene als in der Welt der Politik. Die ganz Ehrlichen schreiben vielleicht die Erfahrungen ihrer Ideen zum Wohle anderer auf, aber sie tun das wahrscheinlich sehr viel eher für die Nachwelt als für ihr eigenes Zeitalter. Der inspirierteste Teil ihres Werkes wird nach ihrem Tode veröffentlicht, nicht davor. Die Halbehrlichen und die ganz Unehrlichen verspüren das Bedürfnis, zeitlebens ihre Rollen zu Ende zu spielen, denn Eitelkeit, Ehrgeiz und Gewinnsucht des Ich müssen gestillt werden. Die Halbehrlichen vermuten ihre Motive selten; die Unehrlichen kennen sie nur zu gut.

Weisheit ist noch wirkungsvoller, wenn sie mit Witz gepaart ist. Wenn du einen Menschen erbaust, so laß ihn gleichzeitig lachen. Mische etwas Humor in deine Tinte, und du wirst um so besser schreiben. Guter Rat verliert nichts von seiner Güte, wenn er in leichte, humorvolle Sätze gegossen wird. Die Wahrheit ist oft kaltblütig; ein Bad in einem warmen Lächeln macht sie nur attraktiver.

Selbst die höchste Kunst ist nur ein Mittel zu einem Zweck - sie sollte niemals zu einem Selbstzweck gemacht werden. Der inspirierte Künstler muß schließlich sein Anliegen, sein Medium und seine Arbeit beiseite lassen und sich allein dem Göttlichen zuwenden und nicht seinen Manifestationen hienieden.


15. DER ORIENT

 

Wenn Abendländer versuchen, die Inder, und gar noch die alten Inder, nachzuäffen, indem sie ihre Tracht, ihren Glauben und überhaupt ihre Lebensweise übernehmen, bringen sie sich damit in eine etwas lächerliche, wenn nicht gar trügerische Position. Wir mögen indischen Ideen und Idealen bis zu einem gewissen Punkt Bewunderung und Sympathie entgegenbringen, aber nicht unbedingt so, daß wir unser ganzes westliches Erbe, das auch seinen substantiellen Wert besitzt, völlig über Bord werfen. Wir dürfen uns von ihnen nicht davon abhalten lassen, den Angeboten unserer eigenen Kultur eine angemessene Wertschätzung entgegenzubringen.

Man täte gut daran, der orientalischen Weisheit Achtung, Verehrung und Liebe entgegenzubringen. Denn wenn die Formen, die wir Abendländer geschaffen haben, verschwunden sind, werden ihre Wahrheiten nach wie vor bestehen, unverändert und unveränderbar.

Ich habe mich seit einigen Jahren von indischen spirituellen Bewegungen jeder Art ferngehalten und möchte nicht mehr mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Folglich werde ich meinen Kontakt zu irgendwelchen Swamis oder Yogis auch nicht wieder aufnehmen, denn ich möchte in völliger Unabhängigkeit von ihnen wirken. Meine Gründe dafür beruhen auf Erhellungen, die mir zuteil geworden sind, auf meiner Einsicht, daß der Westen an seinem eigenen Heil arbeiten muß, und auf der engstirnigen Intoleranz der indischen Mentalität gegenüber irgendeinem derartigen schöpferischen Unterfangen von westlicher Seite.

Wir müssen etwas orientalisches Hirn unter unsere abendländische Schädeldecke kriegen, nach einer Art Synthese zwischen der überschäumenden Betriebsamkeit des Westens und dem verstaubten Quietismus des Ostens suchen, die Vorteile der modernen technischen Zivilisation annehmen und nutzen und zugleich die Übel vermeiden, die damit einhergehen. Wir brauchen die dynamische Kraft des Abendlands, aber wir müssen ihr einen Schuß orientalischer Introspektion beimischen. Eine solche Verbindung der Ideale würde zu einem vollen und wahrhaft menschlichen Leben führen. Wir müssen Wegbereiter eines neuen und verständigeren Zeitalters sein, das die besten Elemente asiatischen Denkens mit euroamerikanischem praktischen Verstand glücklich vermählt. Dies würde uns nicht nur Zufriedenheit bescheren, nicht nur inneren Frieden und äußeres Gedeihen wiederherstellen, sondern auch die größeren Nationen auf den Pfad zu wahrer Größe bringen.

