DIE WURZELN VON GUT UND BÖSE

6. Die Ursachen für das Entstehen und Nicht-Entstehen der Wurzeln

"Gesetzt, ihr Mönche, es stellten andersfährtige Asketen folgende Fragen:

'Was ist, Brüder, die Ursache und die Bedingung, durch die unaufgestiegene Gier aufsteigt und aufgestiegene Gier stärker und machtvoller wird? ‚Ein anziehendes Objekt', wäre zu erwidern.

'Denn in dem, der einem anziehenden Objekt unweise Aufmerksamkeit schenkt, wird unaufgestiegene Gier aufsteigen und bereits aufgestiegene Gier stärker und machtvoller werden.'

'Was aber, Brüder, ist die Ursache und die Bedingung, durch die unaufgestiegener Haß aufsteigt und aufgestiegener Haß stärker und machtvoller wird? ' - 'Ein abstoßendes Objekt', wäre da zu erwidern. 'Denn in dem, der einem abstoßenden Objekt unweise Aufmerksamkeit schenkt, wird unaufgestiegener Haß aufsteigen und bereits aufgestiegener Haß stärker und machtvoller werden.'

'Was aber, Brüder, ist die Ursache und Bedingung, durch die unaufgestiegene Verblendung aufsteigt und aufgestiegene Verblendung stärker und machtvoller wird? ' - 'Unweise Aufmerksamkeit', wäre da zu erwidern. 'Denn in dem, der unweise Aufmerksamkeit pflegt, wird unaufgestiegene Verblendung aufsteigen und bereits aufgestiegene Verblendung stärker und machtvoller werden.'

'Was aber, Brüder, ist die Ursache und Bedingung für das Nichtaufsteigen unaufgestiegener Gier und für das Aufgeben aufgestiegener Gier? ' - 'Ein (Meditations-) Objekt der Unreinheit (des Körperlichen)', wäre da zu erwidern. 'Denn in dem, der einem (Meditations-) Objekt der Unreinheit weise Aufmerksamkeit schenkt, wird unaufgestiegene Gier nicht aufsteigen und aufgestiegene Gier aufgegeben.'

'Was aber, Brüder, ist die Ursache und Bedingung für das Nichtaufsteigen unaufgestiegenen Hasses und für das Aufgeben aufgestiegenen Hasses?' - 'Die Güte, die Befreiung des Herzens', wäre da zu erwidern. 'Denn in dem, der weise Aufmerksamkeit der Güte schenkt, der Befreiung des Herzens, wird unaufgestiegener Haß nicht aufsteigen und aufgestiegener Haß aufgegeben.'

'Was aber, Brüder, ist die Ursache und Bedingung für das Nichtaufsteigen unaufgestiegener Verblendung und für das Aufgeben aufgestiegener Verblendung? 'Weise Aufmerksamkeit', wäre da zu erwidern. 'Denn in dem, der weise Aufmerksamkeit pflegt, wird unaufgestiegene Verblendung nicht aufsteigen und aufgestiegene Verblendung aufgegeben.' "

Anguttara Nikaya, Dreier-Buch, Nr. 69

Erläuterung. - In diesem Text sollte besonders beachtet werden, welch entscheidende Stellung der Aufmerksamkeit (unweise oder weise; ayoniso oder yoniso manasikāra) gegeben wird für die Entstehung oder Ausrodung der unheilsamen Wurzeln.

In der Rede "Alle Triebe" (Sabbāsava Sutta; M2) wird gesagt: "Der ungeschulte, gewöhnliche Mensch ... kennt weder die der Aufmerksamkeit würdigen Dinge (manasikaraniye dhamme) noch die der Aufmerksamkeit unwürdigen Dinge (amanasikaraniye dhamme)." Deshalb verfehlt er, seine Aufmerksamkeit würdigen Dingen zu schenken, und lenkt sie unwürdigen Dingen zu. Und vom wohlunterrichteten Jünger sagt dieselbe Rede, daß er das der Aufmerksamkeit Würdige und Unwürdige kenne und sich angemessen verhalte.

