SATIPATTHÁNA

IX. SCHLUSSWORTE

A. SATIPATTHÁNA UND DIE KULTUR DES HERZENS

Satipatthāna, der Schulungsweg in Rechter Achtsamkeit, stellt Kultur des Geistes im eigentlichen und höchsten Sinne dar. Man mag aber vielleicht aus der Lehrrede und den vorstehenden Ausführungen den Eindruck empfangen, daß es sich hier um eine sehr verstandeskühle, nüchterne und dem Sittlichen gegenüber indifferente Lehre handelt, welche die Kultur des Herzens vernachlässigt. Dieser scheinbare Mangel erklärt sich dadurch, daß der Buddha bei anderen Gelegenheiten, und zwar sehr häufig und eindringlich, von der Sittlichkeit als dem Anfang und der unerläßlichen Grundlage jeder höheren geistigen Entwicklung gesprochen hat. Diese Tatsache war allen Anhängern der Buddha-Lehre bekannt und bedurfte daher in dieser, einem besonderen Gegenstand gewidmeten Lehrrede keiner ausdrücklichen Erwähnung. Doch um Zweifeln, Einwendungen und vor allem tatsächlichen Unterlassungen vorzubeugen, sind einige Worte hierüber am Platze.

Sittlichkeit, welche die Beziehungen des Einzelnen zum Mitmenschen regelt, kann wohl durch Gebote, Regeln und Gesetze gestützt und geschützt und durch die Vernunft begründet werden, doch ihre einzig sicheren Wurzeln liegen in einer wahren Kultur des Herzens. Diese findet in der Buddha-Lehre den denkbar vollkommensten Ausdruck in den vier «Erhabenen Weilungen», oder «Göttergleichen Zuständen» (brahma-vihāra), nämlich: Liebe, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut. Darüber gibt die buddhistische Literatur genügende Auskunft. Nur dieses sei noch hierzu bemerkt: Es ist ein tiefes Wohlwollen für alles Lebendige oder (in Nyanatilokas schöner Prägung) die All-Güte (mettā), welche die Grundlage für die anderen drei Eigenschaften bildet, ebenso wie für jedes Veredlungsstreben. Der Jünger der hier gelehrten Achtsamkeits-Schulung wird daher seine Achtsamkeit zunächst darauf zu lenken haben, daß sein Denken, Sprechen und Handeln nie der uneingeschränkten Güte ermangelt. In diesem Sinne heißt es in dem klassischen buddhistischen Text, dem «Lied von der Güte» (Mettā-Sutta):

«Voll Güte zu der ganzen Welt
Entfalte ohne Schranken man den Geist:
Nach oben hin, nach unten, quer inmitten,
Von Herzens-Enge, Haß und Feindschaft frei!
Ob stehend, gehend, sitzend oder liegend,
Wie immer man von Schlaffheit frei,
Auf diese Achtsamkeit soll man sich gründen.
Als göttlich Weilen gilt dies schon hienieden.»

Ferner sagte der Erhabene:

«Mich selbst werde ich schützen, so sind die Grundlagen der Achtsamkeit zu üben. Den Anderen werde ich schützen, so sind die Grundlagen der Achtsamkeit zu üben. Sich selbst schützend, schützt man den Anderen; den Anderen schützend, schützt man sich selbst.

Und wie, o Mönche, schützt man, indem man sich selber schützt, den Anderen? Durch regelmäßige Übung, durch Geistes-Entfaltung, durch ihre häufige Betätigung.

Und wie, o Mönche, schützt man sich selber, indem man den anderen schützt? Durch Geduld, Gewaltlosigkeit, Güte und Mitleid.»

(Samyutta Nikāya 47, 19)

 

B. SATIPATTHÁNA ALS WEG DER SELBSTHILFE

Zu Beginn dieser Ausführungen war die Botschaft des Buddha und besonders ihr Kernstück, die Lehre von der Entfaltung Rechter Achtsamkeit, als ein «Weg der Hilfe» bezeichnet worden. Auf Grund der nun abgeschlossenen Darstellung mag er jetzt genauer als ein Weg der Selbsthilfe beschrieben werden, die im Grunde die eigentlich wirkliche Hilfe ist. Wohl kann die Hilfe, die man von anderen Menschen erhält, von entscheidender Bedeutung sein - wie etwa die Hilfe durch Erziehung und Belehrung, durch menschliche Anteilnahme, materiellen und praktischen Beistand. Doch ein guter Teil Selbsthilfe ist auch hierbei unerläßlich: willige Annahme und rechte Nutzung dieser Hilfe. In noch weit höherem Maße aber trifft dies für die Hilfe auf dem Wege der Geistesschulung und Leidbefreiung zu. Hier ist es erst die Selbsthilfe, durch die die vom Buddha aufgezeigte Hilfsmöglichkeit ihre tatsächliche Erfüllung finden kann.

