SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

IV.12. Die kurze Entgegnung (Cūla-Viyūha-Sutta)

 

(Der Titel lautet im Pali Cūla-viyūha-sutta. Viyūha ist die in Schlachtordnung aufgestellte Armee (von viyūhati, aufstellen, arrangieren). K: "Bei den drei Antwort-Versen des Buddha (vv. 880-882) wird dem in den zwei ersten Halbversen jeder Strophe dargestellten Standpunkt (der Dogmatiker) in den letzten beiden Halbversen (seine daraus folgende Selbstaufhebung) entgegengestellt (pativiyūhitvā)." Auf diese 'Entgegenstellung' (pativiyūha) oder Entgegnung bezieht offenbar K den Titel, und so wurde er hier wiedergegeben. Der Übersetzer ist jedoch eher geneigt, den Titel, der nichts von einer Entgegenstellung sagt, auf die vielen sich gegenüberstehenden feindlichen Heere von dogmatisierenden Philosophen und Priestern zu beziehen, die sich dadurch selber ad absurdum führen, daß jeder sich für weise (v. 881) und den anderen für töricht hält (v. 880). Hiernach könnte der Titel etwa wiedergegeben werden als 'Aufmarsch der Meinungen'. Die Haltung des Buddha zu diesem Kampf der Dogmatiker ist gekennzeichnet, z.B. in vv. 912b, 914a, der Pasūra-Sutte und vielen anderen Stellen des Achter-Buches. Im späteren Sanskrit bedeutet vyūha (s. Boehtlingk) auch: Darstellung oder Beschreibung (z.B. in Mahāyana-Texten, wie Sukhāvati-vyūha-sūtra); geistige Erwägung, Betrachtung. Doch diese Bedeutungen dürften für unseren alten Text kaum in Frage kommen. Vgl. zu dieser Sutte Dschuangdsi, übersetzt von R. Wilhelm, S. 127, 128. )

 

878 (DER FRAGENDE)

In eigene Ansicht jeder eingewöhnt, befangen,
Ist's unterschiedlich, was die Kenner lehren:
,Wer so versteht, der, wahrlich, kennt die Wahrheit;
Wer diesem widerspricht, hat sie verfehlt.'

 

879

Derart befangen, kommen sie ins Streiten.
,Ein Tor der andere, unbefähigt!', spricht man.
Welch Rede wohl ist Wahrheit unter diesen?
Denn alle die bezeichnen sich als 'Kenner'!

 

880 (DER ERHABENE)

Weil man der Lehre eines anderen nicht zustimmt,
Wenn darum als ein Tor man gilt und als 'verstandesschwach',
So sind sie alle selbst 'verstandesschwache Toren',
Denn alle kennen nur die eigene, gewohnte Ansicht.

 

881

Doch wenn nach eigener Meinung sie so 'aufgeklärt',
Von makelloser Einsicht, kundig, weise sind,
Von ihnen keiner wäre da 'verstandesschwach',
Denn jedem gilt die eigene Ansicht als vollkommen.

 

882

Nicht kann mir solches als das Rechte gelten,
Wobei einander sich die Gegner Toren nennen.
Die eigene Ansicht immer machen sie zur Wahrheit,
Daher den anderen glauben sie als Toren.

 


Nicht kann . . . solches als das Rechte gelten, nämlich, lt. MNidd, die 62 falschen Ansichten.


 

883 (DER FRAGENDE)

Was da nun einige 'Das Wahre, Rechte' nennen,
Das, sagen andere, ist falsch und unwahr.
Derart befangen, kommen sie ins Streiten,
Warum nicht lehren Eines die Asketen?

 

884 (DER ERHABENE)

Eins ist die Wahrheit, nicht gibt's eine zweite, -
Sie kennend, wird hierbei der Mensch nicht streiten!
Sie aber künden selbst Verschiedenes als Wahrheit,
Daher nicht lehren Eines die Asketen.

 


Zeile a. - MNidd: "Die Wahrheit ist die Leid-Aufhebung, das Nibbāna; oder auch die Wahrheit vom Pfad, die Wahrheit vom Ausweg (aus dem Leiden), der edle achtfache Pfad."


885 (DER FRAGENDE)

Warum nun lehren sie verschiedene Wahrheit,
Die Redner, die als 'Kenner' sich bezeichnen?
Ist's, weil die Wahrheit selber vielfach ist, verschieden?
Ist's, weil sie dabei eigenem Grübeln folgen?

