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DER
EINZIGE WEG
AUS DER NICHT-KANONISCHEN PALI-LITERATUR
Aus den "Fragen Des Königs Milinda"
65
Die charakteristische Eigenschaft der Achtsamkeit
Der König sprach: Welche charakteristische Eigenschaft, o Herr, hat die
Achtsamkeit?"
Der Ehrwürdige Nagasena antwortete: Die Eigenschaft, nichts aus dem
Gedächtnis entfahren zu lassen, o König, und die Eigenschaft des Festhaltens."
„Inwiefern aber, Ehrwürdiger, hat die Achtsamkeit die Eigenschaft, nichts aus
dem Gedächtnis entfahren zu lassen?"
„Solange die Achtsamkeit gewärtig ist, o König, läßt sie nichts von all den
Dingen aus dem Gedächtnis entfahren, weder gute noch schlechte, tadelhafte noch
untadelige, gemeine noch edle, noch die Gegensätze Gut und Böse, und man
erkennt: Dies sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit, dies sind die vier
großen Anstrengungen, dies die vier Machtfährten, dies die fünf geistigen
Fähigkeiten und Kräfte, dies die sieben Glieder der Erleuchtung, dies ist der
heilige achtfache Pfad, dies Gemütsruhe, dies Klarblick, dies Wissen, dies
Erlösung.' Auf diese Weise hegt der Übende die zu hegenden Eigenschaften, und
die nicht zu hegenden hegt er nicht, pflegt die zu pflegenden Eigenschaften, und
die nicht zu pflegenden pflegt er nicht. Insofern, o König, hat die Achtsamkeit
die Eigenschaft, nichts aus dem Gedächtnis entfahren zu lassen."
"Erläutere mir dies!"
„Es ist gerade so, o König, wie wenn der Schatzmeister eines Weltherrschers
seinen Fürsten früh und spät an seine Macht erinnern möchte, indem er spräche:
So viele Elefanten, Pferde, Wagen und Soldaten hast du; so viel beträgt dein
Geld, dein Gold und Reichtum. Möge sich das der Herr vergewärtigen!' Und auf
solche Weise ließe er dem Könige die Erinnerung an seinen Reichtum nicht aus
seinem Gedächtnis entfahren. Genau so, o König, hat Achtsamkeit die
charakteristische Eigenschaft, nichts aus dem Gedächtnis entfahren zu lassen."
„Inwiefern aber, o Ehrwürdiger, hat die Achtsamkeit die Eigenschaft des
Festhaltens?"
„Solange die Achtsamkeit gewärtig ist, o König, erforscht man den Ausgang der
heilsamen und schädlichen Dinge, - ob diese oder jene Dinge heilsam oder
unheilsam, nützlich oder schädlich sind. Darauf läßt der Übende die unheilsamen
und schädlichen Dinge fahren, und die heilsamen und nützlichen hält er fest.
Insofern, o König, hat Achtsamkeit die charakteristische Eigenschaft des
Festhaltens."
„Gib mir eine Erläuterung!"
„Es ist gerade so, o König, wie wenn der Torwächter eines Weltherrschers
genau weiß, wer seinem Fürsten wohlgesinnt und übelgesinnt ist: Diese sind
wohlgesinnt und nützlich, jene aber übelgesinnt und schädlich.' So wehrt er dann
die Übelgesinnten und Schädlichen ab, und die Wohlgesinnten und Nützlichen
behält er da. Ebenso, o König, hat Achtsamkeit die Eigenschaft des Festhaltens.
Auch der Erhabene, o König, hat gesagt: Die Achtsamkeit, o Mönche, heiße ich
einen Wächter für alles.' "
„Weise bist du, Ehrwürdiger Nagasena."
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Aufmerksamkeit und Einsicht
Der König sprach: Was, o Ehrwürdiger, ist das charakteristische Merkmal der
Aufmerksamkeit (manasikāra) und was dasjenige der Einsicht (paññā)?"
„Das Zusammenfassen ist das charakteristische Merkmal der Aufmerksamkeit, o
König, das Abschneiden aber dasjenige der Einsicht."
„Inwiefern aber? Gib mir ein Beispiel!"
„Weißt du wohl, o König, wie es die Schnitter machen, wenn sie die Gerste
mähen?"