«Du selber tust die böse Tat,
du selber schändest dich durch sie;
du selber läßt die böse Tat,
allein du selber läuterst dich.
Du selber machst dich unrein - rein.
Wie sollte dies ein anderer tun!» 
 
Dhammapada, Vers 165
Übersetzt von J. Lenga
 
«Ihr selber müßt euch eifrig mühen.
Der Buddha weist euch nur den Weg.»
 
Dhammapata, Vers 276
Übersetzt von J. Lenga

Diese Verkündung einer Hilfsmöglichkeit kann allerdings kaum hoch genug geschätzt werden. Ganz abgesehen vom Wichtigsten, dem klaren Aufzeigen des Rettungsweges, muß allein schon die überzeugende Kunde, daß es eine Hilfe überhaupt gibt, als eine wahrhaft frohe Botschaft gelten in einer Welt, die sich bis zu einem Gefühl der völligen Hilflosigkeit völlig verstrickt hat in selbstgeschaffene Fesseln. Die Menschheit hat wahrlich guten Grund, an einer Hilfe zu zweifeln und zu verzweifeln, denn allzu oft waren von unkundiger Hand Versuche gemacht worden, die Fesseln zu lösen. Diese Versuche hatten aber nur zur Folge, daß die Fesseln hier oder dort mit dem Ergebnis einer teilweisen Erleichterung gelockert wurden, daß sie aber, eben durch solch unkundiges Vorgehen, an anderen Stellen des leidenden Körpers sich nur um so straffer zusammenzogen und um so tiefer ins Fleisch schnitten.

Doch es gibt in der Tat eine Hilfe, und sie ward gefunden und erprobt: vom Buddha und seinen Heiligen Jüngern, die ihm folgten. Diejenigen unter den Menschen aller Zeiten, «deren Augen nicht völlig mit Staub bedeckt sind», werden diese Erleuchteten als solche erkennen und sie nicht verwechseln mit jenen Lehrern teilweiser und daher trügerischer Hilfe, von denen wir sprachen. Die wahren Helfer sind erkennbar an der einzigartigen Harmonie und Anregungskraft, Folgerichtigkeit und Natürlichkeit, Einfachheit und Tiefe, die sich in ihrer Lehre wie in ihrem Leben offenbarten. Diese wahren Helfer sind erkennbar am Lächeln des tiefen Verstehens, der mitleidvollen Güte und der tröstlichen Heilsgewißheit, das auf ihren Lippen liegt und gleichfalls ihr ganzes Leben und Lehren erfüllt. Es wird im Empfänglichen eine Zuversicht wecken, die bis zur Zweifellosigkeit des auf dem Erlösungs-Pfade Gesicherten wachsen wird.

Dieses Lächeln auf dem Antlitz des Erleuchteten spricht: Auch Du kannst das Ziel erreichen! «Geöffnet sind die Tore des Todlosen!» Bald nachdem der Buddha durch jene Tore der Erleuchtung geschritten war, hat er verkündet:

«Mir gleich ja werden jene Sieger sein,
Die Trieb-Versiegung sich erwirken!»

Mittlere Sammlung 26

Wahrlich eine Botschaft stärksten Glaubens an die Möglichkeiten des menschlichen Geistes! Eine Botschaft, die dem schweren Werk der Selbst-Hilfe das ihm so nötige Selbst-Vertrauen gibt.

