Zurueck Milindapañha, Teil 2

2. Kapitel 

 

Mil. 2.3.2. Uranfangslosigkeit des Daseins

 

Der König sprach: «Du sagtest da eben, ehrwürdiger Nāgasena, ein erster Anfang sei undenkbar. Erläutere mir dies!»

«Nimm an, o König, ein Mann pflanzte ein kleines Samenkorn in den Boden, und der Keim ginge auf, wüchse und würde nach und nach größer und entfaltete sich zu einem Baume, der Früchte brächte. Und gesetzt, der Mann nähme stets den Samen aus diesen Früchten heraus und pflanzte ihn wieder, sodaß sich immer und immer derselbe Vorgang wiederholte. Gäbe es da wohl ein Ende in dieser ganzen Entwicklungsreihe?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Ebenso auch, o König, ist ein erster Anfang des Zeitlaufes undenkbar.»

«Gib mir ein weiteres Beispiel!»

«Aus der Henne, o König, kommt das Ei und aus dem Ei wieder eine Henne und aus dieser wieder ein Ei. Gibt es da wohl ein Ende in dieser ganzen Entwicklungsreihe?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Ebenso nun aber auch, o König, ist ein erster Anfang des Zeitlaufes undenkbar.»

«Gib mir noch ein Beispiel!»

Und der Ordensältere zog auf dem Boden einen Kreis und sprach zum König Milinda: «Gibt es wohl, o König, ein Ende dieses Kreises?»

«Nein, o Herr.»

«Gerade so auch, o König, hat der Erhabene folgende Kreisläufe gelehrt: Durch Sehorgan und Formen bedingt entsteht das Sehbewußtsein. Die Vereinigung der drei ergibt den Sinneneindruck. Durch den Sinneneindruck bedingt ist das Gefühl, durch das Gefühl bedingt ist das Begehren, durch das Begehren bedingt ist das Anhaften, durch das Anhaften bedingt ist das Wirken (kamma), und aus dem Wirken entspringt künftighin wieder das Sehorgan. Und ebenso verhält es sich mit den übrigen Sinnen.

(Der als heilsames oder unheilsames Wirken (kamma) sich darstellende bejahende Wille (cetanā), im Paticca-samuppāda mit sankhāra oder Kammaformation bezeichnet, ist die Ursache der jedesmaligen Wiedergeburt als ihres Ergebnisses (vipāka), der Same, aus dem nach dem Tode jedesmal wieder neues Leben emporkeimt. Es ist also der Trieb zum Sehen, der das Sehen bejahende Wille, der sich nach dem Tode die zum Sehen nötigen Organe jedesmal wieder neu schafft, und dementsprechend verhält es sich mit der Entstehung der übrigen Sinnesorgane. Über die Erlösung vom leidvollen Kreislauf des Samsāra siehe Seite 95f: Erlöschung des Begehrens (tanhā) und Anhaftens (upādāna). Ausführliche Anweisung für die diesbezügliche geistige Übung gibt Nyanaponika: Die Wurzel von Gut und Böse, Verlag Christiani, Konstanz 1981.)

Gibt es da wohl ein Ende in dieser ganzen Entwicklungsreihe?»

«Nein, o Herr.»

«Ebenso aber auch, o König, ist ein erster Anfang des Zeitlaufes undenkbar.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.3. Der erste Anfang

 

Der König sprach: «Wenn du sagst, ehrwürdiger Nāgasena, ein erster Anfang sei undenkbar, was soll denn da hierbei mit dem <ersten Anfang> gemeint sein?»

«Der erste Anfang des vergangenen Zeitlaufes, o König.»

«Wie nun aber, o Herr: sollte bei allen Dingen ein erster Anfang undenkbar sein?»

«Bei einigen wohl, o König, bei anderen aber nicht.»

«Welche aber sind diese, o Herr?»

«Ein erster Anfang, o König, wo es ganz und gar nirgends und in keiner Form Nichtwissen gegeben hätte, ein solcher erster Anfang ist undenkbar.

«Wenn nun aber, o Herr, etwas, ohne vorher gewesen zu sein, entsteht und alsbald wieder verschwindet, fällt es denn da nicht wohl der völligen Vernichtung anheim, da es doch an beiden Enden abgeschnitten ist?»