Der Fluch des höheren Kulturlebens Indiens ist das Fehlen unabhängiger Denkvorstöße. Jahrhundertelang haben die Menschen nicht den Mut gehabt, mehr zu tun, als Interpretationen anderer Bücher zu schreiben, die ihrerseits vor Jahrtausenden geschrieben wurden, also bevor die menschliche Erkenntnis sich zu der Höhe erhoben hatte, die sie später erreichte. Wir finden im Sanskrit wenige ursprüngliche Werke, aber jede Menge Kommentare.

 

Ramana Maharshi: Eines Nachts im Frühling des Jahres 1950, genau in dem Moment, als ein flammender Sternenkörper über den Himmel schoß und über dem Berg des heiligen Leuchtfeuers schwebte, verließ der Geist des sterbenden Maharshi seinen greisen Leib. Er war der indische Mystiker, der mich am meisten inspirierte, der indische Weise, den ich am meisten verehrte, und seine Macht war so groß, daß der Generalgouverneur und der zerlumpte Kuli zusammen zu seinen Füßen saßen und das Gefühl hatten, in göttlicher Gegenwart zu weilen. Gewisse Faktoren trafen zusammen, die uns während der letzten zehn Jahre seines Lebens getrennt hielten, aber der innere telepathische Kontakt und die große spirituelle Nähe zwischen uns blieben - und bleiben - lebendig und ungebrochen. Im letzten Jahr sandte er mir durch einen Freund, der auf Besuch kam, diese letzte Botschaft: «Wenn Herz zu Herzen spricht, was gibt es dann noch zu sagen?»

Tee scheint, abgesehen von unserer ersten Begegnung, zu meinen Kontakten mit Professor D. T. Suzuki zu gehören. Er forderte mich auf, mich aus dem ständig brodelnden Samowar mit hellem, schwachem grünen Tee, dem japanischen Nationalgetränk, selbst zu bedienen. Dies war im Engakuji-Kloster, Tempel und Akademie in einem, in den so weit zurückliegenden Vorkriegsjahren. Es war der passende Ort, die geziemende Atmosphäre, um sich leise über Zen zu unterhalten. Dann trafen wir uns etwa ein Jahrzehnt später wieder, nach dem Krieg, im japanischen buddhistischen Tempel von Los Angeles, wo er sich als Gast aufhielt. Diesmal bot er mir zum Tee kleines rundes Reisgebäck an. Mir fiel auf, daß er jetzt ein Stück Zucker zwischen die Vorderzähne nahm und beim Trinken dort behielt. Das dritte Mal, daß er mich zum Tee einlud, war einige Jahre später an der Columbia-Universität, wo er wiederum zu Gast war. Dort aßen wir nach westlicher Art Brötchen zum Tee. Nachdem sein Sekretär und Assistent die Schalen abgeräumt hatte, vertieften wir uns ausführlich und eingehend in einen Vergleich von indischem Yoga mit chinesischen und japanischen Zen-Meditationsmethoden samt der dazugehörigen Philosophien und Texte. Ich war erstaunt über seine außerordentliche Belesenheit, denn er wußte nicht nur genau, wo die seine Thesen stützenden Stellen zu finden waren, auch seine Fähigkeit, außer seiner japanischen Muttersprache und dem früh erlernten Englisch noch Sanskrit und Chinesisch zu lernen, verlieh ihm einen Horizont und eine Autorität, wie sie nur wenigen anderen Menschen eigen sind. Während Zen den direkten Vorstoß zur Wirklichkeit anstrebe und erreiche, so sein grundsätzliches Argument, erstrebe und erreiche der indische Yoga geistige Stille - nicht unbedingt dasselbe und ganz gewiß niedriger zu bewerten.

