SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

7. Das Wachstum der Sutta-Nipāta-Anthologie und ihr Charakter als mönchisches Vademecum

 

Das Sn in seiner frühesten Form bestand zweifellos aus den in den beiden Niddesa kommentierten Texten: dem Achter-Buch, dem "Weg zum Anderen Ufer" und der Nashorn-Sutte. Weitere Dichtungen, die das gleiche Hauptmotiv, das Muni-Ideal, behandeln, dürften dann hinzugekommen sein, wie z.B. "Der Muni" und "Nālaka" (oder die lehrhaften Verse daraus). Diese beiden Texte sind durch Asokas Edikt (s. S. 19) belegt, wo sie bezeichnenderweise zusammen mit einer dritten Muni-Dichtung, der Sāriputta-Sutte, genannt werden. Diese anderen Muni-Dichtungen mögen aber recht wohl ebenso alt sein, wie die vorerwähnten Grundbestandteile des Sn. Auch andere Kompendien mönchischer Lebensregel (s. Thematische Übersicht, S. 383), wie sie im alten Orden sicher sehr populär waren, mögen dann hinzugefügt worden sein. Zu den älteren Bestandteilen der allmählich wachsenden Anthologie gehörte wahrscheinlich auch die Sela-Sutte (III, 7). Jedenfalls finden wir sie im Divyāvadāna (einem Sanskrit-Werk des 2.-3. Jh. n. Chr.) in bezeichnender Zusammenstellung mit dem Atthaka-Vagga und den muni-gāthā zweimal erwähnt (*f1). Die Sela-Sutte findet sich außerdem als die 92. Rede in der Mittleren Sammlung. Es muß dahingestellt bleiben, ob dort oder im Sn ihr ursprünglicher Platz war. In das Sn mag sie einverleibt worden sein als ein typisches und populäres Beispiel der Bekehrung eines angesehenen Brahmanen und vielleicht auch noch wegen der schönen Huldigungsverse Selas (548ff.). Eine weitere wichtige und schöne Bekehrungs-Sutte, Sabhiya, geht unmittelbar vorher, eine Aufeinanderfolge, die vielleicht auf das gemeinsame Thema und die gleichzeitige Einfügung in die Anthologie zurückzuführen ist. Es ist beachtenswert, daß die Verse in Sela 571-572 identisch sind mit Sabhiya 545-546; vgl. ferner Vers 559a mit 540a/b, 541a.

 


(*f1) Siehe Divyavadana, Edited by Cowell and Neill, p. 20, 35, im zweiten Passus wird außerdem noch von den sthavira-gathaya (-Theragatha) gesprochen.


 

Der Einschluß der Sela-Sutte mag ein weiteres Thema für den Ausbau der Sn-Anthologie in einer anderen Richtung gegeben haben, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Brahmanismus, mit der sich auch schon Atthaka- und Pārāyana-Vagga befassen. Auch der erste Teil der Sabhiya-Sutte mit seiner Umdeutung brahmanischer Terminologie ist ein Beitrag hierzu. Der diesbezügliche Abschnitt in unserer Thematischen Übersicht (s. S. 384) zeigt, daß im Sn tatsächlich die wichtigsten praktischen Differenzpunkte behandelt werden. Die betreffenden Sutten gaben somit dem Mönch das Material an die Hand, das er in seinen sicher häufigen Begegnungen mit Brahmanen benutzen konnte.

 

Nachdem so zwei wichtige Themen, der rechte Mönchswandel und die Auseinandersetzung mit dem Brahmanismus, stark vertreten waren, lag es nahe, die Sammlung auch noch durch andere für das Mönchsleben wichtige Texte zu ergänzen und insbesondere auch den Kontakt mit der buddhistischen Laienschaft zu berücksichtigen. Hierzu siehe in der Thematischen Übersicht (s. S. 384) die Abteilungen "Laien-Ethik" und "Schutz-Rezitationen". Letztere sind, auf Grund des alt-indischen Glaubens an die heilende, helfende und schützende Kraft des Mantra, sicher schon in früher Zeit üblich gewesen.