«Kann denn nicht etwas, das an beiden Enden abgeschnitten ist, vielleicht doch noch wachsen?»

«Gewiß, o Herr, das mag schon sein. Doch das wollte ich nicht wissen, sondern, ob es über den Endpunkt hinaus weiter wachsen kann.»

«Freilich kann es das.»

«Nun, so gib mir ein Beispiel!»

Und der Ordensältere wiederholte ihm das Gleichnis vom Baume und dem Samen und sagte, daß die Daseinsgruppen (Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein) der Samen seien, aus dem der Leidensbaum immer wieder von neuem emporkeime.

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.4. Der Gebilde Entstehung

 

Der König sprach: «Gibt es wohl, ehrwürdiger Nāgasena, Gebilde, die eine Entstehung haben?»

«Gewiß, o König. Es gibt Gebilde, die eine Entstehung haben.»

(Richtig wäre es gewesen, zu sagen, daß alle Gebilde eine Entstehung haben)

«Welche aber sind dies, o Herr?»

«Wo es ein Sehorgan und Formen gibt, da gibt es auch Sehbewußtsein; wo aber Sehbewußtsein da Seheindruck, wo Seheindruck da Gefühl, wo Gefühl da Begehren, wo Begehren da Anhaften, wo Anhaften da der Werdeprozeß, wo der Werdeprozeß da Geburt, und wo Geburt ist, da entstehen Alter und Tod, Sorge, Klage, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung. Auf diese Weise kommt es zur Entstehung dieser ganzen Leidensfülle. Ohne das Sehorgan und die Formen aber gibt es kein Sehbewußtsein, ohne Sehbewußtsein keinen Seheindruck, ohne Seheindruck kein Gefühl, ohne Gefühl kein Begehren, ohne Begehren kein Anhaften, ohne Anhaften keinen Werdeprozeß, ohne Werdeprozeß keine Geburt, und wo keine Geburt ist, da können Alter und Tod, Sorge, Klage, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung nicht mehr entstehen. Auf diese Weise findet die Aufhebung dieser ganzen Leidensfülle statt.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.5. Allmähliche Entstehung

 

Der König sprach: «Gibt es wohl, ehrwürdiger Nāgasena, Gebilde, die ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten?»

«Nein, o König, alle Gebilde treten durch ein allmähliches Werden ins Dasein.»

«Gib mir ein Beispiel!»

«Was glaubst du, o König: ist wohl dieses Haus, in welchem du eben sitzt, ohne ein allmähliches Werden ins Dasein getreten?»

«Nicht doch, o Herr. Es befindet sich hier nichts, das ohne ein allmähliches Werden ins Dasein getreten wäre. Alles hatte seine allmähliche Entstehung. Dieses Holz zum Beispiel ist im Walde entstanden, o Herr, dieser Ton in der Erde, und durch die entsprechende Arbeit von Männern und Frauen ist dieses Haus zustande gekommen.»

«Ebensowenig, o König, gibt es Gebilde, die ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten, sondern sie alle haben eine allmähliche Entstehung.»

«Gib mir ein weiteres Beispiel!»

«Gleichwie, o König, die in den Boden gepflanzten Samen und Gewächse nach und nach wachsen, größer werden und sich zu Bäumen entfalten, die Blüten und Früchte tragen, und somit jene Bäume nicht ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten, sondern eine allmähliche Entstehung haben: in genau derselben Weise, o König, gibt es keine Gebilde, die ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten, sondern sie alle haben eine allmähliche Entstehung.»

«Gib mir noch ein weiteres Beispiel!»

«Da, o König, nimmt zum Beispiel der Töpfer den Lehm aus der Erde und fertigt mancherlei Gefäße an. Diese Gefäße treten also nicht ohne ein allmähliches Werden ins Dasein, sondern haben eine allmähliche Entstehung. In genau derselben Weise, o König, gibt es keine Gebilde, die ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten, sondern sie alle haben eine allmähliche Entstehung.»

«Gib mir noch ein anderes Beispiel!»

