Das Licht der Lehre

von Sri Gnanawimala Maha Thero

11. Wiedergeburt 1. Teil



Die Biologen behaupten, daß der Lebensprozeß eines Wesens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der betreffenden Eltern beginnt. Aus der Sicht des Buddhismus erscheint diese Erklärung unzureichend. Er lehrt, daß ein dritter Faktor anwesend sein muß, damit ein neues Lebewesen entstehen kann: der Geist oder das Bewußtsein. Über diese dritte Größe kann die Biologie nichts aussagen, denn als strenge Wissenschaft beschränkt sie ihre Untersuchungen auf äußere Objekte.

Der Geist aber ist als Objekt nicht faßbar, er kann mit keinem Instrument nachgewiesen werden. Gleichwohl setzt jede Wissenschaft den Geist stillschweigend schon als vorhanden voraus, denn ohne ihn gäbe es überhaupt keine Erkenntnis. Wenn die Wissenschaft aber mit ihren Methoden zu erforschen suchte, was denn dieser Geist nun eigentlich sei, so würde sie mit Sicherheit keine vernünftige Aussage zustande bringen.

Und warum nicht? Weil der Geist nicht außen in den Objekten, sondern im Suchvorgang selbst steckt. Den Geist mit Hilfe technischer Apparaturen nachweisen zu wollen, hieße, den Mond mit der Taschenlampe zu suchen. Nur eine grundsätzlich andere Betrachtungsweise kann die Natur des Geistes offenbaren: das unmittelbare Erleben in der Meditation.


Der Geist spielt nun bei der Wiedergeburt eine ganz unentbehrliche, gewissermaßen d i e tragende Rolle, und ein Verständnis dieses Vorganges ist ohne eine halbwegs klare Vorstellung vom Geist unmöglich. Wir müssen daher diesen dunklen Punkt so weit wie möglich aufklären. Hierzu fassen wir das Problem noch grundsätzlicher und fragen geradezu: Was ist ein Lebewesen? - Die Antwort des Buddha darauf lautet:


Das, was wir üblicherweise als Lebewesen, als Individuum oder als Persönlichkeit bezeichnen, ist im Grunde genommen eine Anhäufung von Energie, die sich im Zustand unablässiger Veränderung befindet. Stellen wir uns einmal die turbulente Strömung eines Wildbachs vor! Hier beobachten wir, wie sich immer wieder Wasserteilchen zu Wirbeln vereinigen, sich zu dynamisch geordneten Ganzheiten organisieren, die von der Strömung mitgenommen und schließlich aufgelöst werden, wobei anderswo neue Wirbel entstehen. Ganz ähnlich formt die Lebensenergie während ihres Dahinfließens vorübergehend diesen oder jenen Organismus, um ihn nach einiger Zeit wieder aufzugeben und neue Gestalt anzunehmen. Im Verlauf dieser pausenlosen Umwandlung verdichtet sich zeitweise ein Teil der Energie zu Materie und gewinnt als rūpa oder Körperlichkeit Gestalt. Die freie, nichtmaterielle Energie nennen wir nāma oder Geist.


nāma und rūpa bezeichnen dabei bestimmte Funktionsgruppen, die ihrerseits weiter unterteilt werden können. Dies erweist sich als besonders sinnvoll bei der geistigen Gruppe nāma, die dadurch an Deutlichkeit gewinnt. Der Buddha hat diese Gruppe in vier Teile untergliedert, wodurch zusammen mit der Körperlichkeitsgruppe fünf Daseinsgruppen oder khandha entstehen. Alle Erscheinungen des Daseins lassen sich auf diese fünf körperlichen und geistigen Grundfunktionen zurückführen. Im ersten Teil dieses Vortrags wollen wir uns nun diese fünf Daseinsgruppen etwas genauer ansehen.


1. Gruppe: RUPA-KHANDHA (=Körperlichkeit)

Diese Gruppe umfaßt alles, was wir Materie nennen, und zwar sowohl die stoffliche Einheit des belebten Körpers wie auch die stoffliche Umwelt. Die Körperlichkeitsgruppe kann man natürlich beliebig weiter zerlegen, um die verschiedenen Materiearten genauer zu bestimmen. So könnte man zunächst ganz grob zwischen belebter Materie etwa nach den von ihr gebildeten Körperorganen untergliedern. Wir würden heute die Materie nach chemischen Elementen ordnen oder gar bis auf die Anordnung der Elementarteilchen in den Atomen zurückgehen. Diese Klassifizierungen der Materie haben aber den Nachteil, völlig unanschaulich zu sein.


Von besonderem Wert ist deshalb eine vom Buddha gelehrte Einteilung in vier Erscheinungsformen oder Aggregatzustände der Materie, die von jedem leicht erkannt und unterschieden werden können, nämlich: der feste Zustand, bezeichnet als Erdelement; der flüssige, benannt mit Wasserelement; der gasförmige, vertreten durch das Windelement; und der angeregte Zustand physikalischer oder chemischer Aktivität, bei dem gewöhnlich Wärme umgesetzt wird und der deshalb Hitzeelement genannt wird.