Der Kommentar zu dieser Rede macht hier eine sehr aufschlußreiche Bemerkung: "Es gibt nichts Bestimmtes in der Beschaffenheit der Dinge (oder Objekte) selbst, das der Aufmerksamkeit würdig oder unwürdig ist; die Unterscheidung beruht vielmehr auf der Art der Aufmerksamkeit, die man den Objekten widmet. Eine Art der Aufmerksamkeit, die eine Basis ist für das Entstehen von Unheilsamem oder Bösem, solche Art der Aufmerksamkeit sollte dem jeweiligen Objekt nicht gewidmet werden, vielmehr eine Art der Aufmerksamkeit, die eine Basis ist für das Entstehen des Guten und Heilsamen, eine solche soll man den Objekten geben."

Es ist der letztgenannte Typ der Aufmerksamkeit, der in unserem gegenwärtigen Text "weise Aufmerksamkeit" genannt wird. Die vorherige Art ist "unweise Aufmerksamkeit", die in einer anderen Kommentarstelle als unmittelbare Ursache der Verblendung bezeichnet wird.

Daß Dinge angenehm oder unangenehm sind, ist uns als Tatsache normaler Erfahrung gegeben. Aber es liegt darin nichts Zwingendes, das unsere Reaktion auf diese angenehmen oder unangenehmen Objekte bestimmt. Es ist des Menschen eigene willentliche Einstellung zu den Dingen und die Art der Aufmerksamkeit ihnen gegenüber, die entscheiden, ob einer mit Gier auf Angenehmes und mit Abneigung auf Unangenehmes reagiert; oder ob einer seine Aufmerksamkeit durch rechte Achtsamkeit und rechtes Verständnis bestimmen läßt, die zu rechtem Handeln führen. In manchen Fällen wird es auch möglich und ratsam sein, die Aufmerksamkeit von einem Objekt ganz abzuwenden und auf anderes hinzulenken. Dies ist eine der vom Buddha empfohlenen Methoden, um die unheilsamen Gedanken zu vertreiben. (Siehe 29 und Erläuterung)

Des Menschen Wahlfreiheit besteht schon in der ersten Reaktion auf eine Erfahrung und in der Art der auf diese Reaktion gerichteten Aufmerksamkeit. Aber nur, wenn es eine weise Aufmerksamkeit ist, die er auf das Erkenntnisobjekt richtet, kann er zu seinem eigenen Wohl Gebrauch von seiner potentiellen Wahlfreiheit machen. Der Bereich dieser Freiheit kann noch erweitert werden, wenn man sich darin übt, diese Aufmerksamkeit auf die Stufe rechter Achtsamkeit zu heben.


7. Die Verschiedenheit der unheilsamen Wurzeln

"Gesetzt, ihr Mönche, es stellten euch andersfährtige Asketen folgende Frage: 'Drei Geisteszustände gibt es, Brüder: Gier, Haß und Verblendung. Worin aber besteht ihr Unterschied, ihre Bedeutung, ihre Verschiedenheit? ' Auf diese Frage, ihr Mönche, wäre jenen Asketen zu erwidern: 'Gier, ihr Brüder, ist ein kleines Übel, aber schwer zu überwinden; Haß ist ein großes Übel, aber leicht zu überwinden; Verblendung ist ein großes Übel und schwer zu überwinden.' "

Anguttara Nikaya, Dreier-Buch, Nr. 69 (Auszug)

Erläuterung. - Die Aussagen dieses Textes, wonach Gier ein geringeres Übel sei usw., müssen in einem relativen Sinne verstanden werden.

Der Kommentar erklärt: "Gier (oder Lust) ist ein kleineres Übel (appa-sāvajja) auf zweifache Weise: 1. in der öffentlichen Meinung (loka; d.i. in den 'Augen der Welt') und 2. im Hinblick auf das Kamma-Ergebnis (vipāka), nämlich die aufgrund des begehrlichen Kamma erfolgte Wiedergeburt.

Beispiel zu 1: Wenn Eltern ihre Kinder in die Ehe geben, so ist dies gemäß weltlicher Lebensnormen nichts Unrechtes (obwohl damit Aspekte der Anhänglichkeit und Gier verbunden sind: Elternliebe und Sexualität in der Ehe).

Beispiel zu 2: Wenn man sich (in der Ehe) mit seiner eigenen Frau zufrieden gibt (und so die dritte Sittenregel einhält), wird man nicht in den niederen Welten wiedergeboren. In diesem Sinne ist die Gier ein kleineres Übel, im Hinblick auf die Karmawirkung. Aber sie ist schwer zu überwinden, so wie öliger Ruß nur mühsam zu entfernen ist. Gier nach diesem oder jenem Gegenstand (oder sinnliche Lust nach einer bestimmten Person) kann ein Leben lang dauern; und selbst, wenn sie zwei oder drei Existenzen hindurch währt, mag sie immer noch nicht schwinden."