 


Zeile c. - MNidd liest saccāni suttāni und paraphrasiert es mit sutāni, d.i. gehörte gelernte oder überlieferte Wahrheiten. PTS liest im Text selber, getrennt: su tāni ("wohl diese"). Hiernach wäre zu übersetzen: "Ist's wohl, weil diese Wahrheiten (selber) vielfach und verschieden sind?"


 

886 (DER ERHABENE)

Nicht gibt es Wahrheit vielerlei, verschieden,
Von ew'ger Geltung in der Welt, es sei denn bloß im Dünken.
Doch wenn ihr Grübeln sie in Theorien festgelegt,
Dann sprechen sie vom Doppelding der Wahrheit und des Irrtums.

 


Zeile b. - Es sei denn bloß im Dünken (aññatra saññāya); d.h. außer in der bloßen Vorstellung oder Einbildung. Die Zeilen a/b antworten auf 885c.

Zeile c. - Takkañca ditthīsu pakappayitvā; sich aus Theorien ein logisches Gedankensystem (vgl. tarka) ersonnen oder zurecht gemacht habend; zu pakappeti vgl. Anm. zu vv. 784, 902. Die Zeilen c/d antworten auf 885d.


 

887

Sei's auf Gesehenes, Gehörtes, anderswie Erfahrenes,
Sei es auf Regeln, Riten und Gelübde,
Darauf gestützt, Verachtung zeigt man,
Bestehend selbstgefällig auf dem eigenen Urteil.
,Ein Tor der andere, unbefähigt!', sagt man.

 


Zeile d. - Selbstgefällig (pahassamāno); wtl.: sich freuend.


 

888

Deshalb den anderen man für einen Toren hält,
Deshalb nennt selber man sich 'kundig'.
Sich selber so für kundig haltend,
Verachtet andere man und sagt's entsprechend!

 

889

Er, der vollkommen nur in ganz verfehlter Ansicht,
Berauscht ist er von Stolz und angefüllt mit Dünkel.
Sich selbst im Geiste krönt er eigenhändig,
Weil seine Ansicht gar so sehr vollkommen!

 


Zeile a. - Ganz verfehlte Ansicht; eine freie Wiedergabe für atisāram-ditthi, wtl.: die (über etwas) hinauslaufende, d.h. es übergehende und übersehende Ansicht. MNidd: "hinausgehend über das Begründete, über die charakteristischen Eigenschaften eines Dinges usw."


 

890

Wenn nach dem Wort des anderen man gering (an Einsicht),
So teilt man solch geringe Einsicht mit dem anderen
Und wenn ein jeder sich für wissend, weise hält,
Dann gibt es keinen Toren unter den Asketen!

 

891

,Die anderes als dies verkünden als die rechte Lehre,
Die Reinheit haben sie verfehlt, sind unvollkommen!'
So hört man vielfach die Sektierer reden.
In Leidenschaft zu eigener Ansicht sind sie ganz entbrannt.

 


Reinheit bezeichnet hier und in v. 892 wohl vor allem die 'Orthodoxie' einer Ansicht.


 

892

,Hier nur ist Reinheit!', also redet man.
Nicht spricht man anderen Lehren Reinheit zu.
Vielfältig festgelegt sind so Sektierer,
Vom eigenen Weg nur reden sie mit Nachdruck.

 


Zeile a/b = 824a/b.


 

893

Und spricht er auch vom eigenen Weg mit Nachdruck,
Warum sollt' einen andern er für töricht halten?
Sich selber nur bringt er in Streitigkeiten,
Indem vom anderen er als 'Tor' und 'Unrein' spricht.

 


Zeile d. - Unrein, d.h. unorthodox, ketzerisch.


 

894

Indem auf seinem Urteil man besteht,
Sich selber als den Maßstab nimmt,
Nur mehr noch kommt man in der Welt ins Streiten.
Doch wenn da aufgegeben alles Aburteilen,
Nicht wird man Streit erzeugen in der Welt.

 


Zeile a. - Vgl. 887c.

Zeile d. - MNidd zitiert wieder die zu 877c angeführte Textstelle. Vgl. Laotse, Kap. 66: "Weil er nicht streitet, kann niemand auf der Welt mit ihm streiten."


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