Doch das Aufzeigen des Weges als der einzigen Hilfe, die selbst ein Buddha geben kann, geschah nicht in einer gleichgültigen Weise: es war weder ein flüchtiger Fingerzeig auf den Weg und seine ungefähre Richtung, noch wurde den Wanderern ein «bloßes Stück Papier» in die Hand gedrückt mit einer komplizierten Wegkarte oder gar nur einem verlockenden Bild des Ziels. Die Pilger wurden nicht einfach sich selber überlassen, - mit ihrem ausgezehrten Körper und Geist, der den Schwierigkeiten des Weges gewiß nicht gewachsen war. Das «Aufzeigen des Weges» enthielt auch den Hinweis auf die für die lange Reise unerläßliche Wegzehrung, welche die Wanderer selber mit sich tragen, ohne daß es viele von ihnen in ihrer Benommenheit, in ihrer «Geistesabwesenheit» merken. Mit allem Nachdruck hat es der Buddha immer wieder betont, daß der Mensch im vollen Besitz der für die Selbsthilfe nötigen Kräfte, Fähigkeiten und Hilfsmittel ist oder doch, allein schon durch seine menschliche Geburt, die Möglichkeit hat, sie zu erwerben. Die einfachste und umfassendste Weise, in der der Buddha über diese «Hilfsmittel im Menschen» sprach, ist eben die Lehrrede von den «Grundlagen der Achtsamkeit». Ihr Sinn mag zusammengefaßt werden in den zwei Worten: «Sei achtsam!» D.h. sei achtsam auf deinen eigenen Geist! Und warum? Er birgt alles: die ganze Welt des Leidens und ihren Ursprung, aber auch das Ende des Leidens mit dem Weg, der dazu führt. All dies ist abhängig von unserem eigenen Geist, von der Richtung, welche die Geistesströmung erhält durch eben den Moment der Geistestätigkeit, der jetzt gerade anhebt.

Satipatthāna, das sich eben mit diesem entscheidenden gegenwärtigen Geistmoment befaßt, muß notwendigerweise eine Lehre des Selbstvertrauens sein, denn in diesem eben gegenwärtigen unmerklich kurzen und doch weltentiefen Bewußtseinsaugenblick ist man notwendig allein. Doch wahres Selbstvertrauen (im Gegensatz zum blinden Dünkel) muß in sehr vielen erst allmählich entwickelt werden. Denn die Menschen, unkundig und unbeholfen in der Benutzung ihres Hauptwerkzeuges «Geist», haben sich daran gewöhnt, sich auf andere zu verlassen oder den Gruppengewohnheiten zu folgen. So ist dieses Geistwerkzeug tatsächlich durch Vernachlässigung unzuverlässig geworden und bietet keine geeignete Basis mehr für begründetes Selbstvertrauen. Daher beginnt Satipatthāna mit den einfachen ersten Schritten, die auch dem seiner selbst Unsichersten möglich sind, und führt in allmählichem Anstieg zu jener höchsten Meisterschaft über das eigene Leben und den eigenen Geist, die mit den Worten beschrieben wurde: «Auf sich selber gestützt in der Satzung des Meisters».

Satipatthāna, mit der Einfachheit, die einer Lehre angemessen ist, die als der «Einzige Weg» bezeichnet wird, beginnt mit etwas scheinbar sehr Geringem, mit einer der elementarsten Geistesfunktionen: der Achtsamkeit oder dem ersten Aufmerken auf Eindrücke. Dies ist allerdings etwas so Alltägliches und Vertrautes, daß sich auf der Selbstbeobachtung und Kontrolle hierüber leicht die ersten Schritte des auszubildenden Selbstvertrauens gründen können. Ebenso vertraut sind die ersten Objekte dieser Achtsamkeit: es sind die kleinen Betätigungen des Alltagslebens selbst. Was die Achtsamkeit zuerst mit ihnen tut, ist: sie aus den ausgefahrenen Gleisen der Gewohnheit herauszunehmen, um sie sorgfältig zu betrachten, zu prüfen und zu verbessern.

Die sichtbaren Verbesserungen und Fortschritte in der Alltagsarbeit und den Lebensumständen, bewirkt durch Achtsamkeit, Gründlichkeit und Umsicht, werden zusätzliche Ermutigung geben für die höheren Zwecke der Selbsthilfe. Ein sichtbarer Fortschritt wird sich auch im allgemeinen Geisteszustand zeigen: der beruhigende Einfluß besonnenen Handelns und Denkens wird ein Gefühl des Wohlbefindens und der inneren Sicherheit erzeugen, wo bisher Unzufriedenheit und Mißstimmung herrschten. Wenn in dieser Weise die Bürde des Alltagslebens etwas erleichtert wurde, so wird dies ein sichtbarer Beweis sein für die leidlindernde Wirkung der Satipatthāna-Methode und wird das Vertrauen in ihre leidvernichtende Kraft stärken.