Mit anderen Worten: Gier in verschiedenen Stärkegraden ist, in Vergleich mit Haß und Verblendung, ein geringeres Übel, solange sie innerhalb der Grenzen elementarer Sittlichkeit bleibt, also keine Verletzung der fünf Sittenregeln (sikkhāpada) mit sich bringt. Innerhalb dieser Grenzen ist sogar eine glückliche Wiedergeburt, bewirkt durch gutes Kamma, nicht ausgeschlossen.

Die völlige Überwindung der Gier in allen ihren Formen ist jedoch schwer; ihre feinen Haarwurzeln reichen sehr tief in die menschliche Wesensart hinein. So mag sich die Gier, wenn sie verfeinerte und selbst erhabene Formen der Schönheit annimmt, in gar verlockende Gewänder kleiden.

Als "Lebenslust" oder "Lebenswille" ist Gier der Grundantrieb der Existenz, ja, als lebensbejahendes Begehren oder Dürsten (tanhā) ist sie der eigentliche Ursprung des Leidens, gemäß der zweiten edlen Wahrheit.

Haß kann, den Kommentaren gemäß, zu unrechtem Handeln gegen Eltern, Brüder, Schwestern, Asketen (sowie auch Mönche, Priester, Geistliche, usw.) führen. Wohin auch immer ein solcher Übeltäter geht, Tadel und schlechter Ruf werden ihm folgen. Wenn man aus Haß sogar eines der "verruchtesten Vergehen" (ānantariya-kamma) wie Elternmord usw. begeht, wird man für Äonen in der Hölle leiden.

Auf diese zweifache Weise ist der Haß in der öffentlichen Meinung und als Karma-Ergebnis ein großes Übel. Dennoch läßt er sich schnell überwinden. Denn schon bald nach einem Verstoß aus Haß oder Ärger kann man ihn bereuen und jene, die betroffen wurden, um Vergebung bitten, und wenn Verzeihung gewährt wird, ist die Tat verbüßt (soweit es den Geisteszustand des Übeltäters betrifft).

Der Haß ist eine Quelle ungeahnten Leidens für den Einzelnen wie für die menschliche Gesellschaft in all ihren Gruppierungen. Er ist ein entzweiender und antisozialer Faktor, und schon deshalb hätte man von der Gesellschaft erwarten sollen, daß Haß als ein großes Vergehen gegen das Gemeinwesen betrachtet würde, als der große Widersacher gesellschaftlicher Wohlfahrt, und daß somit jede Anstrengung zu seiner Ausmerzung oder Schwächung unternommen würde. Aber es hat immer menschliche Gruppen und Institutionen gegeben, große und kleine, die den Haß für ihre eigenen selbstsüchtigen Zwecke befürwortet, sowie Taten, Worte und Gedanken des Hasses gefördert haben, die durch aggressive und verblendete Ideologien motiviert sind. Von jeher haben es Lenker von Staaten, Parteien und anderen Gruppierungen, die die Unterstützung der Massen haben wollten, leichter gefunden, die Menschen mittels gemeinsamen Hasses zu vereinigen als durch gemeinsame Liebe.

Im persönlichen Leben zeigen sich die verschiedenen Abstufungen von Haß und Ärger zum Beispiel bei Interessenkonflikten jeder Art und anderen Auseinandersetzungen mit der Umwelt. Haß kann zu einem Grad von blinder Leidenschaft, ja Besessenheit, anwachsen, wie es auf ihre Weise bei der Lust der Fall ist. Doch Haß hat einen mehr direkt zerstörerischen Charakter, und zwar für beide, den Haßerfüllten und sein Opfer. Durch Haß kann der menschliche Geist auf eine untermenschliche Ebene absinken, weshalb für den Haßerfüllten immer die Gefahr besteht, in untermenschlicher Daseinsform wiedergeboren zu werden.

