SATIPATTHÁNA

3. Weisheit (Klarblick)

Der Buddha sagte: «Mit gesammeltem Geiste sieht man die Dinge, wie sie wirklich sind». Daher sind alle die oben genannten Förderungsmittel der Geistessammlung auch gleichzeitig Hilfen in der Gewinnung der Weisheit im buddhistischen Sinne, in der die unverblendete Wirklichkeitserkenntnis ein Hauptelement ist. Wie in vorhergehenden Kapiteln gezeigt wurde, ist es die meditativ gewonnene Klarblicks-Weisheit (vipassanā-paññā), durch welche die Wirklichkeitserkenntnis zur vollen Entwicklung gelangt, so daß sie ihre höchste Funktion, die Befreiung vom Leiden, erfüllen kann.

Im normalen Lebensablauf ist freilich der Mensch meist weniger daran interessiert, Dinge und Menschen wirklichkeitsgemäß zu verstehen, sondern es ist ihm vor allem daran gelegen, seine persönliche Beziehung zu ihnen vom Lust- und Nützlichkeitsstandpunkt aus zu bestimmen und zu regeln. Er wird daher meist mit den ersten «Signalen» zufrieden sein, die er von den äußeren Eindrücken oder seinen eigenen Gedanken erhält, und diese sind häufig schon mit gewohnheitsmäßigen oder triebbehafteten Reaktionen assoziiert, die dann sofort ausgelöst werden. Bei vertrauten Eindrücken wird die Aufmerksamkeit gewöhnlich nur so lange bei den betreffenden Objekten verweilen, als es nötig ist, um deren erste «Signale» aufzunehmen. Es ist daher gewöhnlich nur eine einzige Teilansicht des Objekts (oder eine kleine Auswahl seiner Aspekte), die in solchen Fällen wahrgenommen wird; und nur ein geringer Teil der Lebens- und Wirkungsdauer des Objekts wird dabei erfaßt. Diese Flüchtigkeit der Hinwendung zu einem Objekt wird dann allzu leicht zu Wahrnehmungstäuschungen oder Mißdeutungen führen, wenn diese nicht ohnehin mit den gewohnheitsmäßig assoziierten Reaktionen eng verknüpft sind.

Bei einem guten Teil der so überaus zahlreichen unbedeutenden Eindrücke des Alltags mag die Beschränkung auf ihr erstes Signal und auf die eingeübte Reaktion darauf ausreichend sein; sie bedeutet eine unerläßliche Vereinfachung und Kraftersparnis innerhalb eines immer verwickelter werdenden Lebens. Doch unter dem Druck der wachsenden Vielfältigkeit und Kompliziertheit unserer Zivilisation wird die Reichweite dieser fragmentarischen Eindrücke und schematisierten Reaktionen allzu sehr ausgedehnt; und auch im Geistigen zeigt sich dies im zunehmenden Einfluß von ungeprüften Schlagworten und Schablonen. Das schafft eine gespenstisch-starre Welt von nahezu formlosen Erfahrungsbrocken, versehen mit subjektiv gewählten Kennzeichen und Symbolen, welche hauptsächlich auf das Selbstinteresse und vorgefaßte Meinungen bezogen sind und wenig über die Dinge oder Ideen selber aussagen. Wenn man in einer solchen, so stark vom Ichbezug bestimmten Welt lebt, dann hat die Wirklichkeitserkenntnis wenig Raum. Die beiden Grundirrtümer des «Ich» und «Mein» werden notwendig an Stärke zunehmen, und ihre feinen Faserwurzeln werden so weit und tief reichen, daß es unmöglich wird, sie durch intellektuelle Mittel zu entfernen. Diese fragmentarischen und subjektiv gefärbten Eindrücke führen auch leicht zu jenen vier Fehlurteilen über die Wirklichkeit (vipallāsa), welche Vergängliches für beständig nehmen, Leidhaftes für glückbringend, Ichloses für ichhaft und Unreines für rein.

Es ist daher ratsam, daß man gelegentlich auch ganz vertraute Alltagseindrücke und die eigenen Routinereaktionen dem Reinen Beobachten und einer genaueren Prüfung unterwirft. Und wo neue Entscheidungen nötig sind, sollte das beobachtende und prüfende Innehalten nie fehlen.

Von einer solchen Gewöhnung an das beobachtende Innehalten wird auch die meditative Klarblicksweisheit gewinnen. Deren Objekte, die eigenen körperlichen und geistigen Vorgänge, werden sich in ihrem vollen und wahren Lichte zeigen können, wenn der beschränkende und verfälschende Ichbezug ausgeschaltet ist. Die Beobachtung ihres vollen Lebensablaufs, ihres Entstehens und Vergehens, wird das Gesetz der Vergänglichkeit eindringlich illustrieren. Im gleichen beobachtenden Innehalten werden diese Vorgänge auch in ihrer ganzen Vielfältigkeit erscheinen, als ein Gefüge von unpersönlichen Einzelkräften, Abhängigkeiten, Beziehungen und Zusammenhängen; und damit werden sie ihre trügerische Scheineinheit verlieren. Die Monotonie und das Unbefriedigende im unablässigen Ablauf solcher flüchtiger, substanzloser Vorgänge wird sich der Beobachtung immer stärker aufdrängen, und so wird sich auch das Leidensmerkmal (dukkhalakkhana) der Existenz der eigenen Erfahrung darbieten. Derart können, durch das einfache Mittel des beobachtenden Innehaltens, alle drei Daseinsmerkmale zu Gegenständen der Klarblicksweisheit gemacht werden.