Die wachsende Achtsamkeit im Reinen Beobachten wird den Menschen empfänglich machen für die Belehrung, die aus den Dingen selber kommt. Dann werden die kleinen Dinge des Alltags und die einfachen, vertrauten Vorgänge in der Natur zu Lehrern tiefer Weisheit werden. Sie werden allmählich ihre gewaltige Tiefendimension enthüllen und die höchsten Erkenntnisse des Erleuchteten künden. Wenn man langsam die stille Sprache dieser kleinen und einfachen Dinge verstehen lernt, dann wird auch das Vertrauen zum eigenen Geist und seinen verborgenen Reichtümern wachsen.

Im Besitz solch direkter Belehrungen wird man es allmählich lernen, auf unnötige gedankliche Komplikationen und Konstruktionen zu verzichten. Wenn man sieht, wie das Leben an Klarheit und Leichtigkeit gewinnt durch den wählenden, vereinfachenden und lenkenden Einfluß Rechter Achtsamkeit, dann wird man allmählich alles Unnötige an Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen von sich abtun.

Satipatthāna vermag es, wieder Einfachheit und Natürlichkeit einer Welt zu geben, die mehr und mehr kompliziert, problematisch und entartet wird. Es lehrt diese Tugenden vor allem um ihrer selbst willen, aber auch um damit die Aufgaben der Selbsthilfe zu erleichtern.

Gewiß, die Welt ist vielfältig in ihrer Fülle, und als ein unübersehbares Beziehungsgefüge ist sie ihrer Natur nach kompliziert. Doch nicht notwendig ist es, daß ihre Vielfältigkeit und Kompliziertheit unbegrenzt wächst und daß sie vermehrt wird durch Unwissen und Unfähigkeit, ungezügelte Leidenschaften und wachsende Lebensansprüche der Menschen. Satipatthāna vermag es, all diesen eben genannten Faktoren wachsender Lebensverwicklung wirksam zu begegnen.

Um der Vielfältigkeit des Lebens gewachsen zu sein, gibt die Achtsamkeits-Schulung dem Menschen in erster Linie erhöhte Anpassungsfähigkeit, Geistesgegenwart und die «Geschicklichkeit in der Wahl der rechten Mittel» (siehe «Wissensklarheit über die Eignung», Seite *).

Was das unvermeidliche Maß der Lebensvielfalt betrifft, so kann es, in einem gewissen Umfang, sehr wohl durch die Achtsamkeits-Schulung gemeistert werden. Für diesen Zweck lehrt Satipatthāna den Menschen, seine Angelegenheiten in Ordnung und übersichtlich zu halten sowie, auch in sittlicher Beziehung, ohne «Rückstände». Es lehrt: die Zügel der Kontrolle zu benutzen und in der Gewalt zu behalten; die zahlreichen Einzeltatsachen in den Rahmen eines wirklichkeitsgemäßen Weltbildes sinnvoll einzuordnen und sie einem starken und edlen Lebenszweck unterzuordnen.

Was die einer Verringerung fähigen Komplikationen betrifft, so führt Satipatthāna zu einer zunehmenden Vereinfachung der Lebensbedürfnisse. Dies ist besonders wichtig angesichts der bedrohlich wachsenden modernen Tendenz, fortwährend künstlich neue Bedürfnisse zu schaffen und zu propagieren. Hier liegt gewiß auch eine der mittelbaren Kriegsursachen, während die Wurzel dieser Tendenz, d.i. Begehrlichkeit, eine Hauptursache für Kriege und sozialen Unfrieden darstellt. Für das materielle und geistige Wohl der Menschheit ist es unerläßlich, diese Entwicklung in Grenzen und unter Kontrolle zu halten. Was aber unseren besonderen Gegenstand, die geistige Selbsthilfe, betrifft: Wie kann der menschliche Geist das für die Selbsthilfe nötige Maß der Selbstgenügsamkeit besitzen, wenn er sich fortwährend für neue eingebildete Bedürfnisse abmühen muß, was auch eine zunehmende Abhängigkeit von anderen einschließt? Einfachheit der Lebensweise sollte gepflegt werden um der Schönheit wie um der Freiheit willen, die ihr eignet.

Wenden wir uns nun den vermeidbaren inneren Komplikationen zu oder wenigstens einigen von ihnen. Im allgemeinen lehrt hierzu Satipatthāna, den Geist, das Hauptwerkzeug des Menschen, richtig zu benutzen, es zu verfeinern, und zeigt auch die rechten Zwecke für seinen Gebrauch.

