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DER
EINZIGE WEG
STIMMEN AUS DEM WESTEN
SENECA
95
Wisse, daß nichts von allem stark genug ist für die, welche ein schwaches
Wesen beibehalten, wenn nicht gespannte und beständige Aufmerksamkeit um das
leicht wankende Herz die Runde macht.
Wer jeden Tag so ordnet, als wäre er sein ganzes Leben, der wünscht weder den
folgenden, noch fürchtet er ihn.
EPIKTET
96
Wenn du in deiner Achtsamkeit selbst nur für kurze Zeit nachläßt, so bilde
dir nicht ein, daß du dies nach Belieben gutmachen kannst, sondern bedenke dabei
wohl, daß dein heutiger Irrtum dich bei anderen Gelegenheiten notwendig in eine
schlechtere Lage bringt. Denn zunächst einmal - und dies ist eine sehr ernste
Sache bildet sich eine Gewohnheit der Unachtsamkeit und dann eine Gewohnheit des
Aufschubs der Achtsamkeit. Du kommst dann schließlich dazu, von Tag zu Tag jene
ruhige und geziemende Lebensweise zu verschieben, wie sie die Natur gebietet.
Doch wenn solcher Aufschub der Achtsamkeit vorteilhaft ist, dann würde es
gewiß noch vorteilhafter sein, sie ganz und gar aufzugeben. Wenn aber dieser
Aufschub nicht vorteilhaft ist, warum hältst du dann nicht deine Achtsamkeit
stets gewärtig?
Du sagst: Ich möchte heute gern Sport treiben!' Wer hindert dich daran, wenn
du nur achtsam bist? Ist denn irgendein Teil des Lebens ausgeschlossen, auf den
Achtsamkeit keine Anwendung findet? Gibt es denn etwas, das du durch Achtsamkeit
schlechter und durch Unachtsamkeit besser machen kannst? Kannst du dir wirklich
irgendetwas im Leben vorstellen, das besser durchgeführt wird von jenen, die
unaufmerksam sind? Tut der Tischler seine Arbeit besser bei Unachtsamkeit? Lenkt
der Steuermann sein Schiff besser bei Unachtsamkeit? Und wird irgendeine der
kleinen Obliegenheiten des Lebens besser erfüllt durch Unachtsamkeit? Wenn du
einmal deinen Gedanken gestattest, nach Willkür umherzuschweifen, bist du dir
dann dessen bewußt, daß du die Macht einbüßt, sie wieder zurückzurufen und sie
auf das zu richten, was geziemend ist und züchtig und der Selbstachtung dient?
Du wirst dann vielmehr eben nur das tun, was dir gerade einfällt und wirst
deinen Wünschen und Launen folgen.
,Worauf soll ich denn nun achtsam sein?' Zunächst auf jene universellen
Grundsätze, von denen ich gesprochen habe. Diese mußt du in innerer Bereitschaft
halten und ohne sie weder einschlafen, noch aufstehen, weder essen, noch
trinken, noch Umgang mit Menschen pflegen. Es ist vor allem der Grundsatz, daß
keiner den Willen des anderen kontrollieren kann und daß allein der Wille das
Bereich von Gut und Böse ist.
Es ist durchaus möglich, den Geist ständig auf die Vermeidung von Irrtümern
einzustellen. Und es wird schon die darauf verwandte Anstrengung verlohnt haben,
wenn wir am Ende bloß einige wenige Irrtümer vermeiden und nichts weiter.
Doch die Sache liegt nun so, daß du mir sagst: Morgen werde ich damit
beginnen, achtsam zu leben!' Gestatte mir, dir offen zu sagen, daß dies in
anderen Worten bedeutet: Heute will ich schamlos sein, aufdringlich,
niederträchtig; heute sollen andere Menschen die Macht haben, mich in Aufregung
zu versetzen; heute will ich Arger hegen und Neid.' Wenn es morgen heilsam ist,
achtsam zu sein, so erst recht heute: damit du nämlich fähig wirst, das Gleiche
auch morgen zu tun und es nicht wieder auf den folgenden Tag verschiebst!'
Welche Dinge sind gleichgültig? Dinge, die außerhalb der Kontrolle unseres
Willens liegen.
Welche Dinge sind gut? Ein rechter Wille und die Fähigkeit, in rechter Weise
mit den Eindrücken zu verfahren.
NOVALIS
97
Wie wenig Menschen haben sich nur zu einer mannigfaltigen, schweigend-totalen
Aufmerksamkeit auf alles, was um und in ihnen in jedem Augenblick vorgeht,
erzogen! Bonnet's Bemerkung: Aufmerksamkeit ist Mutter des Genies!
Philosophieren ist nur ein dreifaches oder doppeltes Wachen - Wachsein -
Bewußtsein.
Der Mensch soll ein vollkommenes totales Selbstwerkzeug werden.
Der vollkommen Besonnene heißt der Seher.
Höchste Reizbarkeit [d. i. Eindrucksempfänglichkeit] und höchste Energie
vereinigt, würde Eigenschaft der vollkommenen Konstitution sein. Sie sind, wie
alle Extreme, nur durch reale Freiheit, durch Willen zu vereinigen, d. i. - es
muß eine Möglichkeit, ein Vermögen im Menschen vorhanden sein, die Reizbarkeit
beliebig zu stimmen und den Eindruck beliebig zu modifizieren, ein Vermögen,
Reizbarkeit beliebig zu dirigieren. Am deutlichsten empfinden wir schon dieses
Vermögen bei den Veränderungen des Systems der Organe, das wir Seele nennen. Die
Aufmerksamkeit ist eine Äußerung dieses Vermögens. Mittels derselben sind wir
imstande, einen beliebigen Gegenstand stark oder schwach, lang oder kurz auf
diesen oder jenen der inneren Sinne wirken zu lassen. Die Aufmerksamkeit erhöht
oder vermindert, stimmt ab die Reizbarkeit dieser Organe.