 

4. Spontaneität

Es braucht nicht befürchtet zu werden, daß Gewöhnung an das Innehalten vor einer Betätigung jede spontane Äußerung wertvoller Art ausschalten oder lähmen wird. Im Gegenteil, das Innehalten selber wird durch Übung zu einem spontanen Vorgang werden und einen geistigen Auswahlmechanismus ermöglichen, der mit immer größerer Sicherheit und Reaktionsgeschwindigkeit das als unheilsam Erkannte ausschließt. Wie gewisse Reflexbewegungen spontane Schutzmaßnahmen unseres Körpers sind, so soll auch das Innehalten zu einem geistig-sittlichen Selbstschutz ausgebildet werden. Ebenso wie ein Mensch mit einem durchschnittlichen sittlichen Niveau vor Diebstahl oder Mord instinktiv zurückschreckt, so kann durch das beobachtende Innehalten der Bereich solch spontan funktionierender Sicherungen systematisch erweitert und das sittliche Feingefühl gestärkt werden. Auch falsche Denkgewohnheiten kann man in gleicher Weise durch rechte und heilsame ersetzen.

Die Hemmung und Ausschaltung übler Impulse bringt auch eine größere Entfaltungsmöglichkeit für die guten Impulse mit sich. Jenes Gute in uns, das sich zunächst nur gegen innere Widerstände, nach einem Kampf der Motive, durchsetzen konnte, vermag sich nun frei und spontan zu äußern. Es wird mit größerer Verläßlichkeit auftreten und auch mit größerer Wirkungs- und Überzeugungskraft auf andere. Hier öffnet sich ein Weg, auf dem man allmählich das «vorbedachte Gute» (sasankhārika-kusala-citta) in ein spontanes (asankhārika) verwandeln kann, welches, nach der Wertskala des Abhidhamma, den ersten Rang einnimmt, sofern es mit Wissen verbunden ist. Es ist also nur die Spontaneität des Unheilsamen, die durch das beobachtende Innehalten gebrochen werden soll.

Bei einer weisen Benutzung der in der Buddha-Lehre gegebenen Hilfen, gibt es tatsächlich nichts, was dieser gewaltlosen, mit dem Innehalten beginnenden Satipatthāna-Methode widerstehen kann.

 

5. Verlangsamung

Die Übung im Innehalten setzt dem Ungestüm der Impulse und der unachtsamen Voreiligkeit eine bewußte Verlangsamung entgegen. Im raschen Tempo unserer Zeit erscheint es freilich kaum angängig, eine Funktionsverlangsamung in den Arbeitstag einzuführen. Doch gerade als Gegenmittel gegen die unheilsamen Folgen der «modernen Hast» ist es geboten, in der Freizeit Verlangsamung und Innehalten bewußt zu pflegen; dies allein schon aus rein praktischen und gesundheitlichen Erwägungen. Denn Verlangsamung hilft körperliche und geistige Spannungen lösen; sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Phasen eines komplexen Vorgangs oder einer schwierigen Aufgabe und macht damit solche Vorgänge oder Aufgaben besser verständlich und behandelbar, wodurch sich notwendig Leistungsfähigkeit und Erfolgsaussichten erhöhen.

Für die Zwecke unserer Geistesschulung aber bedeutet die Verlangsamung eine wirksame Schulung in größerer Besonnenheit, Sinnenzügelung und Konzentration. Doch darüber hinaus hat sie noch manche spezielle Bedeutung. Im Kommentar zur Lehrrede lesen wir z. B., wie die Funktionsverlangsamung der Wiedergewinnung eines verlorenen Meditationsobjektes dienstbar gemacht wird: Ein Mönch hatte seinen Arm schnell gebeugt, ohne dabei, seiner Übungsregel gemäß, an sein Meditationsobjekt gedacht zu haben. Als er dessen gewahr wurde, nahm er den Arm in die frühere Stellung zurück und wiederholte die Bewegung langsam und besonnen. Sein Meditationsobjekt war offenbar der Lehrreden-Text: «Beim Beugen und Strecken ist er wissensklar in seinem Tun».

Von besonderer Wichtigkeit ist die bewußte Funktionsverlangsamung für die Klarblicks-Erkenntnis. Es ist in hohem Grade die Ablaufsgeschwindigkeit der Einzelvorgänge, die den Glauben an die unveränderte Fortdauer und Einheitlichkeit eines komplexen Vorgangs fördert. Daher gehört zu den wirksamsten Übungen in strikten Satipatthāna-Kursen die Verlangsamung und Analyse des Gehvorgangs. Dabei merkt man, daß der einzelne Schritt keineswegs eine geschlossene Einheit ist, und es wird zu einem immer stärker werdenden Eindruck, zu beobachten, wie jeder der Teilvorgänge entsteht und schwindet und nicht etwa zur nächsten Phase übergeht.

Über den unmittelbaren Übungszweck hinaus werden die Verlangsamungsübungen auch einen ruhigeren Durchschnittsrhythmus im täglichen Handeln, Sprechen und Denken bewirken. Gedanken, Gefühle und Sinneneindrücke werden dadurch die Möglichkeit erhalten, voll auszuklingen, bis zu ihren letzten feinsten Vibrationen. Diese leisen Ausschwingungen werden gewöhnlich unterbrochen durch ein ungeduldiges Greifen nach neuen Eindrücken, bevor die alten voll aufgenommen oder innerlich verarbeitet wurden. Besonders bedenkliche Dimensionen hat dies im modernen Großstadtmenschen angenommen, dessen Unrast nach immer neuen Reizen, in immer schnellerer Aufeinanderfolge verlangt. Dieses Trommelfeuer von Eindrücken stumpft nun wieder seine Sensitivität derart ab, daß die neuen Reize zunehmend stärker und gröber sein müssen, um flüchtige Befriedigung zu geben. Die Folge davon ist, daß bei vielen Zivilisationsmenschen die Empfänglichkeit für feinere ästhetische Werte abgenommen hat und ebenso auch die Fähigkeit zu echter, natürlicher Freude, ohne künstliche Reize. An deren Stelle ist eine kurzatmige Erregung getreten, die keine nachhaltige ästhetische oder gefühlsmäßige Befriedigung hinterläßt. Die Verlangsamung und Beruhigung des Lebensrhythmus, das Tieferwerden des Lebensatems wird sich auch hier wohltätig und glückmehrend auswirken.