Freilich: wer sich nicht mit jedem in ihm aufsteigenden Gedanken oder Gefühl identifiziert, sondern die Notwendigkeit einsieht und den Willen dazu hat, seinen Geist zu formen, zu schulen und auf Heilsameres zu richten, für den wird es nicht sehr schwierig sein, seinen Haß oder Ärger zu kontrollieren, bevor er stärker wird. Haß verursacht Gereiztheit, Spannung und Mißstimmung im Geist; und da ja die Menschen ihrer Natur nach "Glück begehren und Leid verabscheuen", werden sie normalerweise wünschen, von dem Mißmut jeder Gehässigkeit frei zu bleiben, es sei denn, sie ließen den Haß in ihrem Geist ganz tiefe Wurzeln schlagen, sei es als andauerndes Ressentiment oder gar in dem Ausmaß, daß sie an einer ärgerlichen Stimmung oder an Zornausbrüchen Gefallen finden.

Die Verblendung ist laut Kommentar "aus zwei Gründen ein großes Übel: einmal in der öffentlichen Meinung und zum anderen im Hinblick auf ihr leidhaftes Kamma-Ergebnis (in gleicher Weise, wie oben für Haß erwähnt). Wenn man eine Handlung (kamma) unter dem Einfluß der Verblendung begeht, wird eine solche Handlung den Menschen nur sehr langsam freilassen, ähnlich einem Bärenfell, das keinen Glanz annimmt, selbst wenn man es siebenmal wäscht."

Wenn man unbeherrschte oder unrechtmäßige begehrliche, lusthafte Handlungen ohne ein Schuldgefühl begeht und diese vielmehr auf Vorurteilen, Dünkel und falschen Ansichten gegründet sind, indem man sich z.B. auf das angebliche 'Recht' des Starken und Privilegierten beruft, dann ist es einleuchtend, daß eine derartig verblendete Gier nicht leicht verschwinden wird. Nicht einmal bei wiederholtem Mißlingen wird man dann solch verblendete Gier aufgeben; sie wird vielmehr durch Enttäuschung und Ärger nur stärker werden. Es gibt auch Formen verblendeter Gier, die von religiösen (oder pseudoreligiösen) Observanzen zugelassen und unterstützt werden (siehe Erläuterung zu Text 10).

Alle diese Formen verblendeter Gier können nur durch das Aufgeben falscher Ansichten und Grundsätze ausgemerzt werden. Nun gibt es aber auch Fälle, in denen keine falsche Theorie dahinter steckt, etwa wenn es sich um begehrliche Leidenschaft handelt, die wegen der "Unschuld totalen Unwissens" keine innere Hemmungen hat, oder wenn die falsche Ansicht lediglich in dem naiven Glauben besteht: "Dies ist das rechte und natürliche Ding, das getan werden muß." Auch dies ist Verblendung, und die Hörigkeit an solch verblendete Gier ist nur schwer zu lösen.

Ähnlich verhält es sich, wenn Verblendung dem Haß beigesellt ist durch falsche Ansichten oder Einstellungen, die den Haß anstiften und lebendig erhalten. Wenn z.B. aufgrund verblendeter Ansichten gewisse Rassen, Klassen oder Religionen als rechtmäßige Haßobjekte angesehen werden, wird das gleichfalls eine sehr viel stärkere Hörigkeit bedeuten als irgendein leidenschaftlicher, aber vorübergehender Ausbruch von Ärger, Haß oder Wut, der lediglich die normale Beimischung von Verblendung hat.

Ohne die Anwesenheit der Verblendung kann weder Haß noch Gier aufkommen. Die unheilsamen Wurzeln von Gier und Verblendung oder Haß und Verblendung kommen immer zusammen vor. Verblendung kann jedoch für sich allein auftreten und eine außerordentlich ergiebige Quelle des Übels und des Leidens sein. Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Verblendung in dem umfassenden Gebiet des Unheilsamen wird im Dhammapada gesagt, daß kein Netz der Verblendung gleichkommt (Dhp 251), daß sie die schlimmste aller Besudelungen sei (Dhp 243).

Daher wurde vom Buddha gesagt: "Alle unheilsamen Zustände haben ihre Wurzeln in der Unwissenheit (ein Synonym der Verblendung), in der Unwissenheit laufen sie zusammen, und durch die Aufhebung der Unwissenheit sind auch alle anderen unheilsamen Zustände aufgehoben."

Samyutta Nikaya, Band II: Opamma-Samyutta Nr. 1

Mit Unwissenheit ist natürlich nicht etwa das Fehlen von Information über dieses oder jenes Thema weltlichen Wissens gemeint, sondern der Mangel an rechtem Verstehen der vier edlen Wahrheiten: die Unwissenheit (oder das willentliche Übersehen) der Reichweite und Tiefe des Leidens und seiner wahren Ursache; die Unwissenheit, daß es ein Ende des Leidens und einen Pfad gibt, der zu diesem Ende des Leidens führt.