Je besonnener, desto unsinnlicher.
Der erste Schritt wird Blick nach Innen, absondernde Beschauung unseres
Selbst. Wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muß wirksamer
Blick nach außen, selbsttätige, gehaltene Beobachtung der Außenwelt sein.
Je kleiner und langsamer man anfängt, desto perfektibler. Je mehr man mit
wenigem tun kann, desto mehr kann man mit vielem tun.
98
ARTHUR SCHOPENHAUER
Um originelle, außerordentliche, vielleicht gar unsterbliche Gedanken zu
haben, ist es hinreichend, sich der Welt und den Dingen auf einige Augenblicke
so gänzlich zu entfremden, daß einem die allergewöhnlichsten Gegenstände und
Vorgänge als völlig neu und unbekannt erscheinen, als wodurch eben ihr wahres
Wesen sich aufschließt. Das hier Geforderte ist aber nicht etwa schwer; sondern
es steht gar nicht in unserer Gewalt und ist eben das Walten des Genies.
. . . Daher ist die Aufgabe nicht sowohl, zu sehen, was noch keiner gesehen
hat, als bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht hat.
. . Demnach können die Grade der Deutlichkeit des Bewußtseins, mithin der
Besonnenheit, angesehen werden als die Grade der Realität des Daseins.
99
G. CHR. LICHTENBERG
Ich wollte, daß ich mich alles entwöhnen könnte, daß ich von neuem sehen, von
neuem hören, von neuem fühlen könnte. Die Gewohnheit verdirbt unsere
Philosophie.
100
KARL CHRISTIAN FRIEDRICH KRAUSE
Weisheit ist die richtige Anwendung der erkannten Wahrheit auf das Leben im
Einklange des ganzen Gemüts, im Empfinden, Wollen und Tun. Um Weisheit zu
erlangen, ist es daher nicht genug, die Wahrheit zu erkennen, nach Wahrheit zu
forschen, sondern dazu ist noch außerdem gleichmäßige Ausbildung des Gemüts und
aller Kräfte, stete Aufmerksamkeit auf sich selbst, genaue Beobachtung des
wirklichen Lebens und Besonnenheit bei allem, was uns begegnet, notwendig.
101
KARL IMMERMANN
Lege den Gehalt einer Gesinnung in das kleinste Tun.
102
FRIEDRICH NIETZSCHE
Das genaue Hören und Sehen ist eine sehr hohe Stufe der Kultur; wir sind noch
fern davon. Die Lügnerei wird noch gar nicht darin gefühlt! Dieses spontane
Spiel von phantasierender Kraft ist unser geistiges Grundleben- die Gedanken
erscheinen uns, das Bewußtwerden, die Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist nur
eine verhältnismäßige Ausnahme.
Das ist die erste Vorschule zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort
reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand
bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die
unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist
gerade, nicht wollen", die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit,
alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reiz Widerstand zu leisten: -
man muß reagieren, man folgt jedem Impulse.
103
WILLIAM JAMES
Verglichen mit dem, was wir sein sollten, sind wir nur halb wach.
"Genie" sagt Helvetius, ist nichts als eine fortgesetzte Achtsamkeit (une
attention suivie)." Genie", sagt Buffon, ist lediglich eine langwährende Geduld
(une longue patience)." Und Chesterfield bemerkt, daß die Fähigkeit, die
Achtsamkeit fest und unabgelenkt auf ein einziges Objekt zu richten, das sichere
Zeichen eines überlegenen Genie ist".
Meine Erfahrung ist das, worauf ich einwillige, meine Achtsamkeit zu richten.
Durch die Weise, in der er den Dingen Achtsamkeit schenkt, wählt jeder von
uns (und zwar im wörtlichen Sinne), welche Art Welt er nach seiner eigenen
Vorstellung bewohnt.
Jedermann weiß, was Achtsamkeit ist. Es ist die geistige Besitznahme, und
zwar in klarer und lebendiger Form, eines einzelnen Gegenstandes oder
Gedankengangs aus einer Anzahl solcher, die gleichzeitig [als Objekte] möglich
erscheinen. Die genaue Einstellung und die Konzentration des Bewußtseins sind
mit ihr wesenhaft verbunden. Achtsamkeit schließt ein, daß man sich von einigen
Dingen zurückzieht, um sich gründlich und wirksam mit anderen zu befassen. Sie
hat als direkten Gegensatz jenen verwirrten, verworrenen und fahrigen
Geisteszustand, den man im Französischen distraction und im Deutschen
Zerstreutheit nennt.
Die Fähigkeit, eine schweifende Achtsamkeit wieder und wieder
zurückzubringen, ist die wahre Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Willen.
Die unmittelbaren Wirkungen der Achtsamkeit sind, daß wir durch sie eine
größere Anzahl aufeinanderfolgender Dinge, sowie jedes einzelne von ihnen klarer
a) wahrnehmen, b) begreifen, c) unterscheiden, und d) erinnern können; und
ferner e) kürzt die Achtsamkeit die Reaktionsspanne.
Wenn wir zulassen, daß sich unsere Empfindungen leicht verflüchtigen, so
werden sie die Gewohnheit annehmen, sich zu verflüchtigen. Ebenso haben wir
Grund anzunehmen, daß, wenn wir häufig vor Anstrengungen zurückschrecken, wir
die Fähigkeit, eine Anstrengung zu machen, verlieren, bevor wir dessen gewahr
werden; und wenn wir in uns das Abschweifen der Achtsamkeit dulden, so wird sie
bald dauernd umherschweifen.
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