«Nimm an, o König, zu einer Laute fehlten Steg, Fell, Resonanzkasten, Rumpf, Hals, Saiten und Bogen, und keiner nehme sich die nötige Mühe. Könnte da wohl ein Lautenton entstehen?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Wenn nun aber diese Dinge alle da sind, könnte da wohl ein Lautenton entstehen?»

«Gewiß, o Herr.»

«Oder wenn zu einem Feuerbohrer Reibholz, Quirl, Schnur, Matrize und Zunder fehlen, und keiner sich die nötige Mühe nimmt, kann da wohl Feuer entstehen?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Wenn nun aber, o König, diese Dinge alle vorhanden sind, könnte da wohl Feuer entstehen?»

«Gewiß, o Herr.»

«Oder wenn es einem an einem Brennglas, an Sonnenstrahlen und an Zunder fehlt, kann man da wohl Feuer erzeugen?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Wenn nun aber, o König, diese Dinge alle vorhanden sind, kann man da wohl Feuer erzeugen?»

«Gewiß, o Herr.»

«Und könnte, o König, ohne den Spiegel, die Helligkeit, und das Gesicht der Person dieselbe sich widerspiegeln?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Wenn aber diese Bedingungen alle erfüllt sind, kann da wohl das Spiegelbild der Person entstehen?»

«Gewiß, o Herr.»

«Ebenso auch, o König, gibt es keine Gebilde, die ohne ein allmähliches Werden ins Dasein treten, sondern sie alle haben eine allmähliche Entstehung.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.6. Keine Seele im Innern

 

Der König sprach: «Gibt es wohl, o Herr, einen Wahrnehmer (vedagu)?»

«Was verstehst du unter diesem Wahrnehmer, o König?»

«Dieses Seelenwesen im Innern, o Herr, das mit dem Auge die Formen erblickt, mit dem Ohre die Töne vernimmt, mit der Nase die Düfte riecht, mit der Zunge die Säfte schmeckt, mit dem Körper die Tastobjekte tastet und mit dem Geiste die Geistobjekte wahrnimmt. Gerade nämlich wie wir, die wir hier in diesem Palaste sitzen, je nach Belieben durch irgend eines der Fenster blicken können - sei's durchs östliche, westliche, nördliche oder südliche - ebenso, o Herr, schaut dieses im Innern befindliche Seelenwesen je nach Belieben durch dieses oder jenes der Sinnestore.»

Der Ordensältere aber sprach: «Die fünf Sinnentore will ich dir erklären, o König. So höre denn und sei recht aufmerksam! Wenn es im Innern ein Seelenwesen gäbe, das durch das Auge die Formen erblickt gerade wie wir hier durch irgend eines der Fenster die Gegenstände erblicken - so müßte dieses Seelenwesen ebenfalls durch Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist die Formen erblicken können. Und es müßte imstande sein, durch jedes einzelne der Sinnestore ebenfalls Töne zu vernehmen, Düfte zu riechen, Säfte zu schmecken, Tastobjekte zu tasten und Geistobjekte wahrzunehmen.»

«Das kann es freilich nicht, o Herr.»

«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren! Gerade wie wir, o König, die wir hier in diesem Palaste sitzen, wenn wir die Fenster öffnen, bei vollem Tageslichte die Gegenstände da draußen deutlicher erkennen: ebenso auch müßte dieses im Innern befindliche Seelenwesen, wenn die fünf Sinnentore herausgenommen würden, bei vollem Tageslichte besser die Gegenstände wahrnehmen können.»

«Das kann es freilich nicht, o Herr.»

«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren! Wenn da zum Beispiel dieser Dinna hinausgehen und sich (vor die offene Tür) in die Vorhalle stellen möchte, wüßtest du da wohl, o König, daß dem so ist?»

«Freilich wüßte ich das, o Herr.»

«Und wenn nun dieser selbe Dinna, o König, wieder hereinkommen und sich vor dich stellen möchte, wüßtest du da wohl ebenfalls, daß dem so ist?»

«Freilich, o Herr.»

«Wenn man nun, o König, einen geschmackbesitzenden Gegenstand auf die Zunge legen sollte, wüßte da wohl jenes im Innern befindliche Seelenwesen, ob derselbe sauer, salzig, bitter, scharf, herb oder süß ist?»