Wir konnten nicht zu einer vollen Übereinstimmung gelangen, und so kamen wir nach und nach von der Frage ab, und er sprach vertraulich und mit rührender Bescheidenheit über seinen eigenen spirituellen Rang. «Man hält mich für einen Meister», sagte er schließlich, «aber ich halte mich für einen Schüler.» Bevor ich ging, schlug ich vor, zusammen zu meditieren, auf die schweigende Art Gemeinschaft zu pflegen, auf die man sich in Japan wie in Indien gut versteht. «Aber ich meditiere nur privat, allein», wandte er ein, «oder mit den in einem Zendo (Klosterhalle zur Gruppenmeditation) Versammelten. Niemand hat mich je zuvor dazu aufgefordert.» Aber am Schluß gab er nach, und da saßen wir dann, ringsum die grauen Universitätswände der Columbia, während der warme sommerliche Sonnenschein durch die Fenster hereinfiel.

Wenn wir danach fragen, warum der Kommunismus jetzt eine Art Nemesis für die Religion Tibets ist und sogar Indien zu bedrohen beginnt, müssen wir daran denken, daß die Landbevölkerung ebenso sehr von Aberglauben und Fanatismus beherrscht wird wie von Frömmigkeit und Weisheit. In ihrem Alltagsleben läßt sie sich gewiß nicht von der höheren philosophischen oder mystischen Kultur leiten, die das Interesse von Nichtbuddhisten und Nichthinduisten vor allem erregt.

Der Kontrast zwischen geschwätzigen Amerikanern der Städte und schweigenden Arabern der Wüste ist unvergeßlich. Die Beduinen können in einer Gruppe sitzen und stundenlang nichts sagen. Der Friede der Wüste ist in einem solchen Maße in sie eingezogen, daß die gesellschaftliche Verpflichtung zur Kehlkopfbetätigung unter ihnen unbekannt ist und als überflüssig gilt.

Wer die Vorgänge in der indischen Seele versteht, dort, wo sie nicht durch allzu viel Kontakt mit westlichen Menschen oder modernem Denken verändert wurde, wird ihren Hang zum Pessimismus verstehen. Denn sie fordert gebieterisch und braucht dringend den Trost einer weltflüchtigen Religion. Der Unterton indischen Lebens ist nicht froh; er spricht von Resignation und Melancholie, von unabwendbarem Schicksal und der Bedeutungslosigkeit des Menschen.

Der Unterschied zwischen den zwei größten und ältesten asiatischen Völkern ist der: Die Mystiker Indiens suchten stets nach einem idealisierten Menschen als Meister. Wenn sie ihn gefunden hatten, wurde er zum leibhaftigen Gott erklärt; alles, was er sagte oder tat, alles an ihm galt als vollkommen. Folglich verfielen sie in Selbsttäuschung und stellten in ihrer Maßlosigkeit ein ungesundes Verhältnis zu ihm her. Die Mystiker Chinas waren keine solchen Träumer. Sie erstrebten keine unmögliche menschliche Vollkommenheit; sie erkannten die notwendigen Beschränkungen und unvermeidlichen Fehler des Menschen.

Der Vedanta-Anhänger braucht den Buddhismus, um seine Weltanschauung zu vervollständigen und ins Lot zu bringen; der Buddhist braucht den Vedanta zu demselben Zweck. Andernfalls besteht bei jedem eine gewisse Einseitigkeit. Eine Erweiterung wird ihren Ansichten zugute kommen und die Menschen bessern.

Tantra ist im Westen von denjenigen schwer mißverstanden worden, die allein seinen rein physischen Aspekt aufgriffen. Im höchsten und wesentlichen Sinne bezieht es sich nicht auf Männer und Frauen in ihren sexuell-körperlichen Beziehungen. Das Ziel des höheren Tantra ist es, das persönliche Selbst und das Überselbst in Harmonie, Gleichgewicht und Einheit zusammenzubringen. Nur dann besteht Aussicht auf Entwicklung des ganzen Menschen. Nur dann besteht Aussicht auf Überwindung all der Leiden und Nöte, die so oft mit sexueller Unwissenheit und sexueller Zügellosigkeit verbunden sind.


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