Die hektische Kurzatmigkeit des modernen Geisteslebens ist auch zu einem guten Teil verantwortlich für die zunehmende Oberflächlichkeit und Vergröberung des Zivilisationsmenschen und für die so bedenkliche Zunahme von Nervenerkrankungen jeden Grades. Wird diesen Symptomen kein Einhalt geboten, so kann all dies recht wohl der erste Anfang sein für ein Absinken des durchschnittlichen Bewußtseinsniveaus. Diese Gefahr droht allen denen in 0st und West, die der nivellierende Einfluß des modernen Zivilisationslebens innerlich schutzlos und widerstandslos findet. Die hier dargestellte Geistesschulung vermag es, im Menschen jenen inneren Selbstschutz zu entwickeln, der ihm helfen wird, diesen Gefahren zu begegnen.

Um es nochmals kurz zusammenzufassen, können wir sagen, daß das beobachtende Innehalten die Qualität des menschlichen Bewußtseins in vierfacher Weise beeinflussen und erhöhen kann: 1. seine Intensität, 2. seine Klarheit, 3. seinen Beziehungsreichtum, 4. seine Wahlfreiheit.

1. Ein Gegenstand innehaltender und anhaltender Achtsamkeit wird einen starken und lang währenden Eindruck hinterlassen, nicht nur auf die der jeweiligen Wahrnehmung unmittelbar folgende Gedankenserie, sondern auch in die Zukunft hinein. Es ist diese Wirkungskraft von deutlichen Wahrnehmungen und klaren Gedanken, die der Maßstab für den Intensitätsgrad des Bewußtseins ist.

2. Flüchtige Wahrnehmungen oder Erwägungen werden nur den ersten Eindruck oder nur den für den Ichbezug wichtigen erfassen und lassen viele Aspekte des Objekts unbeachtet oder unklar. Dies hat zur Folge, daß das Gesamtbild des materiellen oder geistigen Objekts fragmentarisch oder verschwommen bleibt. Die innehaltende und anhaltende Achtsamkeit aber ergibt ein deutliches und umfassendes Bild des Gegenstandes und erzieht so zu einer wachsenden Klarheit der Bewußtseinsfunktion.

3. Wenn das Gesamtbild des Objekts klar und umfassend ist, so wird es auch in seiner reichen Beziehungsvielfalt erscheinen. In künstlicher Isolierung kann ein Objekt nie ganz verstanden werden, sondern nur, wenn es als Teil eines Gefüges in seiner bedingten und bedingenden Natur begriffen wird. Neue Zusammenhänge zu sehen, ist die Hauptquelle wissenschaftlicher Entdeckungen und neuer philosophischer Einsichten. Es ist der Sinn für den Beziehungsreichtum von Dingen, Ideen und Situationen, der, über das rein Analytische hinaus, zu einer Verfeinerung der Bewußtseinsqualität und zur Stärkung seines schöpferischen Vermögens führt.

4. Das beobachtende Innehalten zeigt dem Menschen Wahlmöglichkeiten, die er nicht sehen kann, wenn er von Impulsen getrieben oder durch Vorurteile beeinflußt ist. Das Reine Beobachten erweitert somit den Bereich menschlicher Freiheit, indem es sittliche und andere für das Wohl des einzelnen und der Menschheit wichtige Entscheidungen ermöglicht, wo sonst blindes Vorurteil und eingeübte egozentrische Reaktionen die unbestrittene Herrschaft hatten.

 

6. Der Einfluß auf Gedächtnis, Unterbewußtsein und Intuition

Das beobachtende Innehalten fördert nicht nur die Entfaltung der vollbewußten Kräfte des Geistes, sondern vermag auch einen Einfluß auszuüben auf die Struktur des Unterbewußten und die von ihm genährten Funktionen des Gedächtnisses und der Intuition. Dies wird ermöglicht besonders durch die ersten drei der oben erwähnten Faktoren, nämlich durch die stärkere Intensität und Deutlichkeit, sowie den größeren Beziehungsreichtum der oberbewußten Vorgänge. Doch auch ihre durch die Ausweitung der Wahlfreiheit gewonnene größere «Souveränität» mag einen formativen Einfluß auf die unterschwelligen Vorgänge haben.

Wenn wir klar aufgefaßte Eindrücke achtsam bis zu ihrer Endphase verfolgen und diese langsam ausklingen lassen, so werden sie, wenn sie derart ins Unterbewußtsein sinken, sich gewiß unterscheiden von unklaren Eindrücken und solchen mit abrupter oder verschwommener Endphase. Wir dürfen es für sehr wahrscheinlich halten, daß sie auch innerhalb des Unterbewußtseins «artikulierter» und deutlicher sein werden und damit leichter verfügbar für das Oberbewußtsein. Solange sie freilich nur vereinzelt auftreten, mögen sie sich im Durchschnittsniveau des Unterbewußten verlieren und keinen merkbaren Einfluß haben. Nehmen aber diese deutlichen Eindrücke durch bewußte Förderung zu, so werden ihre unterschwelligen Auswirkungen allmählich im Bereich des Unterbewußten eine Sonderstellung einnehmen und immer mehr von den normalen und schwächeren unterbewußten Vorgängen anziehen und assimilieren können; und zwar je nach dem Grade ihrer Kraft und Deutlichkeit und der Weite ihres Assoziationskreises (für den der oben erwähnte «Beziehungsreichtum» ausschlaggebend ist). Eine weitere und ebenso wichtige Auswirkung wird sein, daß die unterbewußten unheilsamen und üblen Tendenzen schon auf dieser unterschwelligen Ebene einen stärkeren Widerstand finden und uns daher mit ihren Durchbrüchen ins Oberbewußte seltener überraschen werden. So mag die Übung in Rechter Achtsamkeit allmählich eine tiefreichende Strukturwandlung des Unterbewußten bewirken, ohne daß es dafür nötig ist, in diese Tiefenbereiche selber, etwa mit den Hilfsmitteln der Psychoanalyse, hinabzusteigen. Der Jünger der Achtsamkeitsübung wacht an der Schwelle und verläßt sie nicht.