Kein Feuer brennt wie Lustbegier,
Kein Fallstrick hält so fest wie Haß,
Kein Netz verstrickt wie Unverstand,
Kein Fluß rast wie der Durst dahin.

Vers 251

Doch schlimmere Besudelung,
Ja, allerschlimmste gibt es noch:
Verblendung ist das tiefste Schwarz!
Von diesem Makel reinigt euch
und werdet, Jünger, fleckenlos.

Vers 243

Die Wahrheit vom Leiden ist von den vier Verzerrungen der Wirklichkeit (vipallāsa), den vier großen Täuschungen, verborgen. Sie bestehen darin, daß man Beständigkeit sieht, wo Vergänglichkeit ist, Glück, wo in Wahrheit Leiden ist, ein beharrendes Selbst in dem, was leer von einem Selbst ist, und Schönheit im Unschönen. Diese Verzerrungen der Wirklichkeit schließen ein Verständnis der Wahrheit vom Leiden aus, wodurch auch die anderen Wahrheiten verdunkelt bleiben. Diese Verzerrungen oder Täuschungen sind eine machtvolle und weltweite Erscheinung der Unwissenheit und Verblendung. Sie können auf der Stufe ganz gewöhnlicher Fehlwahrnehmung (sañña-vipallāsa), aber auch als falsche Art des Denkens (citta-vipallāsa) erscheinen; oder sie können in bestimmten falschen Ideen und Theorien (ditthi-vipallāsa) über die vier zuvor genannten Themen ihren Ausdruck finden. Beharrlich festgehaltene falsche Ansichten (micchā-ditthi) vermögen die stärkste Kette zu schmieden, welche die Wesen an die leidbeladene Daseinsrunde fesselt. Wenn diese Ansichten so weit gehen, daß sie eine sittliche Bedeutsamkeit jeder Handlungsweise leugnen, werden sie in der nächsten Existenz zu einer Wiedergeburt von "festgelegter Bestimmung" in einer Welt voller Elend führen.

Schiere Dummheit ist selbstverständlich ebenfalls eine Form der Unwissenheit und der Verblendung, und sie vermag das innere Wachstum eines Menschen ein Leben hindurch und für viele Leben zu hemmen.

Aber es kann einen Ausweg aus solcher Situation geben, wenn in der dummen Person die guten Wurzeln von Gierlosigkeit (Selbstlosigkeit) und Haßlosigkeit (Güte, Mitleid) stark genug sind, um aktiv zu werden.

Der zutiefst verwurzelte und machtvollste Aspekt der Unwissenheit und Verblendung und damit die folgenschwerste der falschen Ansichten ist der Persönlichkeitsglaube, sei er nun naiv, unreflektiert oder von bestimmten Theorien und Überzeugungen geprägt. Es ist der Glaube an ein bleibendes Selbst oder an eine ewige Seele mit seinen begleitenden dünkelhaften und spekulativen Vorstellungen. Dieser Persönlichkeitsglaube ist der Hauptgrund, daß Verblendung so schwer zu überwinden ist und so langsam verschwindet, denn gerade die sittlichen Verwicklungen, die sich aus Ichglauben und Ichsucht ergeben, sind es, die Verblendung zu einem so großen Übel werden lassen.

Betrachtet man das ausgedehnte Gebiet und den weltweiten Einfluß der Unwissenheit, dann wird es verständlich, warum sie das erste Glied in der "Kette der bedingten Entstehung" (paticca-samuppada) bildet und als Verblendung die Wurzelbedingung karmischer Bindung ist. Als die wichtigste Triebkraft, die das Rad existenziellen Leidens in Bewegung hält, ist Verblendung wahrhaftig "ein großes Übel und schwer zu überwinden".


8. Die zehn Wirkensfährten

"Wenn ein edler Jünger das Unheilsame und die Wurzel des Unheilsamen kennt , dann ist er insoweit einer, der rechtes Verständnis hat, dessen Verständnis korrekt ist, der sicheres Vertrauen in die Lehre hat und so zum Guten Gesetze gekommen ist.