«Ja, o Herr, das wüßte es.»

«Wenn nun aber jener Gegenstand sich im Magen befinden möchte, könnte da wohl jenes Seelenwesen seinen Geschmack erkennen?»

(Der Geschmack, als rein subjektive Empfindung, ist bedingt durch Einwirkung einer stofflichen Lösung auf die Endorgane der Geschmacksnerven, ohne daß etwa bei diesem Vorgange irgend ein im Körper hausendes Ich-Wesen beteiligt wäre, das vermittelst des Schmeckorganes den Geschmack empfindet. Man sagt zwar «Ich schmecke», doch ist es in Wirklichkeit kein «Ich», welches schmeckt - ein «Ich» gibt es als etwas beständiges überhaupt nicht - sondern eben ein bloßes Schmecken findet statt. Bloße momentane Sinnesempfindungen und damit gleichzeitig entstehende und vergehende geistige Elemente, wie Gefühl, Wahrnehmung, Wille usw. sind anzutreffen aber keine Wesenheit, keine Person, kein Ich, das etwa der Besitzer derselben wäre, oder ihr Ausübender.)

«Das freilich nicht, o Herr.»

«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren. Nimm an, o König, ein Mann brächte hundert Töpfe voll Honig und füllte denselben in ein Faß. Darauf bände er einem anderen den Mund zu und steckte ihn in dieses Faß voll Honig. Könnte da wohl jener andere erkennen, ob diese Masse süß ist oder nicht?»

«Gewiß nicht, o Herr.»

«Und warum nicht?»

«Weil ja gar kein Honig in seinen Mund eingedrungen ist.»

«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren.»

«Ich bin außerstande, mit einem solchen Gegner wie dir zu diskutieren. So erkläre mir denn, bitte, die Sache!»

Und der Ordensältere unterwies den König Milinda in einer mit der höheren Lehre (abhidhamma) verbundenen Darstellung, indem er sprach: «Die Entstehung des Sehbewußtseins, o König, ist durch das Sehorgan und die Formen bedingt. Und die gleichzeitig damit entstehenden Erscheinungen, wie Sinneneindruck, Gefühl, Wahrnehmung, Wille, Sammlung, Lebenskraft und Aufmerksamkeit,( Dies sind, dem Abhidhamma zufolge, die sieben jedem Bewußtsein gemeinsamen Geistesfaktoren (cetasika)) entstehen in Abhängigkeit davon. Und genau so verhält es sich mit den übrigen Sinnen. Ein erkennendes Seelenwesen aber ist da nicht anzutreffen.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.7. Sehbewußtsein und geistiges Bewußtsein

 

Der König sprach: «Wo immer Sehbewußtsein aufsteigt, o Herr, steigt da auch stets geistiges Bewußtsein auf?»

 

(Mit Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck- und Tastbewußtsein sind gemeint die durch die gleichzeitig bestehende äußere Sinnestätigkeit bedingten Sinnesempfindungen, unter dem geistigen Bewußtsein (mano-viññāna) dagegen die von der Anwesenheit der äußeren Sinnestätigkeit unabhängigen, rein inneren Vorstellungen. So ist z.B. das «Sehbewußtsein» (cakkhu-viññāna) nur möglich, so lange die Augen geöffnet sind und die physische Lichtquelle gegeben ist. Die bei geschlossenen Augen oder im Dunkeln auftauchenden Bilder, also auch die Träume und Gesichtshalluzinationen, werden bloß mit dem «Geistigen Bewußtsein» (mano-viññāna) wahrgenommen.)

 

«Ja, o König. Wo immer Sehbewußtsein ist, da ist auch geistiges Bewußtsein.»

«Wie nun aber, o Herr? Steigt da zuerst das Sehbewußtsein auf und dann das geistige Bewußtsein, oder aber zuerst das geistige Bewußtsein und dann das Sehbewußtsein?»

«Zuerst, o König, steigt das Sehbewußtsein auf und dann das geistige Bewußtsein.»

«Wie? Da befiehlt wohl gewissermaßen, o Herr, das Sehbewußtsein dem geistigen Bewußtsein, stets dort aufzusteigen, wo es selber aufsteigen wird? Oder benachrichtigt etwa das geistige Bewußtsein das Sehbewußtsein, daß es stets dort aufsteigen will, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt?»