Diese vier Erscheinungsformen der Materie sind meist ohne besondere Hilfsmittel erkennbar und lassen sich sowohl am eigenen Körper wie überall in der Natur feststellen. So setzen sich beispielsweise unsere Sinnesorgane aus den gleichen materiellen Substanzen zusammen, aus denen auch die Außenwelt besteht, in welcher die Sinnesorgane ihre Objekte finden. Das Auge zum Beispiel setzt sich aus Erd-, Wasser- und Hitzeelement zusammen, oder wie wir sagen würden: es besteht aus festen, flüssigen und chemisch aktiven Substanzen, wobei letztere in der lichtempfindlichen Netzhaut eingelagert sind. Auch das Gehirn samt seinen elektrochemischen Prozessen gehört zur Körperlichkeitsgruppe. Es liefert die materielle Grundlage für die geistigen Vorgänge, denen wir uns in den nächsten Gruppen zuwenden.

2. Gruppe: VEDANA-KHANDHA (=Gefühl)


Gefühl ist ein Geistesfaktor, der uns fortwährend über den geistigen und körperlichen Zustand unseres Organismus unterrichtet.

Man unterscheidet fünf Gefühlsklassen, nämlich:

  1. körperliches Wohlgefühl,
  2. geistiges Wohlgefühl,
  3. körperlichen Schmerz,
  4. geistigen Schmerz, und
  5. Indifferenz.

Beobachten wir unsere Gefühle und Empfindungen über einen längeren Zeitraum hin, so stellen wir fest, daß sie um einen gewissen Mittelwert schwanken. Dieser Mittelwert liegt in unserer Wesensart begründet und bestimmt unseren Charakter.

Die einzelnen Gefühlsschwankungen beziehen wir auf diesen mittleren Zustand und empfinden sie dann als freudige oder leidvolle Erregungen. Wir müssen uns also vor Augen halten, daß Freude und Leid keine absoluten, sondern nur relative Gefühlswerte sind.

Was in primitiven, überwiegend leidbehafteten Daseinsformen noch als Freude empfunden wird, mag für höher entwickelte Organismen schon als Schmerz gelten. Wer sich in der Meditation dem freud- und leidlosen Zustand des gleichmütigen Geistes nähert, erkennt alle noch aufsteigenden Gefühlsregungen als Äußerungen geistiger Unruhe und Unreinheit, also als Leiden. - Gefühlsschwankungen werden häufig durch sinnliche Wahrnehmungen ausgelöst. Infolge guten oder schlechten Karmas werden nämlich die im Daseinsstrom auftauchenden Erscheinungen teils als erwünschte, teils als unerwünschte Dinge und Vorgänge empfunden.

In buddhistischen Schriften findet man deshalb häufig eine Einteilung der Gefühlsgruppe in sechs Gefühlsklassen. Diese Gliederung erfolgt dann nach den sechs auslösenden Wahrnehmungsarten, die in der nächsten Gruppe näher beschrieben werden.

3. Gruppe: SANNA-KHANDHA (=Wahrnehmung)

Wahrnehmung kommt durch den Kontakt zwischen Sinnesorgan und Sinnesobjekt zustande. Hierdurch ergeben sich zunächst fünf uns geläufige Wahrnehmungsklassen, nämlich: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Wenn wir willkürlich einmal die Körperoberfläche als Grenze zwischen Innen- und Außenwelt annehmen, so befinden sich die meisten Objekte "außen". Wir nehmen aber auch "innere" Objekte wahr, zum Beispiel die in der vorigen Daseinsgruppe beschriebenen körperlichen und geistigen Gefühle.

Hier aber taucht die Frage auf: Mit welchem Sinnesorgan erfolgt diese "innere" Wahrnehmung? Für die körperlichen Gefühle können wir den Fühlsinn verantwortlich machen; wie aber verhält es sich mit den geistigen Prozessen, die wir ja ebenfalls wahrnehmen, mit den geistigen Gefühlen und vor allem mit dem Denken? - Hierauf ist zu antworten: Es gibt ein sechstes Sinnesorgan, das diese Wahrnehmungen ermöglicht, nämlich das Gehirn.

Der Buddhismus kennt also nicht nur fünf, sondern sechs Sinnesorgane. Die moderne Wissenschaft hätte sicher nichts dagegen einzuwenden. Denn letztlich gehören die uns geläufigen fünf Sinnesorgane ebenso wie das Gehirn zum Nervensystem, welches das Wahrnehmungszentrum darstellt und von dem aus gesehen jede Aufteilung in Innen- und Außenwelt sinnlos wird. Physikalisch gesehen entspricht jedem Sinnesreiz und jedem Gedanken eine Impulskette von Stromstößen im Nervensystem.

Für den Mechanismus der Wahrnehmung ist es also im Prinzip ganz gleichgültig, ob ein Objekt aus der "realen" Außenwelt oder aus der Modellwelt unseres Gehirns stammt. Ein Objekt hat zwar für uns einen um so höheren Gehalt an Realität, je mehr Sinne es erfassen können. Ein Stein zum Beispiel, den man sehen und betasten kann, erscheint uns wirklicher als ein Ton, den man nur hören kann oder als eine Vorstellung, die nur gedacht wird. Letzten Endes aber besteht zwischen Gedanken und Sinnesreizen kein Wesensunterschied; beides sind Objekte der Wahrnehmung.