„Gewiß weiß ich das, Ehrwürdiger."
„Wie machen sie es denn, o König?"
„Mit der linken Hand, o Herr, faßt der Schnitter die Gerste zu einem Büschel
zusammen, und mit der rechten Hand schneidet er sie mittels einer Sichel ab."
„Genau so, o König, faßt der Übende mittels scharfer Aufmerksamkeit[43]
seinen Geist zusammen, und mittels der Einsicht schneidet er (die
Leidenschaften) ab. Insofern also, o König, ist das Zusammenfassen das
charakteristische Merkmal der Aufmerksamkeit und das Abschneiden dasjenige der
Einsicht."
"Weise bist du, Ehrwürdiger Nagasena."
67
Aus dem Gleichnis vom Hahn
…Wie ferner, o König, der Hahn, selbst wenn er mit Steinen, Stöcken, Keulen,
Ruten und Knütteln umhergejagt wird, dennoch sein Haus nicht im Stich läßt: so
auch soll der Kämpfer, der Kampfbeflissene, auch wenn er mit dem Anfertigen
seiner Gewänder beschäftigt ist oder seine verschiedenen Angelegenheiten
erledigt, die scharfe Aufmerksamkeit (yoniso manasikāro) nicht im Stich
lassen. Denn scharfe Aufmerksamkeit, o König, ist für den Kämpfer, den
Kampfbeflissenen das eigene Heim. Das, o König, ist die fünfte Eigenschaft des
Hahnes, die er anzunehmen hat. Auch der Erhabene, o König, der Gott der Götter,
hat erklärt: Was ist, o Mönch, des Mönches Bereich und eigener väterlicher
Boden? Es sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit.' Und auch der Ordensältere
Sariputta, der Feldherr des Gesetzes, hat gesagt:
- ,Gleichwie ein rechter Hahn
- Nimmer das eigne Haus verläßt
- Und weiß, was eßbar und was nicht,
- Und was zum Leben er bedarf:
- Genau so darf des Buddha Jünger,
- Der unermüdlich sich bemüht,
- Des Siegers Weisung nie verlassen:
- Die hohe, edle Achtsamkeit.' "
68
Das Samenkorn
„Zwei Eigenschaften des Samenkorns, sagst du, Ehrwürdiger Nagasena, habe man
anzunehmen: welches sind diese? "
„Gleichwie, o König, bei gutem Boden und bei rechten Regengüssen schon ein
wenig Samen gar bald viele Früchte bringen wird, so auch soll der Kämpfer, der
Kampfbeflissene recht handeln, auf daß ihm seine Sittlichkeit die vollen Früchte
des Asketentums zuteil werden lasse. Das, o König, ist die erste Eigenschaft des
Samenkorns, die er anzunehmen hat.
Wie ferner, o König, das auf völlig gereinigten Boden gesäte Samenkorn gar
bald aufgeht, so auch gelangt der von dem Kämpfer, dem Kampfbeflissenen wohl
gepflegte, in der Einsamkeit geläuterte Geist, sobald er auf edlen Boden, auf
die Grundlagen der Achtsamkeit, gepflanzt wird, gar schnell zur Entfaltung. Das,
o König, ist die zweite Eigenschaft des Samenkorns, die er anzunehmen hat. Auch
der Ordensältere Anuruddha, o König, hat gesagt:
- ,Gleichwie wenn man auf reinem Boden
- Auch nur ein wenig Samen sät,
- Er dennoch viele Früchte bringt
- Und heiter stimmt den Bauersmann:
- Genau so mag des Kämpfers Geist,
- Geläutert in der Einsamkeit,
- Sich bald entfalten auf dem
- Boden Gewärt'ger edler Achtsamkeit.' "
69
Aus dem Gleichnis von der Katze
. . . Wie ferner, o König, die Katze bloß in der Nähe auf Beute ausgeht: so
auch soll der Kämpfer, der Kampfbeflissene bei eben diesen fünf mit Anhaften
verbundenen Daseins-Gruppen in der Betrachtung ihres Entstehens und Vergehens
verweilen: So ist die Körperlichkeit, so entsteht sie, so löst sie sich auf; so
ist das Gefühl, so entsteht es, so löst es sich auf; so ist die Wahrnehmung, so
entsteht sie, so löst sie sich auf; so sind die Gestaltungen, so entstehen sie,
so lösen sie sich auf; so ist das Bewußtsein, so entsteht es, so löst es sich
auf.' Das, o König, ist die zweite Eigenschaft der Katze, die der Kämpfer, der
Kampfbeflissene anzunehmen hat. Auch der Erhabene, o König, der Gott der Götter,
hat gesagt:
- ,Schaut nicht in weite Fernen hin!
