„In Tugend wandelt, ihr Verwandten“
§A. Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf einen betrügerischen Mönch. Damals nämlich sprach der Meister: „Ihr Mönche, nicht nur jetzt, sondern auch früher schon war dieser Mönch ein Betrüger“, und erzählte darauf folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.
§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva im Vogelgeschlechte seine Wiedergeburt. Nachdem er herangewachsen war, wohnte er, umgeben von einer Vogelschar, inmitten des Ozeans auf einer Insel. — Damals hatten einige Kaufleute, die im Reiche Kasi wohnten, eine Orientierungskrähe [2] mitgenommen und fuhren mit ihrem Schiffe über das Meer. In der Mitte des Meeres zerbarst das Schiff.
Die Orientierungskrähe flog nach jener Insel und dachte bei sich: „Hier ist eine große Schar von Vögeln. Ich muss Verstellung üben und auf diese Weise ihre Eier und ihre Jungen verzehren.“ Sie flog herab und stellte sich inmitten der Vögelschar mit einem Fuße auf die Erde, wobei sie den Schnabel offen hielt. Als die Vögel fragten: „Wer bist du, Herr?“, antwortete sie: „Ich bin ein Tugendhafter.“ „Warum stehst du aber auf einem Fuße?“ „Wenn ich den zweiten Fuß heruntersetze, so kann mich die Erde nicht tragen.“ „Aber warum stehst du da mit geöffnetem Schnabel?“ „Wir verzehren keine andere Nahrung, wir schlürfen nur die Luft ein“, erwiderte sie. Nach diesen Worten aber redete sie die Vögel an: „Ich will euch eine Ermahnung geben, hört sie an!“; und um jene zu ermahnen, sprach sie folgende erste Strophe:
Die Vögel merkten nicht, dass sie nur so spreche, um durch Betrug die Eier verzehren zu können; sondern sie priesen sie mit der folgenden zweiten Strophe:
Da die Vögel diesem Bösen vertrauten, sagten sie zu ihm: „Herr, du nimmst ja keine andre Nahrung zu dir, sondern du nährst dich von der Luft; darum gib auf unsere Eier und auf unsere Jungen Acht“, und flogen dann fort, um sich Nahrung zu suchen. Sobald sie aber fort waren, fraß die böse Krähe ihre Eier und ihre Jungen, bis sie sich den Bauch gefüllt hatte; als sie dann wiederkamen, war sie ruhig und stand mit geöffnetem Schnabel auf einem Fuße. Als die Vögel bei ihrem Kommen ihre Jungen nicht sahen, schrien sie laut: „Wer hat sie gefressen?“ Weil sie die Krähe aber für tugendhaft hielten, zweifelten sie durchaus nicht an ihr.
Eines Tages dachte der Bodhisattva: „Hier gab es früher keine Gefahr; seitdem jene aber gekommen ist, besteht eine. Ich muss sie beobachten.“ Er stellte sich, als ob er mit den anderen Vögeln zum Futterholen fortfliege, kehrte aber um und stellte sich an einen verborgenen Ort. Jetzt dachte die Krähe ohne Furcht: „Sie sind fort“, kam herbei und fraß die Eier und die Jungen. Dann kam sie zurück und stellte sich mit geöffnetem Schnabel auf einen Fuß.
Als nun die Vögel zurückkehrten, versammelte der Vogelkönig sie alle um sich und sagte: „Als ich heute beobachtete, woher die Gefahr für eure Jungen komme, sah ich, dass jene böse Krähe sie auffraß; jetzt wollen wir sie packen!“ Er führte sie hinzu, ließ sie die Krähe umringen und sagte: „Wenn sie entwischen will, so packt sie!“ Dann sprach er die folgenden übrigen Strophen:
Nach diesen Worten aber sprang der Anführer der Vögel selbst auf und stieß mit dem Schnabel auf den Kopf der Krähe; auch die übrigen schlugen sie mit Schnäbeln, Füßen und Flügeln. So kam jene dortselbst ums Leben.
§C. Nachdem der Meister diese Begebenheit beschlossen hatte, verband er das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war die Krähe der betrügerische Mönch, der Vogelkönig aber war ich.“
Ende der Erzählung von der Tugendflagge
[1] Der Titel kommt von einem Wort in der fünften Strophe.
[2] Vgl. oben Jataka 339.