4. Gruppe: SANKHARA-KHANDHA (=Geistiges Gestalten)

Der Begriff SANKHARA bedeutet sowohl "das Gestaltete" wie auch den Vorgang des Gestaltens selbst. Hier verstehen wir darunter die geistige Aktivität, welche das Fortbestehen des Organismus ermöglicht, indem sie eine Art Lebensenergie erzeugt. Diese Energie entsteht immer wieder durch die zahllosen heilsamen und unheilsamen Willensregungen, mit denen wir auf angenehme oder unangenehme Gefühle und Wahrnehmungen reagieren. Sie werden sich sicher daran erinnern, daß wir im letzten Vortrag diese Willensregungen ausführlich unter dem Begriff KAMMA besprochen haben. Was wir oben eine "Lebensenergie" nannten, ist im Grunde nichts anderes als aufgehäuftes Karma.


Jede Willensregung erhöht die karmische Energie, jeder nicht willentliche Vorgang verbraucht und vermindert sie. So zehrt sich früher gewirktes Karma beispielsweise dadurch auf, daß es als Körperlichkeit, Gefühl und Wahrnehmung ins Dasein tritt. Diese Daseinsgruppen entstehen ohne unseren Willen, sind also karmische Folgen. Die willentliche Reaktion auf ein Gefühl oder eine Wahrnehmung aber läßt neues Karma entstehen, gleichgültig ob die Willensregung dabei deutlich bewußt wird oder nicht. Solange man von diesen Zusammenhängen nichts weiß, reagiert man auf die Daseinserscheinungen impulsiv und gleichsam automatisch, so daß sich die karmische Energie sofort erneuern und selbst erhalten kann. Solange aber Karma vorhanden ist, kommt es immer wieder zu neuen Gestaltungen, zu neuem Dasein, zu neuem Leiden.


5. Gruppe: VINNANA-KHANDHA (=Bewußtsein)

Karmische Energie tritt in unterschiedlicher Qualität und unterschiedlicher Stärke in Erscheinung, wobei beide Aspekte im Bewußtsein zusammenfallen. Das Bewußtsein bildet die Grundlage für alle anderen Daseinsgruppen und tritt nur in Verbindung mit diesen auf.

Bewußtsein als solches ohne "Inhalt" gibt es nicht. (Genau genommen ist die Bezeichnung Bewußtsein irreführend, denn es handelt sich eigentlich um ein unablässiges Bewußt werden der übrigen Daseinsgruppen. Nur der sprachlichen Vereinfachung halber zerlegen wir diesen dynamischen Vorgang in die mehr statische Vorstellung von einer selbständigen Größe Bewußtsein mit wechselnden Inhalten.)

Hinsichtlich der karmischen Qualität seiner Inhalte unterscheidet man heilsames, unheilsames und neutrales Bewußtsein. Begriffe wie Unbewußtes, Unterbewußtsein, Traumbewußtsein, Wachbewußtsein, Hellblicksbewußtsein usw. deuten die wechselnde Intensität an, mit der die Bewußtseinsinhalte erlebt werden. Im normalen Wachzustand ist das Bewußtsein meistens von sinnlichen Wahrnehmungen erfüllt; deshalb unterscheidet man auch hier nach den sechs Sinnen sechs Bewußtseinsklassen, nämlich Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck -, Fühl- und Denkbewußtsein.


Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Der Buddhismus untergliedert den Daseinsprozeß in fünf Komponenten, nämlich in Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, geistiges Gestalten und Bewußtsein. Auffallend bei dieser Gliederung ist, daß alle Daseinsfaktoren tatsächlich erlebbar sind und in ihrer Wechselwirkung die Dynamik des Lebens voll erfassen. Die Daseinsgruppen existieren nicht nur als Begriffe, sondern sie sind unmittelbare Wirklichkeit, an der nicht zu zweifeln ist. Zusammengenommen bilden die Daseinsgruppen den Daseinsstrom, eine untrennbare Ganzheit. Wie in einem Gebirgsbach Wirbel entstehen, entstehen im Daseinsstrom Lebewesen; beides setzt Bewegung und Unruhe voraus, beides formt vergängliche, wesenlose, nichtige Erscheinungen.

Und ebensowenig, wie ein Wirbel einen Wesenskern hat, besitzt ein Lebewesen einen solchen. Der Glaube an eine Persönlichkeit, an eine Seele oder an ein Ich erweist sich als leere Illusion, die bei Licht besehen jeder Grundlage entbehrt. Begriffe wie Wirbel oder Persönlichkeit täuschen etwas wirklich Seiendes vor, wo im Grunde genommen nur der Begriff selbst die Einheit herstellt. Ein Vorgang wird durch Benennung zum Ding - ein unbewußt vollzogenes Zauberkunststück! - Im zweiten Teil unseres Vortrages werden wir sehen, wie sich der Daseinsstrom immer wieder neu gestaltet, was wir als Wiedergeburt bezeichnen.


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