Voll ausgereifte Eindrücke werden auch leichter und genauer erinnert werden: leichter wegen der größeren Bewußtseinsintensität, die stärkere «Engramme» erzeugt; genauer wegen der deutlichen Erfassung aller markanten Objektmerkmale, so daß die Gefahr von Entstellungen in der Rückerinnerung verringert wird. Und die Beziehungsvielfalt des ursprünglichen Wahrnehmungs und Bewußtseinsaktes wird beides bewirken, ein leichteres und ein genaueres Erinnern. Wir erwähnten früher, daß das Pāliwort sati sowohl Achtsamkeit wie auch Gedächtniskraft bedeutet, und wir haben nun hier eine kausale Beziehung zwischen beiden festgestellt, nämlich eine Stärkung der Gedächtniskraft durch Rechte Achtsamkeit.

Wenn immer größere Teile des Unterbewußten auf die Stufe leichterer Verfügbarkeit gehoben werden, so wird sich dadurch eine starke und immer breiter werdende Brücke zwischen Unterbewußtsein und Oberbewußtsein bilden. Auf dieser kann sich dann der «Verkehrsstrom» in beiden Richtungen ohne Hindernis und Stauung bewegen, so daß eine gegenseitige Befruchtung der beiden Gebiete stattfinden kann. Die derart enger gewordene Beziehung zwischen Ober- und Unterbewußtsein, die wir in diesem Bilde ausdrückten (und es soll nicht mehr als ein Bild sein), besagt in anderen Worten, daß in einem solchen Geiste die Intuition einen größeren Platz einnehmen wird. Denn Intuition entsteht ja nicht aus dem Nichts (obwohl sie in ihrer Plötzlichkeit als ein Gnadengeschenk erscheint), sondern erwächst aus dem dunklen Humusboden des Unterbewußten. Gute Nährstoffe für die Intuition werden jene vorerwähnten leichter verfügbaren Sonderbereiche des Unterbewußten bilden, die Erinnerungen bergen, welche aus deutlichen, voll ausgereiften Eindrücken stammen. Auch hier wird es die Beziehungsvielfalt solcher Eindrücke sein, die sich als fruchtbar erweist. Denn Erinnerungen, die auch die Zusammenhänge und Beziehungen des erinnerten Gegenstandes oder Gedankens einschließen, werden einen stärker organischen Charakter haben als Erinnerungen an unbezogene, isolierte Objekte. Sie werden eine ungleich stärkere Anregung sein für die intuitive Fähigkeit, die ja eben darin besteht, neue Zusammenhänge zu sehen und zu schaffen. Dies gilt auch für Errungenschaften in den Künsten und Wissenschaften, die gleichfalls durch das hier beschriebene Wachstum der intuitiven Fähigkeit befruchtet werden können.

Still, in den verborgenen unterschwelligen Tiefen vollzieht sich das Werk des Sammelns und Koordinierens der unterbewußten Niederschläge von Erfahrung und Erkenntnis, bis schließlich das Ergebnis reif ist, um als «Intuition» in Erscheinung zu treten. Der Durchbruch der Intuition kann manchmal ausgelöst werden durch ganz unscheinbare Alltagsgeschehnisse, sofern sie bei ihrem früheren Auftreten durch beobachtendes Innehalten an Bedeutungsgehalt und Anregungskraft gewonnen hatten. Das Innehalten und Stillehalten beim Reinen Beobachten vermag in den kleinen Dingen des Alltags ihre Tiefendimension zu entdecken und so der Intuition reiche Nahrung zu geben. Dies gilt auch für den intuitiven Klarblick (vipassanā), der auf dem buddhistischen Heilsweg das Hauptwerkzeug der inneren Befreiungsarbeit ist. Die buddhistische Überlieferung berichtet von vielen Fällen, wo Mönche den entscheidenden Durchbruch zum vollen Klarblick oder gar zur Heiligkeit nicht während der Übung ihres lang gepflegten Meditationsobjekts erfuhren, sondern bei ganz anderen Anlässen wie etwa dem Anblick eines Waldbrandes, einer Luftspiegelung, eines Schaumballs am Wasserrand oder auch beim stolpern auf dem Wege. Alltagsgeschehnisse, durch die es zur Auslösung der Intuition kommt, erhalten freilich ihre Bedeutung und Anregungskraft nur durch vorherige Vertrautheit des Übenden mit den kleinen Dingen des Alltags. Diese Vertrautheit aber entsteht eben durch ein nachdenkliches Innehalten, durch ein behutsames Ausklingenlassen der Eindrücke, wodurch sich ein unterschwelliges Reservoir von leicht verfügbaren Erinnerungen bildet. Wenn nun solche Eindrücke mit lehrgemäßen Erkenntnissen verbunden waren, so werden sie imstande sein, den intuitiven Klarblick anzuregen und ihn sogar bis zu seiner Reife in der Heiligkeit hinaufzuführen.