Und was ist das Unheilsame? Töten ist unheilsam; Nichtgegebenes zu nehmen, ist unheilsam; unrechter Wandel in Sinnenlüsten ist unheilsam; Lügen ist unheilsam; Hintertragen ist unheilsam; rohe Rede ist unheilsam; Schwatzen ist unheilsam; Habsucht ist unheilsam; Übelwollen ist unheilsam; falsche Ansichten sind unheilsam.

Und was ist die Wurzel des Unheilsamen? Gier ist eine Wurzel des Unheilsamen, Haß ist eine Wurzel des Unheilsamen, Verblendung ist eine Wurzel des Unheilsamen.

Und was ist das Heilsame? Abstehen vom Töten ist heilsam, Abstehen vom Nehmen des Nichtgegebenen ist heilsam, Abstehen von unrechtem Wandel in Sinnenlüsten ist heilsam, Abstehen von Lügen, Hintertragen, roher Rede und leerem Geschwätz ist heilsam, Freisein von Habsucht ist heilsam, Freisein von Übelwollen ist heilsam, rechte Erkenntnis ist heilsam.

Und was ist die Wurzel des Heilsamen? Gierlosigkeit ist eine Wurzel des Heilsamen, Haßlosigkeit ist eine Wurzel des Heilsamen, Unverblendung ist eine Wurzel des Heilsamen."

Majjhima Nikaya Nr. 9, "Rechte Erkenntnis"

 

Erläuterung. - In dieser vom ehrwürdigen Sāriputta gehaltenen Lehrrede wird das Unheilsame und das Heilsame durch die zehn Arten der unheilsamen und heilsamen Wirkensfährten (akusala/kusala-kammapatha) erklärt; sie beziehen sich auf Taten, Worte und Gedanken und werden auch "das zehnfach schlechte oder gute Verhalten" (duccaritāni, sucaritāni) genannt.

Diese Erklärung des Unheilsamen gilt für Fälle eines eindeutig unsittlichen Verhaltens. Auch die drei zuletzt Genannten, also Habsucht, Übelwollen und falsche Ansichten, die sich auf unheilsames geistiges Kamma beziehen, haben in diesem Zusammenhang einen unsittlichen Charakter. Als Arten unheilsamen geistigen Wirkens bestehen sie

1) in habsüchtigem Verlangen, sich das Eigentum anderer anzueignen,

2) in haßerfüllten Gedanken des Schädigens, Verletzens oder Tötens anderer und

3) in jenen falschen Ansichten, welche moralische Gesetzmäßigkeit (Kamma) leugnen und auf diese Weise Möglichkeit und Rechtfertigung für unsittliche Handlungen geben.

Die zehn üblen Wirkensfährten erschöpfen jedoch das Gebiet des Unheilsamen nicht. Wie schon in der Einführung und in den Erläuterungen zu Text 2 erwähnt, geht dessen Bereich über die sittliche Sphäre hinaus. Der Begriff des Unheilsamen beschränkt sich z.B. nicht auf die Verletzung der fünf Sittenregeln, sondern umfaßt alle Handlungen, Worte und Gedanken, die durch irgendeinen Grad von Gier, Haß und Verblendung motiviert wurden.

Dazu einige Beispiele: Die Vorliebe für gutes Essen, Musik oder Komfort ist nicht unsittlich, aber sie ist ein Verlangen, das den Menschen an die Welt der fünf Sinne bindet. Aus diesem Grunde ist ein solches Verlangen karmisch unheilsam. Das gleiche gilt für sexuelle Akte, Worte und Gedanken innerhalb der Ehe. Diese bleiben im Allgemeinen durchaus im Rahmen gesellschaftlicher Moral und gelten daher nicht als unsittlich. Dennoch sind sexuelles Verlangen und sexuelle Betätigung eine sehr starke Form des Begehrens und der Bindung an das Dasein und fallen daher unter den Begriff 'Gier' innerhalb der unheilsamen Wurzeln. Ferner sind z.B. Dummheit, Unverstand, Unwissenheit über das wahrhaft Förderliche an sich weder unsittlich, noch müssen sie unmittelbar Folgeerscheinungen zeitigen, die einen unsittlichen Charakter haben. Doch alle diese privaten Formen des Unwissens sind große Hindernisse für die Gewinnung befreiender Weisheit, denn sie binden die Menschen fest an den Daseinskreislauf. Als Formen der unheilsamen Wurzel 'Verblendung' sind deshalb auch sie unheilsam.


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