«Nein, o König. Keinerlei gegenseitige Verständigung findet zwischen beiden statt.»

«Wie aber kommt es, o Herr, daß das geistige Bewußtsein stets dort aufsteigt, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt?»

«Weil da eine Neigung besteht, o König, ein Tor, eine Gewohnheit, eine Übung.»

«Wie aber kommt es, o Herr, daß infolge einer bestehenden Neigung das geistige Bewußtsein stets dort aufsteigt, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt? Erläutere mir dies!»

«Was meinst du, o König, wo das Wasser hinfließt, wenn es regnet?»

«Wo immer eine Neigung des Bodens besteht, dort fließt es hin.»

«Wenn es nun aber späterhin wieder regnet, wo fließt das Wasser dann hin?»

«Genau dorthin, wo das frühere Wasser hingeflossen ist.»

«Wie? Da befiehlt wohl, o König, das frühere Wasser dem späteren Wasser stets dort hinzufließen, wo es selber hinfließt? Oder benachrichtigt etwa das spätere Wasser das frühere Wasser, daß es stets dort hinfließen will, wo das frühere hinfließt?»

«Nein, o Herr. Keinerlei gegenseitige Verständigung findet zwischen beiden statt. Sie fließen eben dorthin, weil da eine Neigung des Bodens besteht.»

«Ebenso auch, o König, steigt infolge einer Neigung das geistige Bewußtsein stets dort auf, wo das Sehbewußtsein aufsteigt.»

«Wie aber kommt es, o Herr, daß, weil da ein Tor besteht, das geistige Bewußtsein stets dort aufsteigt, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt? Erläutere mir dies!»

«Was meinst du, o König: gesetzt, die Grenzstadt eines Königs sei mit starken Wällen und Bollwerken umgeben, und sie besäße nur ein einziges Tor. Wenn nun da ein Mann aus der Stadt hinausgehen wollte, wo würde der wohl hinausgehen?»

«Eben durch jenes Tor, o Herr.»

«Wenn nun aber darauf noch ein anderer Mann aus der Stadt hinausgehen wollte, wo würde der hinausgehen?»

«Durch dasselbe Tor, o Herr, durch das der Erste hinausgegangen ist.»

«Wie? Da befiehlt wohl der Erste dem Späteren dort hinauszugehen, wo er selber hinausgeht? Oder benachrichtigt etwa der Spätere den Ersten, daß er dort hinausgehen will, wo der Erste hinausgeht?»

«Nein, o Herr. Keinerlei gegenseitige Verständigung findet zwischen beiden statt. Sie gehen eben dort hinaus, weil sich da ein Tor befindet.»

«Ebenso auch, o König, steigt, weil da ein Tor besteht, das geistige Bewußtsein stets dort auf, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt.»

«Wie aber kommt es, o Herr, daß aus Gewohnheit das geistige Bewußtsein stets dort aufsteigt, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt? Erläutere mir dies!»

«Was meinst du, o König? Wenn da ein Wagen voraus führe, an welcher Stelle würde da wohl der nächste Wagen fahren?»

«Genau an derselben Stelle, wo der vordere Wagen gefahren ist, o Herr.»

«Wie? Da befiehlt wohl, o König, der vordere Wagen dem hinteren Wagen, stets da zu fahren wo er selber fährt? Oder benachrichtigt etwa der hintere Wagen den vorderen Wagen, daß er stets dort fahren will, wo der vordere fährt?»

«Nein, o Herr. Keinerlei Verständigung findet zwischen beiden statt. Sie fahren eben aus Gewohnheit so.»

«Ebenso auch, o König, steigt aus Gewohnheit das geistige Bewußtsein stets dort auf, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt.»

«Wie aber kommt es, o Herr, daß infolge der Übung das geistige Bewußtsein stets dort aufsteigt, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt? Erläutere mir dies!»