Das langsame Ausklingenlassen von Eindrücken bereitet aber nicht nur den Nährboden für die Intuition, sondern erleichtert auch ihr Festhalten, ihre Auswertung und sogar ihre Wiederholung. Seit jeher ist es eine Klage der Inspirierten gewesen, daß Intuitionen so schnell aufblitzen und schwinden, daß der nachhinkende Gedanke manchmal kaum noch ihren letzten Schimmer einfängt. Wenn aber der Geist im beobachtenden Innehalten und im langsamen Ausklingenlassen von Eindrücken geschult ist und wenn dadurch auch das Unterbewußte in der oben beschriebenen Weise beeinflußt wurde, so mag auch der intuitive Moment einen langsameren, stärkeren und voll ausklingenden Rhythmus gewinnen; und man wird ihn dann trotz seiner Flüchtigkeit klar erfassen und voll auswerten können. Wenn man dann dieses allmähliche Abklingen der Intuition mit behutsamer, gleichsam «schwingender» Achtsamkeit begleitet, so mag es manchmal möglich sein, diese feinen Gedankenschwingungen vor ihrem völligen Schwinden wieder ansteigen zu lassen und zu einem nochmaligen Höhepunkt zu führen.

Die volle Auswertung eines einzelnen Moments der Intuition mag von entscheidender Bedeutung sein für den Fortschritt auf dem Heilsweg der Buddha-Lehre. Wenn jedoch der geistige Zugriff zu langsam oder zu schwach ist, so mag eine flüchtige intuitive Klarblickserkenntnis entgleiten, bevor man sie voll für das Werk der inneren Befreiung auswerten kann; und es mag sein, daß eine solche Intuition sich erst nach Jahren oder überhaupt nicht mehr im gegenwärtigen Leben des Übenden wiederholt. Schulung im beobachtenden Innehalten aber wird es leichter machen, einen flüchtigen intuitiven Moment tief und voll zu erfassen.

Das Vorstehende wird es verständlich machen, warum die alten Meister als eine der Funktionen der Achtsamkeit «das Nicht Entgleitenlassen» (apilāpanatā) nannten.

 

D. UNMITTELBARKEIT DER ANSCHAUUNG

 

«Ich wollte, daß ich mich von allem entwöhnen könnte, daß ich von neuem sehen, von neuem hören, von neuem fühlen könnte. Die Gewohnheit verdirbt unsere Philosophie.»

Georg Chr. Lichtenberg

 

Wir haben bereits vorher von der impulsiven Spontaneität des Unheilsamen gesprochen. Wir sahen dabei, wie das beobachtende Innehalten einer Unmittelbarkeit der unheilsamen oder über eilten Reaktion entgegenwirkt und damit jener Unmittelbarkeit der Anschauung Raum gibt, von der wir jetzt sprechen wollen. Unter Unmittelbarkeit der Anschauung verstehen wir die Gewinnung eines unverfälschten Wirklichkeitsbildes, ohne daß sich dabei spontan auftretende Leidenschaften, emotionelle und intellektuelle Vorurteile oder verfälschende Assoziationen als «Mittelglieder» dazwischendrängen.

 

 

1. Die Macht der Gewohnheit

Spontane Reaktionen kommen nicht nur aus leidenschaftlichen Impulsen, sondern sind sehr häufig Ergebnis der Gewohnheit, und in dieser Form haben sie einen starken und besonders weitreichenden Einfluß zum Guten oder Schlechten. Ihr Einfluß zum Guten zeigt sich in der Kraft der Übung, mit der man einmal erworbene Fähigkeiten vor dem Verlust oder dem Vergessen sichert und sich ganz zu eigen macht. Der Einfluß zum Schlechten aber ist der Zwangscharakter der Gewohnheit, ihre lähmende und abstumpfende, unbeweglich und unbeeinflußbar machende Wirkung. Mit diesem negativen Aspekt wollen wir uns nunmehr befassen.

Gewohnheit breitet ihr dichtmaschiges Netz über weite Gebiete unseres Lebens und Denkens. Immer mehr sucht sie in dieses Netz einzufangen, selbst flüchtige Impulse. Denn auch ganz gelegentlich auftretende, zunächst nur schwache Launen, Neigungen oder Wünsche können durch ungehemmte Wiederholung zu schwer zu entwurzelnden Gewohnheiten werden, zu Automatismen, die nicht mehr in Frage gestellt werden. Fortgesetzte Wiederholung der Drangbefriedigung schafft Gewohnheit, die schließlich einen Zwangscharakter annimmt. Die betreffende Betätigung, an die man sich gewöhnt hat, mag zuerst gar nicht sehr lust- oder wertbetont gewesen sein. Beim ersten Vorkommen würde es oft gar keine Schwierigkeit gemacht haben, auf sie zu verzichten oder sie sogar mit ihrem Gegenteil zu vertauschen. Durch die Wiederholung aber wird Gewohntes allmählich gleichbedeutend mit «angenehm» und das sie unterbrechende Ungewohnte mit «unangenehm» oder «feindlich». Eine gewohnte Handlungs- oder Betrachtungsweise gilt instinktiv als «richtig», eine ungewohnte als «abwegig», oder «falsch». Die Bindung erfolgt hier weniger an die Funktions- oder Denkweise um ihrer selbst willen als an die Annehmlichkeit der Routine, an die ungestörte Fortsetzung einer liebgewordenen Gewohnheit. Die oft sehr beträchtliche Stärke dieser Bindung erklärt sich zunächst aus dem dem Körperlichen wie dem Geistigen innewohnenden Beharrungsdrang. Durch die Gewohnheit erhalten dann die betreffende Denk- und Handlungsweise und der darauf gerichtete Wille ein damit ursprünglich gar nicht verbundenes Gewicht, eine so starke Wertbetonung, daß man sie schließlich zu den unabdingbaren Ansprüchen seiner Persönlichkeit zählt. In dieser Überbetonung mag dann eine ursprüngliche belanglose Alltagsgewohnheit in tiefe Schichten des Unterbewußten sinken und kann so beträchtlich zur starren Festlegung des Charakters und zur Einengung seiner Entwicklungsmöglichkeiten beitragen. Es ist also die Macht der Gewohnheit, die hier, und oft ganz unnötigerweise, eine neue Fessel geschmiedet, neue Zuneigungen und Abneigungen erzeugt und damit Keime für neues Leiden gepflanzt hat.