Eine Hauptquelle innerer und äußerer Komplikationen ist unnötiges und unerwünschtes Einmischen oder Eingreifen. Der Drang dazu wird wirksam bekämpft durch die Gewöhnung an die Haltung des Reinen Beobachtens, welches den direkten Gegensatz zur Einmischungs-Sucht bildet. Weiterhin wird die «Wissensklarheit», als eine Erziehung zum umsichtigen Handeln, sorgfältig den Zweck und die Eignung des beabsichtigten Eingreifens prüfen und meistens raten, davon abzulassen.

Ferner sind viele innere Komplikationen verursacht durch extreme Haltungen und durch eine unweise Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gegensatzpaaren, die sich im Leben manifestieren. Extreme Haltungen begrenzen die Handlungs- und Denkfähigkeit sowie die Erkenntnisfähigkeit des Menschen; sie verringern seine Unabhängigkeit und die Möglichkeiten der Selbsthilfe. Durch Unkenntnis der Gesetze, welche die Gegensatzpaare bestimmen, oder durch Parteinahme in ihrem ewigen Konflikt kommt man in die Gefahr, ein hilfloses Spielzeug zu werden ihrer gesetzmäßig wiederkehrenden Bewegungen. Satipatthāna, als ein Ausdruck des Mittleren Pfades, ist ein Weg, der sich über die Extreme und Gegensätze erhebt. Satipatthāna bewirkt einen Ausgleich einseitiger Entwicklung: es füllt aus, wo Mangel ist, und beschränkt das Übermaß. Es verleiht einen Sinn für das rechte Maß im Leben und Denken; es strebt nach Harmonie und Gleichgewicht, ohne die kein stetiges Selbstvertrauen und keine wirksame Selbsthilfe möglich sind.

Als Beispiel sollen hier lediglich nochmals jene zwei gegensätzlichen Charaktertypen genannt werden, wie sie C.G. Jung formuliert und weiter differenziert hat: der introvertierte und der extravertierte, d.h. der nach innen oder außen gerichtete Typ, die sich teilweise decken mit Gegensätzen wie dem beschaulichen und aktiven, dem einsiedlerischen und geselligen Charakter usw. Jener Grundzug der Buddha-Lehre als ein Mittlerer Pfad ist so innig verwurzelt in Satipatthāna, daß diese Methode unmittelbar fähig ist, beide Typen sowohl anzuziehen wie auszugleichen.

Satipatthāna erstrebt eine Niveauerhöhung des alltäglichen Lebens und Denkens und beseitigt damit eine Hauptschwierigkeit der Meditation und jeden Strebens nach Verinnerlichung, nämlich die allzu große Kluft und Spannung zwischen dem oft unbeherrschten und von den geistigen Zielen unberührten Alltagsleben einerseits und den wenigen Stunden künstlich gesteigerter Sammlung, Selbstbeherrschung und ideellen Vorrangs auf der anderen Seite. Die Achtsamkeits-Übung bewirkt eine Niveauangleichung, die einen größeren Erfolg in der Meditation und eine größere Harmonisierung des Lebens mit sich bringen wird. Viele, entmutigt durch das Bewußtsein jener Kluft und durch erfolglose Bemühungen in geistiger Übung, haben den Weg des Selbstvertrauens und der Selbsthilfe verlassen und sich Lehren ausgeliefert, welche behaupten, daß der Mensch nur durch die Gnade eines Gottes erlöst werden könne.

Eine weitere Ursache innerer Verwicklungen ist der starke und unberechenbare Einfluß des Unterbewußten. Reines Beobachten bewirkt eine wachsende Vertrautheit mit den feinsten Schwingungen des Körpers und des Geistes und damit einen näheren und «freundlicheren» Kontakt mit dem Unterbewußten. Dieser wird noch begünstigt durch die Haltung vorsichtigen «Wartens und Lauschens», welche für das Reine Beobachten bezeichnend ist und die sich von einem groben und schädlichen Eingreifen in das Gefüge des Unterbewußten fernhält. Hierdurch sowie durch das sich stetig ausbreitende Licht der Bewußtseinshelle werden die «oberen Schichten» der Unterbewußtseins-Tiefe mehr «artikuliert» in ihrem Ausdruck und einer organischen Einordnung sowie der bewußten Kontrolle leichter zugänglich. Indem so das aus dem Unterbewußten auftauchende Unberechenbare, Unzugängliche und Unlenksame eingeschränkt wird, erhält Selbstvertrauen und Selbsthilfe eine tiefer gesicherte Basis.