«Gleichwie, o König, in den verschiedenen Künsten, wie der Zeichensprache, dem Addieren, Rechnen und Schreiben, beim Anfänger die Ausführung nur langsam voranschreitet, nach und nach aber infolge von Aufmerksamkeit und Übung schneller von statten geht: auf dieselbe Weise, o König, steigt das geistige Bewußtsein stets dort auf, wo immer das Sehbewußtsein aufsteigt. Nicht aber befiehlt das Sehbewußtsein dem geistigen Bewußtsein, stets dort aufzusteigen, wo es selber aufsteigt. Auch benachrichtigt nicht etwa das geistige Bewußtsein das Sehbewußtsein, daß es stets dort aufsteigen will, wo das Sehbewußtsein aufsteigt. Keinerlei gegenseitige Verständigung findet zwischen beiden statt. Sie steigen eben auf infolge der Übung. Und was nun beim Sehbewußtsein zutrifft, das trifft auch zu beim Hörbewußtsein, Riechbewußtsein, Schmeckbewußtsein und Tastbewußtsein.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.8. Gleichzeitigkeit der geistigen Daseinsaspekte

 

Der König sprach: «Wenn immer geistiges Bewußtsein aufsteigt, ehrwürdiger Nāgasena, steigt da auch stets Gefühl auf?»

«Gewiß, o König. Wo immer geistiges Bewußtsein autsteigt, da entstehen ebenfalls Sinneneindruck, Gefühl, Wahrnehmung, Wille, Gedankenfassung und diskursives Denken (*); ja, sämtliche geistigen Vorgänge (dhamma, hier in diesem Sinne zu verstehen), mit Sinneneindruck als erstem, kommen da zur Entstehung.»

 

(*) Gedankenfassung und diskursives Denken treten nur im reflektierenden Bewußtsein auf. Auch außer dem Fünf-Sinnen-Bewußtsein (Sehbewußtsein usw.) gibt es noch andere Bewußtseinsarten, die nicht reflektierend sind.)


Mil. 2.3.9. Sinneneindruck

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt der Sinneneindruck (phassa)?»

«Das der Berührung, o König.»

«Erläutere mir dies!»

«Es ist gerade so, o König, wie wenn zwei Widder miteinander kämpften. Den einen Widder nämlich hat man dabei als das Sehorgan zu betrachten, den anderen als das Sehobjekt und das Zusammentreffen beider als den Sinneneindruck.»

«Gib mir ein weiteres Gleichnis!»

«Der Vorgang läßt sich ebenfalls mit Händeklatschen vergleichen. Dabei hat man die eine Hand als das Sehorgan zu betrachten, die andere als das Sehobjekt und das Zusammenklatschen beider als den Sinneneindruck.»

«Gib mir noch ein weiteres Gleichnis!»

«Man mag den Vorgang auch noch ferner mit dem Zusammenschlagen zweier Zymbeln vergleichen. Dabei ist die eine Zymbel das Sehorgan, die andere das Sehobjekt und das Zusammenschlagen beider der Sinneneindruck.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.10. Gefühl

 

Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt das Gefühl (vedanā)?»

«Das des Gefühltwerdens und Empfindens, o König.»

«Erläutere mir dies!»

«Nimm an, o König, es verrichte einer seinem Fürsten einen Dienst. Und weil der König mit ihm zufrieden sei, gebe er ihm ein Amt, das ihn in den Stand setze, im Besitze und Genusse der Sinnesfreuden sein Leben zu verbringen. Und der Gedanke komme ihm: <Freilich ich habe dem Könige früher einen Dienst geleistet. Und weil der König mit mir zufrieden war, hat er mir das Amt übertragen. Daher empfinde ich solche Gefühle.> - Oder da hat einer, o König, gute Taten verübt und gelangt infolgedessen bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf glückliche Fährte, in himmlische Welt, wo er im Besitze und Genusse der Sinnesfreuden sein Leben verbringt. Und der Gedanke kommt ihm: <Freilich, weil ich früher gute Taten verübt habe, darum empfinde ich nun solche Gefühle.> - Somit, o König, besitzt das Gefühl das charakteristische Merkmal des Fühlens und Empfindens.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.11. Wahrnehmung

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt die Wahrnehmung?»

«Das Merkmal des Wahrnehmens, o König. Und was nimmt man wahr? Blaue oder gelbe oder rote oder weiße oder braune Farben nimmt man wahr (*). Insofern, o König, besitzt die Wahrnehmung das charakteristische Merkmal des Wahrnehmens.»