In der Lehrrede von den «Grundlagen der Achtsamkeit» heißt es: «und welche Fessel, durch diese beiden (nämlich Sinnenorgane und Objekt) bedingt, entsteht, auch die kennt er. Wie es zur Entstehung einer nicht entstandenen Fessel kommt, auch das kennt er.» Bei Erwägung dieser Textworte möge man auch an den bedeutenden Anteil denken, den ungeprüfte Gewohnheiten an der Neubildung und Stärkung innerer Fesseln haben.

Ein Überhandnehmen gedankenlos angenommener Gewohnheiten des Handelns und Denkens bedeutet eine große Gefahr für die Formbarkeit und die Entwicklungsmöglichkeiten des Geistes, zumal die Gewohnheitsbildung ohnehin einen starken Expansionsdrang hat, und dies besonders in einer Zeit zunehmender Arbeitsteilung und Standardisierung. Gewohnheitsbildung ermöglicht eine Vereinfachung der Funktionsweise, und das macht sie natürlich in einer immer komplexer werdenden Zivilisation sehr anziehend. Doch der Expansionsdrang der Gewohnheitsbildung hat auch tiefe Wurzeln in der Natur des Bewußtsein. Viele aktive Bewußtseinszustände eines gewissen Stärkegrades haben nämlich eine, freilich nie ganz unbestrittene, Tendenz, sich zu wieder holen. Diese Wiederholungstendenz kommt nicht nur aus dem oben erwähnten Beharrungsdrang, sondern auch aus einer Art «Willen zur Macht», nämlich aus dem Bestreben mancher Bewußtseinszustände, stärkeren Einfluß zu gewinnen; aus peripherischen und untergeordneten zu, sei es auch noch so bescheidenen, Zentren zu werden, denen sich andere, schwächere Tendenzen anpassen und unterordnen müssen. Es ist das Streben solcher «machtlüsterner» Bewußtseinszustände, zu einer vorherrschenden Charaktereigenschaft zu werden, die häufig zum Zentrum einer neuen Persönlichkeitsbildung in einer künftigen Existenz wird. Vergleichsweise denke man hierbei an den Dominierungswillen ehrgeiziger und egozentrischer Personen und, als biologische Analogie, an den Expansionsdrang krankhafter Zellwucherungen wie Krebs.

Im menschlichen Geist gibt es zahllose Keime für die Bildung neuer Persönlichkeitszentren im Ablauf der Wiedergeburten, und wir sollten geloben, all diese potentiellen Lebewesen in uns vom Triebrad des Daseinskreislaufs zu erlösen, wie es der Sechste Zenpatriarch ausdrückte.

Bei solch doppelt tiefer Verwurzelung im Beharrungsdrang und im Machtwillen bedarf die Gewohnheitsbildung keineswegs immer einer absichtlichen Förderung, sondern kann sich auch auswirken, wenn die betreffende körperliche oder geistige Tätigkeit gedankenlos unternommen wird oder, wenn sie unheilsamen Charakter hat, ohne inneren Widerstand bleibt. Aus unbeachteten Keimen kleiner schlechter Gewohnheiten ist vieles entstanden, das zu einer starken, schwer zu brechenden Fessel wurde.

Das Innehalten zum und beim Reinen Beobachten gibt die Möglichkeit für eine unmittelbare Anschauung der jeweiligen inneren oder äußeren Situation und damit für neue, durch Wiederholungstendenz und Gewohnheit unbeeinflußte Entscheidungen. So kann verhindert werden, daß Handlungsweisen und Geisteshaltungen sich rein automatisch wiederholen und das Reservoir unterbewußter Tendenzen sich dadurch fortwährend mit neuen zeugungskräftigen Keimen des Unheilsamen füllt. Denn schon wenn diese Keime die Widerstandserfahrung des Innehaltens mit sich nehmen, werden sie viel von ihrer Zeugungskraft und Wiederholungstendenz eingebüßt haben, und es wird leichter sein, ihrer beim Wiederauftreten Herr zu werden.

Man mißverstehe nicht das hier Gesagte: Gewohnheit, die «Amme des Menschen», kann und soll nicht etwa ganz aus unserem Leben verschwinden. Bedeutet es doch, besonders unter dem Druck heutiger Lebensanforderungen, eine beträchtliche Vereinfachung und Kraftersparnis, wenn man kleine Alltagsverrichtungen und die routinehaften Teile beruflicher Arbeit gleichsam mit halber Aufmerksamkeit und doch zuverlässig ausführen kann. Doch auch die Gleichmäßigkeit gewohnter Arbeitsleistung hat ihren toten Punkt, an dem sie nachzulassen beginnt. Auch Routine zeigt Ermüdungserscheinungen, wenn sie allzu lange ohne den belebenden Antrieb eines neuen Interesses geblieben ist. Nach der wohltätig vereinfachenden und manchmal gar die Leistungen verbessernden «Macht der Gewohnheit» stellt sich dann ihr abstumpfender und lähmender Einfluß ein.

