THERAGĀTĀ

Dvādasanipāta

Sīlavat

608.  In sittlicher Lauterkeit (sīlam) möge man in dieser Welt sich üben, sie entfalten; wer Sittlichkeit hat wohl entfaltet, dem wird Verwirklichung in allem and'ren auch zuteil.

 

609.  Die Sittlichkeit stets hochhalten soll darum der Kluge, wenn dreifach' Glück er sich ersehnt: Ehre, Vermögen, und nach dem Tode Seligkeit. 106)

 

610.  Gute Freunde gewinnt der sittlich Edle, der Gezügelte; des unsittlich, böse Handelnden (gute) Freunde aber meiden diesen.

 

611.  Des Unsittlichen Ruf und Anseh'n leiden Schaden; der sittlich Edle wird geehrt, geachtet und geschätzt.

 

612.  Ausgangspunkt, Basis, Stütze alles Guten ist die Sittlichkeit; deshalb halte man sie hoch und läutre völlig sie.

 

613.  Zügel, Lenker ist die Sittlichkeit, Born der Freude, der Buddhas Furt (zum Überqueren der Flut); deshalb halte man sie hoch und läut're völlig sie.

 

614.  Eine unvergleichliche Kraft die sittliche Lauterkeit ist, die mächtigste Waffe (im Kampf gegen den Drang), die schönste Zierde, starke Rüstung auch.

 

615.  Eine sich're, feste Brücke ist die Sittlichkeit, ihr entströmt der edelste der Düfte; kein Balsam kommt ihr gleich, kein noch so kostbar' Duft reicht wie sie so weit.

 

616.  Beste Vorsorge ist Sittlichkeit, beste Nahrung auf dem Weg, bestes Fahrzeug auf der Reise.

 

617.  In dieser Welt schon wird der Tor (= der Schlechte) verachtet, und nach dem Tod in den Abgründen wird Leiden ernten er; um sittliche Läuterung nicht bemüht, wird er, wo auch immer er mag weilen, kein Glück erfahren.

 

618.  In dieser Welt schon wird der Weise (= der Gute) wohl geachtet, und nach dem Tod wird Glück er bei den Göttern (höhere Wesen, devas) ernten; um sittliche Läut'rung stets bemüht, wird er, wo auch immer er weilen mag, glücklich sein.

 

619.  Wahrlich, als Höchstes wird die Sittlichkeit gepriesen; Höchster, Sieger aber unter Göttern und Menschen ist der Weise, der Sittlichkeit und Weisheit hat erlangt. 107)

Sunīta

620.  In niederer Familie (= in niederer Kaste) wurde ich geboren, in der Armut herrscht und karge Nahrung wird zuteil; gering war meine Arbeit: Welke Blumen kehrt' ich auf.

 

621.  Verachtet wurd' ich von den Menschen, verspottet und gemieden; demütigen Geistes 108) aber erwies ich vielen Ehre.

 

622.  Da sah ich den Vollkommen Erwachten, von der Mönchsgemeinde verehrt, den Überwinder, der in die Stadt gekommen war.

 

623.  Korb und Stange beiseite legend näherte ich mich ihm ehrerbietig; von Erbarmen bewogen blieb der beste der Menschen stehen.

 

624.  Zu seinen Füßen Ehre erwies ich ihm; zur Seite stehend bat ich dann das höchste Wesen um Aufnahme in den Orden.

 

625.  Da wandte sich der Lehrer, der mitleidvolle, der sich der ganzen Welt erbarmt, an mich: „Komm, Mönch!". Das war meine Ordination.

 

626.  Im Walde abgeschieden weilend, unermüdlich, erfüllte ich des Meisters Botschaft, seiner Weisung getreu.

 

627.  In der ersten Wache der Nacht erinnerte ich mich meiner früheren Existenzen; in der mittleren Wache ging mir das göttliche Auge auf, in der letzten Wache beseitigte ich die Wogen der Finsternis (des Nichtwissens).

 

628.  Dann, als die Nacht dem Ende zuging, gegen Sonnenaufgang, näherten sich Inda und Brahmā 109), um mit gefalteten Händen Ehre zu erweisen mir:

 

629.  „Ehre sei dir, du edler Mensch! Ehre sei dir, Höchster unter den Menschen! 110) Versiegt sind sie für dich, die Einflüsse! Einer Gabe würdig bist du, edler Herr!"

 

630.  Als der Meister (= der Buddha) sah, wie mir die Gottheiten Ehre erwiesen, ließ er ein Lächeln sehen und sagte:

 

631.  „Durch Bedürfnislosigkeit, den heiligen Wandel lebend, durch Selbst-Zügelung und Selbst-Bezähmung wird ein (wahrer) Brahmane man; durch dieses alles, wahrlich, erlangt man höchstes Brahmanentum." 111)


Anmerkungen:

106)    Das in Nr. 609 erwähnte dreifache Glück ist auf dem Weg des Karma-Gesetzes, d.h. des Gesetzes der moralischen Kausalität zu erlangen.

107)    s. Nr. 70.

108)    Demut im Sinne der buddhistischen Lehre ist ausnahmslos als Gegenteil von Hochmut zu verstehen, nicht als ein im Abendland über Jahrhunderte gepflegtes Sich-Erniedrigen.

109)    Inda und Brahmā: zwei Gottheiten, d.h. höhere Wesen, selber Jünger des Buddha.

110)    „Höchster unter den Menschen": eine Ehrenbezeichnung, die sonst nur auf den Buddha angewandt wird.

111)    Der Buddha, der das Kastensystem ablehnte, betonte stets, dass niemand durch die Kasten-Zugehörigkeit ein wahrer Brahmane sei, dass dies vielmehr einzig und allein auf dem Wege sittlicher Läuterung und Loslösung von dieser Welt zu verwirklichen ist.


  Oben