Satipatthāna bedarf keiner komplizierter «Techniken» oder äußerlicher Hilfsmittel. Das tägliche Leben ist sein Arbeitsmaterial. Es hat nichts zu tun mit exotischem Kult oder Ritus und verleiht keine «Einweihungen» oder «esoterisches Wissen», außer denjenigen Weihen und Einsichten, die Wachstumsergebnis des sich entfaltenden Geistes sind.

Satipatthāna benutzt die Lebensbedingungen, die es gerade vorfindet. Es ist daher nicht abhängig von einem Leben in Klausen und völliger Einsamkeit, obwohl das Bedürfnis danach in vielen wachsen mag. Zeitweilige Zurückgezogenheit für Perioden strengerer Übung wird jedoch hilfreich sein. Satipatthāna ist ein Weg der Selbstbefreiung. Auf der unerschütterlichen Grundlage des Karma-Gesetzes stehend, kennt es weder «stellvertretende Erlösung» noch eine Erlösung durch, göttliche Gnade noch Mittlerschaft von Priestern.

Satipatthāna ist frei von Dogmen, vom Glauben an eine göttliche Offenbarung oder an irgendwelche äußere Autorität, die ein «Opfer des Intellekts» fordert.

Satipatthāna gründet sich lediglich auf Erkenntnisse erster Hand, d.h. auf die unmittelbare Anschauung durch eigene Erfahrung und eigenes Denken. Dies ist die einzige Quelle einer Erkenntnis von lebens-gestaltender und schließlich lebens-überwindender Kraft. Satipatthāna lehrt, diese Erkenntnisquelle zu reinigen, zu erweitern und zu vertiefen.

Der erste Lehranstoß durch den Buddha ist freilich unentbehrlich in einer Welt, wo «Einzel-Erleuchtete» (Pacceka-Buddhas; d.h. Selbst-Denker im höchsten Sinne) nur sehr, sehr selten erscheinen. Doch im Geiste dieser entschiedenen Schulung in den Grundlagen der Achtsamkeit wird das Wort des Buddha nur angenommen in derselben Weise wie die ausführlichen Beschreibungen und Ratschläge eines, der die ganze Länge des Weges gegangen ist und daher Vertrauen verdient. Doch das in dieser Weise mittelbar erworbene Wissen wird zum wirklichen geistigen Besitz des Jüngers nur im Grade der unmittelbaren Bestätigung durch die eigene Erfahrung.

«Wohl verkündet ist vom Erhabenen die Lehre, sichtbar, mit unmittelbarer Wirksamkeit, (sprechend): <Komm und sieh!>, zum Ziele führend, dem Denkenden aus sich selber heraus verständlich!»

Dieser Charakter der Satipathana-Methode als einer Botschaft des Selbstvertrauens und der Selbsthilfe wurde vom Erleuchteten selber ausdrücklich betont, in Worten, die er während der letzten Tage seines Lebens sprach, - ein Umstand, der ihnen besonderen Nachdruck und Weihe verleiht:

«Daher, o Ananda, seid euch selber Insel, seid euch selber Zuflucht, nehmt keine andere Zuflucht! Die Lehre sei euch Insel, die Lehre sei euch Zuflucht, nehmt keine andere Zuflucht! Und wie, o Ananda, ist der Mönch sich selber Insel und Zuflucht, hat er keine andere Zuflucht? Wie hat er die Lehre als Insel und Zuflucht und hat keine andere Zuflucht?

Da weilt, Ananda, ein Mönch beim Körper in Betrachtung des Körpers - bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle - beim Geist in Betrachtung des Geistes - bei den Geistobjekten in Betrachtung der Geistobjekte, eifrig, achtsam und wissensklar, nach Überwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt.

So, o Ananda, ist ein Mönch sich selber Insel und Zuflucht, hat keine andere Zuflucht; hat er die Lehre als Insel und Zuflucht, hat keine andere Zuflucht.

Und diejenigen, o Ananda, welche jetzt oder nach meinem Dahinscheiden sich selber Insel und Zuflucht sind, keine andere Zuflucht nehmen; die die Lehre als Insel und Zuflucht und keine andere Zuflucht haben, - diese Mönche, o Ananda, werden das Höchste gewinnen, wenn sie gewillt sind zu streben.»

Mahā-Parinibbāna-Sutta


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