Die «kleinen Gewohnheiten» sollen also keineswegs ganz «abgeschafft» werden. Doch wir sollten uns regelmäßig vergewissern, daß wir die Herrschaft über sie behalten, d.h. sie auch aufgeben oder ändern können, wenn wir es wünschen. Dies geschieht dadurch, daß wir von Zeit zu Zeit das Reine (d.h. durch Gewohnheiten unbeeinflußte) Beobachten auf die betreffende Handlungs- oder Denkweise lenken und so wieder zu einer Unmittelbarkeit der Anschauung gelangen. Hierdurch werden altvertraute Dinge und auch Menschen, deren man schon fast überdrüssig wurde, wieder frisch und eindruckskräftig. Man gewinnt wieder Abstand von ihnen und von der eigenen Reaktion auf sie. Man erinnert sich wieder an die Möglichkeit, daß man Tätigkeiten auf andere Weise ausüben, Dinge und Menschen anders betrachten und anders als bisher auf sie reagieren kann. Die so gewonnene Unmittelbarkeit der Anschauung kann und soll man dann benutzen, um diese oder jene schlechte Angewohnheit auch tatsächlich zu brechen und altgewohnte Werturteile über Menschen und Dinge zu prüfen und, wenn nötig, zu revidieren. Je früher man damit beginnt, um so leichter wird diese Entwöhnung gelingen. Die so erworbene Fähigkeit, kleine Gewohnheiten aufzugeben, wird ihre Wichtigkeit erweisen, wenn es einmal gilt, wirklich gefährliche üble Gewohnheiten zu entwurzeln oder sich mit tief einschneidenden Lebensveränderungen abzufinden. Die Auflockerung und Verbeweglichung des Alltagslebens und Alltagsdenkens durch gelegentliche Entwöhnungen und durch wieder gewonnene Unmittelbarkeit wird einen wohltuenden Einfluß auf die Frische des Lebensgefühls und der geistigen Tätigkeit eines sich in solcher Weise Schulenden ausüben. In diesen aufgelockerten Boden des Geistes wird es auch leichter sein, den Samen meditativer Geistesschulung zu pflanzen und ihn zu kräftigem Wachstum zu bringen.

 

2. Assoziierendes Denken

Die Bildung von gewohnheitsmäßigen Einstellungen, Werturteilen und Entscheidungen erfolgt auf dem Wege eng verknüpfter und automatisch ablaufender Gedankenassoziationen. Von den Dingen und Ideen, Situationen und Menschen, denen wir begegnen, wählen wir gewisse Merkmale und Kennzeichen aus und assoziieren, d.h. verknüpfen diese mehr oder weniger eng mit unseren Reaktionen darauf. Bei einer Wiederholung gleicher oder ähnlicher Eindrücke werden diese zunächst mit den früher ausgewählten Merkmalen assoziiert und darauf mit den damaligen Reaktionen. Jene Merkmale dienen also als Signale, welche stereotype Reaktionen und Reaktionsketten auslösen. Diese Funktionsweise erspart dem Menschen die immer wieder erneute Anstrengung, jede einzelne Phase einer Reaktionskette sorgsam zu prüfen und einzeln zu entscheiden. Ebenso wie bei eingeübten Handgriffen bedeutet das eine beträchtliche Vereinfachung und macht Kräfte frei für andere Aufgaben. In der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes war daher das assoziative Denken ein großer Fortschritt gegenüber einer Wahrnehmungswelt isolierter Eindrücke. Es war ein wichtiger Schritt, denn er ermöglichte es dem Menschen, aus Erfahrungen zu lernen, allgemeine Schlüsse aus ihnen zu ziehen, und das führte ihn auch zur Entdeckung und Anwendung kausaler Gesetzmäßigkeit.

Doch neben diesen großen Vorteilen birgt das assoziative Denken auch beträchtliche Schwächen und Gefahren, wenn es ohne sorgfältige Prüfung und in falscher Weise angewandt wird.

1. Vereinzelte irrige oder unvollständige Beobachtungen sowie Fehl- und Vorurteile können sich durch den Mechanismus des assoziierenden Denkens leicht wiederholen und zu Gewohnheitsreaktionen werden.

2. Die Beschränkung auf Teilaspekte im Beobachten und Beurteilen, die für die Zwecke einer bestimmten Situation ausreichend war, kann sich als unzulänglich und nachteilig erweisen, wenn sie, mechanisch assoziierend, auf andere Umstände angewandt wird.

3. Gar nicht selten sind auch Fälle, in denen eine starke instinktive Abneigung gegen Dinge, Orte oder Menschen empfunden wird, bloß weil sie in irgendeiner Weise an unangenehme Erfahrungen erinnern, ohne aber mit ihnen direkt verbunden zu sein. Solche oberflächlichen und abwegigen Assoziationen können starke und folgenschwere Vorurteile erzeugen.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr unsere assoziationsbedingten Gewohnheiten und gewohnheitsformenden Assoziationen einer regelmäßigen kritischen Prüfung bedürfen. Eben dies ist wiederum eine wichtige Funktion des Reinen Beobachtens. Wenn man in unmittelbarer Anschauung aus dem Wiederholungszwang der gewohnten Perspektiven heraustritt, gibt man den Dingen gleichsam die Möglichkeit, sich voll auszusprechen, und man bekommt dadurch vieles zu hören, was bisher von der monotonen Melodie des reinen Assoziierens übertönt wurde.

Angesichts der oben genannten Gefahren, die einem ungeprüften assoziierenden Denken innewohnen, wird es nun besser verständlich sein, warum der Buddha so oft und eindringlich riet, selbst einfachen Wahrnehmungsvorgängen bis auf den Grund zu gehen. So heißt es im Sutta-Nipāta:

«Wahrnehmung verstehend, kann die Flut er kreuzen,
Ein Weiser, der von jedem Greifen unbefleckt.»

Vers 779

«Was immer du auch wahrnimmst,
Sei es oben, unten oder quer inmitten,
Ergötzen hieran meide und das Eingewöhnen.»

Vers 1055

Wenn die Achtsamkeit schon an der Eingangspforte der Sinneneindrücke als Wächter eingesetzt wird, so wird man die Zugang Heischenden leichter prüfen und unerwünschte Eindringlinge fernhalten können. So kann die ursprüngliche Helligkeit des Geistes (pabhassaram cittam) gewahrt und können die «hinzukommenden Trübungen» ausgeschaltet werden (Anguttara-Nikāya I).