- Wozu nützt höchstes Dasein euch?
- Im gegenwärtigen Getriebe,
- Im eig'nen Körper findet ihr's!'"
70
Aus dem Gleichnis vom Elefanten
. . . Wie ferner, o König, der Elefant, wenn er baden will, in einen von
reinem, ungetrübtem, kühlem Wasser angefüllten und mit weißen, blauen und roten
Lotusblumen bedeckten großen Lotus-Teich hineinsteigt und sich dort nach Art der
edlen Elefanten ergötzt: so auch soll der Kämpfer, der Kampfbeflissene
hineinsteigen in den vom kühlen, unbefleckten, hellen, ungetrübten, edlen Wasser
des Gesetzes angefüllten und mit den Blüten der Erlösung bedeckten großen
Lotus-Teich der Grundlagen der Achtsamkeit; und durch Erkenntnis die
Daseins-Gebilde abschüttelnd, von sich schüttelnd, soll er sich nach Art der
Kämpfer ergötzen. Das, o König, ist die vierte Eigenschaft des Elefanten, die er
anzunehmen hat.
Wie ferner, o König, der Elefant seinen Fuß bedachtsam hebt, bedachtsam
niedersetzt: so auch soll der Kämpfer, der Kampfbeflissene seinen Fuß achtsam
und klar bewußt heben, achtsam und klar bewußt ihn niedersetzen. Beim Kommen und
Gehen, beim Beugen und Strecken, überall soll er achtsam und klar bewußt sein.
Das, o König, ist die fünfte Eigenschaft des Elefanten, die er anzunehmen hat."
71
Aus dem Gleichnis von der Wegspinne
. . Der Ordensältere Anuruddha, o König, hat gesagt
- ,An den sechs Sinnentoren spreit' das Netz
- Gewärtiger edler Achtsamkeit!
- Die Leidenschaften, die sich darin fangen,
- Durch Klarblick bringe sie zu Fall!
72
Aus dem Gleichnis vom Eisen
. . . Gleichwie, o König, gut gehärtetes Eisen seine Zweck erfüllt: so auch
erfüllt des Kämpfers Geist, wen er in scharfer Aufmerksamkeit gefestigt ist,
seinen Zweck Das, o König, ist die erste Eigenschaft des Eisens, die man
anzunehmen hat."
73
Aus dem Gleichnis vom Bogenschützen
„Wie, o König, der Bogenschütze einen Schraubstock verwendet, um die
gebogenen, krummen, schiefen Pfeil gerade zu biegen: so auch soll der Kämpfer,
der Kampbeflissene an diesem Körper die Grundlagen der Achtsamkeit als
Schraubstock verwenden, um den gebogenen krummen, schiefen Geist gerade zu
biegen. Das, o König ist eine Eigenschaft des Bogenschützen, die er anzunehme
hat.
74
AUS DER KOMMENTAR-LITERATUR
Achtsamkeit und Wissensklarheit. - Weil diese beide Eigenschaften Hindernisse
beseitigen und die meditativ Entwicklung fördern, gelten sie als die Helfer, und
zwar allezeit, für alle Meditierenden und in der Übung aller Meditationsobjekte.
Achtsamkeit hat in ihrer Funktion die gleiche Wichtigkeit wie
Wissensklarheit.
Nicht gibt es irgendwo einen Erkenntnisvorgang ohne Achtsamkeit.
Nachlässigkeit bedeutet, kurz gesagt, Abwesenheit von Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist jener unnachlässige Ernst, der zu beharrlicher Tätigkeit
führt.
Entwickelte Sinnenfunktionen werden solche genannt, denen durch den Eindruck
wiederholter geistiger Übung der Duft von Achtsamkeit und Wissensklarheit
verliehen wurde.
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