«Erläutere mir dies!»

«Gleich wie, o König, der Schatzmeister eines Fürsten, wenn er in die Schatzkammer eintritt und die Gegenstände erblickt, seines Fürsten Schätze Sofort an ihrer blauen, gelben, roten, weißen und braunen Farbe erkennt: genau so, o König, besitzt die Wahrnehmung das charakteristische Merkmal des Wahrnehmens.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


(*) Wahrnehmung = saññā, das Wahrnehmen = sañjānana. Diese Erklärung des Substantivs durch eine Verbalform ist keine bloße Tautologie, sondern soll zum Ausdruck bringen, daß es sich hier um eine Funktionsweise handelt, um einen aktiven Vorgang, und nicht um eine statische Eigenschaft eines statischen Ichwesens.

(*) Die Farbwahrnehmung ist hier lediglich als ein Beispiel genannt. Die Wahrnehmung richtet sich auf alle fünf körperlichen Sinnenobjekte, sowie auch innerlich auf die geistigen Vorgänge.

Während das Bewußtsein, wenn man es so isolieren könnte, nur ein allgemeines Gewahrwerden des Objektes ergibt, so vermittelt die Wahrnehmung mehr differenzierte Eigenschaften des Objekts. Sie versieht das Objekt gleichsam mit Kennzeichen, die auch als Wiedererkennungszeichen für das Gedächtnis dienen.


Mil. 2.3.12. Wille

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt der Wille (cetanā)?»

«Das des Wollens, o König, und das des (karmischen) Gestaltens (abhisankharana).»

«Erläutere mir dies!»

«Nimm an, o König, ein Mann bereite ein Gift, trinke davon und gebe auch den anderen davon zu trinken. So würden doch sowohl er selber als auch die anderen dafür zu leiden haben. Genau so, o König, schafft da einer mit seinem Willen eine böse Tat und gerät dafür bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf einen Abweg, eine Leidensfährte, in verstoßene Welt, zur Hölle; und auch diejenigen, die es ihm nachmachen, trifft dasselbe Los. - Nimm nun aber an, o König, ein Mann stelle ein Gemisch von Ghee (Butteröl), Butter, Öl, Honig und Zucker her, trinke davon und gebe auch den anderen davon zu trinken. So würden doch sowohl er selber, als auch die anderen sich wohl befinden. Genau so, o König, schafft da einer mit seinem Willen eine gute Tat und gelangt infolgedessen bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf eine glückliche Fährte, in himmlische Welt; und auch diejenigen, die es ihm nachmachen, trifft dasselbe Los. Demnach, o König, besitzt der Wille das charakteristische Merkmal des Wollens und das des (karmischen) Gestaltens.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.13. Bewußtsein

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt das Bewußtsein (viññāna)?»

«Daß es sich der Dinge bewußt ist, o König.»

«Erläutere mir dies!»

«Gleichwie, o König, der Stadtwächter, der inmitten der Stadt am Kreuzungspunkte der vier Hauptstraßen sitzt, sehen kann, wenn einer von Osten, Westen, Norden oder Süden her kommt; ebenso auch, o König, ist man sich der Form bewußt, die man mit dem Auge sieht, des Tones, den man mit dem Ohre hört, des Duftes, den man mit der Nase riecht, des Saftes, den man mit der Zunge schmeckt, des Tastobjektes, das man mit dem Körper tastet und des geistigen Objektes, das man mit dem Geist erkennt. Demgemäß, o König, besitzt das Bewußtsein das charakteristische Merkmal, daß es sich der Dinge bewußt ist.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.14. Gedankenfassung

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt die Gedankenfassung (vitakka)?»

«Das des Befestigens, (alternative Wiedergabe: Einstellung, des Geistes auf ein Objekt) o König.»

«Gib mir ein Gleichnis!»

«Gleich wie, o König, ein Zimmermann einen gut bearbeiteten Balken in einer Fuge befestigt, genau so, o König, besitzt die Gedankenfassung das charakteristische Merkmal des Befestigens.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.3.15. Diskursives Denken

 

«Welches charakteristische Merkmal aber, o Herr, besitzt das diskursive Denken (vicāra)?»