Die Lehrrede von den «Grundlagen der Achtsamkeit» bietet eine umfassende Schulung des Geistes in unmittelbar frischer und unverfälschter Anschauung der Wirklichkeit, die das Körperliche und das Geistige des Menschen sowie seine ganze Erfahrungswelt erfaßt. Die Anwendung dieser Betrachtungsweise auf sich selber (ajjhatta), auf andere (bahiddhā) und auf beide (siehe Seite 54) hilft, falsche Vorstellungen zu entdecken und künftig zu meiden, wie sie sich durch irriges assoziatives Denken und unzutreffende Analogien ergeben.

Eine Hauptquelle falscher Assoziationen sind die vier Fehlurteile (vipallāsa, wtl.: Verkehrtheiten), welche 1. Vergängliches für beständig, 2. Leidhaftes für Glück, 3. Ich- und Substanzloses für ein beharrendes Selbst oder substanzhaft und 4. Unreines und Unschönes für rein und schön halten. Diese verkehrten Betrachtungsweisen entstehen durch einseitige und unvollständige Auswahl der an Dingen, Menschen und Ideen beobachteten Merkmale oder durch deren gänzlich falsche Auffassung sowie durch die Assoziation davon mit den eigenen Leidenschaften und falschen Theorien. Wenn wir aber mit Hilfe des Reinen Beobachtens unsere Vorstellungen allmählich von diesen vier Fehlurteilen «dissoziieren», werden wir stetigen Fortschritt in der unmittelbaren und unverfälschten Anschauung der Wirklichkeit machen können.

 

3. Ergriffenheit

Die Ergriffenheit (samvega) beim wahrhaft Ergreifenden ist die auslösende Kraft, welche im Jünger einer geistigen Schulung das Zaudern und den Beharrungsdrang überwindet und dem Werk innerer Befreiung Antrieb, Ernst und Stetigkeit zu verleihen vermag.

Diese Ergriffenheit erwächst in der Klarblicksübung aus der unmittelbaren Anschauung der eigenen körperlichen und geistigen Vorgänge, worin sich ihre Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Ichlosigkeit in direkter Erfahrung und mit wachsender Eindruckskraft offenbart.

Auch die Außenwelt, unsere nächste Umgebung, ist voll von ergreifenden Dingen, doch die meisten Menschen sehen sie nicht mehr, weil Gewohnheit ihre Augen und ihr Herz stumpf gemacht hat. Auch das intellektuelle und gefühlsmäßige Erlebnis der Buddha-Lehre wird allmählich seine ursprüngliche Frische und anregende Kraft verlieren, wenn man dieses Erlebnis nicht immer wieder aus der Fülle der Wirklichkeit variiert und erneuert. Dies eben vermag die aus dem Reinen Beobachten gewonnene Unmittelbarkeit der Anschauung. Sie belebt aufs neue die gewohnten Eindrücke, so daß sie wieder zu uns zu sprechen beginnen. Bei so neugewonnener und wachgehaltener Empfänglichkeit wird dann auch der wiederholte Anblick gewohnten Leidens nicht mehr auf ein abgestumpftes und verhärtetes Gemüt treffen, sondern wird gerade durch die Wiederholung ein verstärkter Anlaß zur Ergriffenheit werden. Es mag der langvertraute Bettler an der Straßenecke sein, ein toter Schmetterling oder die Krankheit eines Freundes, welche in uns Ergriffenheit auslösen und den ernsten Entschluß wecken, den Pfad der Leidensaufhebung entschlossen zu gehen.

Wir kennen den schönen alten Bericht von den «Ausfahrten» des Prinzen Siddhattha, des künftigen Buddha, auf denen er die entscheidenden Begegnungen erfuhr mit Alter, Krankheit und Tod. Dies mag recht wohl ein getreuer Tatsachenbericht sein. Denn wir wissen, daß im Leben großer Menschen sich häufig symbolhafte Geschehnisse und Begegnungen ereignen, die dem Handeln und Denken jener Großen eine entscheidende Wendung geben. Ihr ganzes Leben erhält dadurch einen symbolhaften Charakter, der ihm nicht erst durch Interpreten verliehen zu werden braucht. Doch, ohne daß dadurch der tiefe Sinn und Wahrheitsgehalt jenes alten Berichtes beeinträchtigt wird, mag es sich auch so abgespielt haben, daß der junge Prinz schon vorher Alte, Kranke und Tote gesehen hatte. Doch in der sorgsam gewahrten, künstlichen Abgeschlossenheit seines «kleinen Glückes», in die ihn sein Vater, d.i. die ererbte Gewohnheit, versetzte, mag solch Anblick des Leidens nur sein fleischliches Auge getroffen, nicht aber sein Herz berührt haben. Erst nach dem Ausbrechen aus der Gewohnheit - dem goldenen Käfig seines Palastlebens - sah er das Leiden gleichsam zum ersten Male und wurde jener Ergriffenheit fähig, die ihn auf den Pfad der Buddhaschaft drängte.

Auch an jeden von uns Heutigen wendet sich jener alte Bericht, und dies ist eine seiner Botschaften an uns: Je unmittelbarer, klarer und tiefer unser Geist und Herz auf die Leiderfahrung reagieren, die aus den gewohnten Alltagsvorgängen zu uns spricht, desto weniger wird es für den sie achtsam Verstehenden ihrer Wiederholung bedürfen, sei es in diesem Leben oder in künftigen Geburten. Daher sagten die alten Meister der Lehre:

«Dies eben ist die Wirkensstätte,
Hier öffnet sich der Heilige Pfad,
Und viele Quellen der Ergriffenheit sind hier.
So laß' ergreifen dich von Dingen, die ergreifend sind,
Und bist ergriffen du, nimm auf den rechten Kampf!»

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du, nimm auf den rechten Kampf!»

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