 

Die Dialoge des Atthaka- und Pārāyana-Vagga mögen angeregt haben, weitere Dialog-Dichtungen einzufügen. Hierzu gehören insbesondere jene die Lehre schlaglichtartig beleuchtenden kurzen Fragen und Antworten, von denen sich Parallelen zum Sn und noch eine große Anzahl weiterer Stücke in den ersten Büchern des Samyutta-Nikāya finden.

 

Neben der ausführlichen Behandlung der Lehre (dhamma) und der Mönchsgemeinde (sangha) bestand sicherlich auch das Bedürfnis für Texte, welche dem ersten der "drei Kleinode" (ti-ratana), dem Buddha selber, gewidmet waren. Sie sind in unserer Thematischen Übersicht (s. S. 384) angeführt in den Abschnitten: "Aus dem Leben des Buddha" und "Gedichte der Verehrung". Es ist übrigens wahrscheinlich, daß die beiden biographischen Dichtungen, welche das "Große Buch" einleiten, als zusammenhängende Stücke verfaßt waren. Darauf deutet, daß die letzten Worte der Sutte "Weltentsagung": "Zum Kampfe (padhāna) will ich gehen nun ..." vom Titel der nächsten Sutte "Der Kampf" (Padhāna-Sutta) sowie ihrer ersten Verszeile aufgenommen werden: "Als an dem Ufer der Neranjara dem Kampf (padhāna) ich hingegeben war ...". Vielleicht sind diese beiden Dichtungen fragmentarisch gebliebene Teile einer größer gedachten Lebensbeschreibung des Meisters.

 

So war allmählich ein Buch entstanden, dessen inhaltliche Mannigfaltigkeit seinen besonderen Reiz ausmacht. Diese Vielfältigkeit, welche den verschiedensten Bedürfnissen des Mönchslebens Rechnung trägt, macht es geradezu zu einem mönchischen Vademecum, und es mag wohl in seiner endgültigen Form auch tatsächlich als ein solches gedacht und benutzt worden sein. Es mag, mehr oder weniger vollständig, zu jenen "Hand-Büchern" (Pāli: mutthi-potthaka, d.i. "Faust-Buch") gehört haben, von denen die alten Kommentare berichten, daß sie die Mönche jener Zeit neben anderen kleinen Dingen des Bedarfs in ihrem Beutel zu tragen pflegten:

 

"Im Beutel befindet sich ein Handbuch (mutthi-potthako), in dem das Lob des Buddha, der Lehre und der Gemeinde niedergeschrieben ist. Dieses soll der Mönch herausnehmen, daraus rezitieren und sich in dieser Weise (von den in ihm aufgestiegenen üblen Gedanken) ablenken." Aus dem Kommentar zur Mittleren Sammlung Nr. 20: "Stillung der üblen Gedanken" (Vitakka-santhāna-Sutta).

 

Der Charakter, den das Sn allmählich annahm, machte es in der Tat zu einem selbstgenügsamen kleinen Handbuch für solche, die das Haupt-Gedankengut der Lehre bereits in sich aufgenommen und verarbeitet haben und die sich dann bewußt und aus guten Gründen mit Wenigem, auch an geistiger Nahrung, begnügen, dieses Wenige aber recht zu nutzen verstehen. Die Fülle von knappen, tief-gehaltvollen Gedankenprägungen macht das Sn so recht zu einem Werk für jene "Leser eines Buches", die ein solches Buch zum Umfang nicht nur einer Bibliothek, sondern einer ganzen Welt auszuweiten verstehen. Solche Leser mag es im Altertum viele gegeben haben und durchaus nicht zum Schaden ihrer geistigen Entwicklung. Doch auch einem heutigen mit der Buddha-Lehre bereits vertrauten Leser wird sich die Tiefe und Schönheit dieses Buches nur dann voll erschließen, wenn er es so liest, als ob er mit ihm allein wäre.


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