«Das des fortgesetzten Nachsinnens, o König.»

«Gib mir ein Gleichnis!»

«Es ist damit, o König, wie mit einem Bronze-Gong, der angeschlagen, noch lange nachklingt und erst allmählich zur Ruhe kommt. Dabei hat man nämlich unter dem Anschlagen die Gedankenfassung zu verstehen und unter dem Nachklingen das diskursive Denken (vitakka-vicāra).»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


4. Kapitel

 

Mil. 2.4.1. Untrennbarkeit der geistigen Erscheinungen

 

Der König sprach: «Ist es wohl möglich, ehrwürdiger Nāgasena, diese zur Einheit verbundenen Erscheinungen voneinander zu trennen und ihre Verschiedenheit zu zeigen, so daß man sagen könnte: <Dies ist der Sinneneindruck, dies das Gefühl, dies die Wahrnehmung, dies der Wille, dies das Bewußtsein, dies die Gedankenfassung, dies das diskursive Denken>?»

«Nein, o König. Das ist nicht möglich.»

«Gib mir eine Erläuterung hierfür!»

«Sagen wir, o König, der Koch eines Fürsten bereite eine Suppe oder eine Sauce und füge etwas saure Milch, Salz, Ingwer, Kümmel, Pfeffer und andere Gewürze hinzu. Wenn nun der Fürst zu ihm sprechen sollte: <Ziehe mir einzeln den Saft der sauren Milch heraus, sowie des Salzes, des Ingwers, des Kümmels, des Pfeffers und der anderen Gewürze, die du hinzugefügt hast> - könnte da wohl, o König, der Koch die Säfte jener so innig gemischten Gewürze voneinander trennen und herausholen und sagen: <Dies ist das Saure, dies das Salzige, dies das Bittere, dies das Beißende, dies das Herbe und dies das Süße>?»

«Gewiß nicht, o Herr! Das ist unmöglich. Dennoch aber sind die sämtlichen Gewürze mit ihren jeweiligen charakteristischen Merkmalen darin enthalten.»

«Ebenso auch, o König, ist es unmöglich, diese zur Einheit verbundenen Erscheinungen wirklich voneinander zu trennen und ihre Verschiedenheit zu zeigen und zu sagen: <Dies ist der Sinneneindruck, dies das Gefühl, dies die Wahrnehmung, dies der Wille, dies das Bewußtsein, dies die Gedankenfassung, dies das diskursive Denken>.»

«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»


Mil. 2.4.2. Salz

Dieser Abschnitt ist in der 2. Auflage (1985) nicht enthalten.[WG]

Der Ordenssältere sprach: "Kann man wohl, o König, das Salz als solches sehen?" "Gewiss, o Herr." "Überlege dir's recht wohl, o König!" "Wie? So wird es wohl durch den Geschmack erkannt, o Herr?" "Ja, o König." "Wie nun aber, o Herr: kann alles Salz als solches nur geschmeckt werden?" "Gewiss, o König."(*1) "Wenn dem aber so ist, o Herr, wie kann es denn von Ochsen in Wagen transportiert werden? Somit kann wohl auch das Salz als solches getragen werden?" "Nein, o König, Salz und Schwere: diese beiden Eigenschaften sind hier zu einer Einheit verbunden, gehören aber dennoch beide verschiedenen Sinnesgebieten an. Lässt sich aber nun wohl, o König, das Salz wiegen?" "Gewiss, o Herr, das kann man." "Unmöglich ist es, o König, das Salz zu wiegen. Denn bloß das Schwergewicht kann gewogen werden."(*2) "Weise bist du, ehrwürdiger Nagaseno!"


(*1) Was mit dem Sehsinn erkannt wird, ist nicht das Salz selber sondern eine weiße Farbempfindung, die bedingt ist durch das spezifische Schwingungs-verhältnis der Lichtwelle und den Sehnerv. Das Salz, genauer: die Salzigkeit, ist eine durch das physische Schmeckorgan (jivhâyatanam) und eine gewisse stoffliche Lösung (rasâyatanam) bedingte subjektive Schmeckempfindung (rasâramman).

(*2) Schwere ist eine als Druck sich äußernde Tastempfindung (kāya-viññanam).


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